Fremde sind wir auf der Erde alle

Zu Georges Simenons existenzialistischem Verbrechensroman „Die Witwe Couderc“

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er ist der womöglich meistunterschätzte Autor des 20. Jahrhunderts, obwohl (oder eher: weil) er einer der berühmtesten ist. Seine geradezu unglaubliche Produktivität, die den Vorwurf der „Vielschreiberei“ zwangsläufig heraufbeschwor, macht ihn bis in die Gegenwart beim Feuilleton und der Literaturwissenschaft verdächtig, obwohl zahlreiche Schriftstellerkollegen voller Bewunderung für seine keineswegs artifizielle, aber ebenso wenig einfältige Erzählweise sind. Dass Georges Simenon (1903–1989) bis zum jüngsten Tag und darüber hinaus einen Ehrenplatz im Olymp der Kriminalliteratur sicher hat, duldet keinen Zweifel. Das verbürgt bereits seine bekannteste Figur. Durch den Pariser Kommissar Jules Maigret wurde um 1930 ein neuer Ermittlertypus eingeführt, der sich durch seine auf bürgerlicher Verwurzelung gründende Durchschnittlichkeit ebenso wie durch seine Empathiefähigkeit auszeichnet. Damit hebt er sich sowohl von den britischen Meisterdetektiven, die über den Intellekt (und die Gefühlsausstattung) einer Rechenmaschine verfügen, als auch von den sich zeitgleich etablierenden amerikanischen hard boiled-Schnüfflern ab. Diese Figur ist so populär, dass Simenons Romane üblicherweise in Maigrets und Non-Maigrets eingeteilt werden, obwohl die Non-Maigrets deutlich in der Überzahl sind. Simenon selbst sprach bei solchen Texten von „Romans durs“.

In diesen durchweg gut lesbaren, schnörkellosen, mit simplem Vokabular und niemals in die Breite erzählten ‚harten Romanen‘ geht es meist darum, das Innenleben einer Figur im Angesicht einer existenziellen Grenzsituation auszuloten. Es handelt sich in aller Regel um Kriminalromane, wenn auch um solche, die einem ganz anderen Erzählmodell verpflichtet sind als die Maigret-Romane. Nicht die Überführung eines Straftäters steht im Mittelpunkt, sondern die Geschichte der Tat selbst. Mal wird der Fokus auf die Vorgeschichte gelegt, die den langsamen, aber unausweichlichen Weg hin zur Katastrophe zeigt, mal auf deren Nachwirkungen. Es handelt sich bei vielen dieser Texte um Glanzstücke der Verbrechensliteratur. Der Leser begleitet beispielweise einen Mörder bei der Vorbereitung und der Durchführung der Tat, durchlebt mit ihm deren Folgen oder kann schrittweise nachvollziehen, wie sich eine zwischenmenschliche Konstellation so zuspitzt, dass ein Mord der einzige Ausweg zu sein scheint. Es geht Simenon um detaillierte Charakterstudien: Welche Kränkungen veranlassen einen eigentlich ganz „normalen“, rechtschaffenen Menschen dazu, zum Mörder zu werden? Wie begeht er den Mord, aber wichtiger noch: Was macht die Tat mit ihm? Welche Auswirkungen hat das Wissen, ein Mörder zu sein, auf die Psyche dieses Menschen? Simenon präsentiert uns anthropologische Experimente, indem er auslotet, wie ein Mensch sich von seinem bisherigen Leben entfremdet oder sich, nachdem er durch die Wirren des Daseins zum Mörder wurde, nun in seiner neuen Rolle verhält.

Um ein Meisterstück dieser Art der Kriminalliteratur handelt es sich bei Die Witwe Couderc. Der Text liegt nun im Rahmen einer neuen Edition der nicht weniger als 117 sogenannten „großen Romane“ Simenons vor, die als Kooperation der Verlage Kampa und Hoffmann und Campe erscheint. Im französischen Original wurde der Roman erstmals 1942 publiziert – wie auch Albert Camus’ existenzialistischer Meilenstein Der Fremde, worauf der Klappentext und das sehr gelungene Nachwort von Paul Theroux (das geradezu als Einführung in den Kosmos Simenon lesbar ist) hinweisen. Der damit nahegelegte Vergleich (des Themas und des Ranges) ist zwar recht hoch gegriffen, aber doch nicht abwegig. Beide Romane erzählen eigentümlich unterkühlt von Mördern, die nahezu vollständig unergründlich bleiben, und vermitteln eine Stimmung von Melancholie, Einsamkeit und Fremdheit im eigenen Leben. An beiden lassen sich typisch „existenzialistische“ Muster aufzeigen, und doch sollte der Vergleich nicht dazu führen, aus Simenon nun einen zweiten Camus konstruieren zu wollen – Simenon ist Simenon und bedarf, sofern er nicht auf die Rolle als Unterhaltungsschriftsteller reduziert wird, keines anderen Autorennamen-Labels, um als das wahrgenommen zu werden, was er ist: ein literarischer Anthropologe vornehmster Güte.

Davon zeugt auch Die Witwe Couderc. Simenon präsentiert eine Versuchsanordnung, deren Ausgang bei Lichte betrachtet von vornherein feststeht, und die über keinerlei klassische Krimi-Spannung verfügt. Dennoch erlahmt das Leserinteresse zu keiner Zeit. Der Autor versteht es meisterhaft, durch maximale Nüchternheit und diskrete Einblicke in das Innenleben der Figuren Dynamiken zu erzeugen, die der komplexen Absurdität menschlicher Leidenschaften entspringen. Mit dem trügerischen Anschein schicksalhafter Notwendigkeit, tatsächlich aber aus nicht minder tragischer Kontingenz, münden diese quälend langsam, aber geradewegs und ungebremst in eine Katastrophe, die jederzeit vorhersehbar, aber nicht aufzuhalten ist. Frei von Sentimentalität und Moralisierung legt Simenon ein Brennglas über allzu menschliche Begierden und Ängste, belässt es aber bei exakten Beobachtungen, ohne diese zu erklären oder zu analysieren. Was genau die Titelfigur in Die Witwe Couderc dazu treibt, wissentlich mit dem verurteilten Mörder Jean nicht nur zusammenzuleben, sondern eine Art Domestizierungskampf mit ihm einzugehen, wird keiner finalen Klärung unterzogen. Er erinnert sie an ihren Sohn, der ebenfalls straffällig wurde, und tritt (auch sexuell) an die Stelle ihres verstorbenen Mannes, mit dessen Vater sie wiederum gelegentlich das Bett teilt. Solche verwickelten ödipalen Konstellationen stehen indes nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie sind ebenso Symptome für psychische Abgründe wie die in spärlichen und nur bedingt zuverlässigen Rückblicken dargebotenen Umstände des Mordes, den Jean einige Jahre zuvor begangen hat. Der Todesstrafe ist er entgangen, weil er vor Gericht über die genauen Umstände der Tat gelogen hat. Nach verbüßter Haft aber wird er immer wieder von Gedanken an seine ausgebliebene, doch eigentlich als angemessen erachtete Hinrichtung ereilt.

Der Roman erzählt von Missgunst, Hybris, Kontrollzwang und Einsamkeit sowie davon, was passiert, wenn das mühsam unter Kontrolle gehaltene Konstrukt der Zivilisation Risse bekommt. Allem voran aber geht es um die Unentrinnbarkeit der Strafe in Zeiten metaphysischer Obdachlosigkeit. Nicht immer kann man sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Bisweilen wird der Mensch, obwohl es ihm an unaufhörlichen Aufgaben nicht mangelt, angesichts der Absurdität des Daseins auch zum Mörder. Wer Simenon weiterhin allein als überproduktiven Trivialschriftsteller ansieht, dessen prominenteste Figur nun mal gerne Pfeife raucht und die behagliche Wärme eines Heizofens mag, dem entgeht einer der großen Menschenbeobachter des 20. Jahrhunderts – auf dem Feld der Kriminalliteratur und darüber hinaus.

Titelbild

Georges Simenon: Die Witwe Couderc. Roman.
Mit einem Nachwort von Paul Theroux.
Übersetzt aus dem Französischen von Hanns Grössel.
Kampa Verlag, Zürich 2018.
208 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783311133469

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