Die Erkenntnis eines gemeinsamen historischen Schicksals

Der Briefwechsel mit Christa Wolf ergänzt die Edition der Briefe des russischen Germanisten Lew Kopelew

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die deutsche Sprache war dem in Kiew geborenen russischen Germanisten Lew Kopelew (1912–1997) bereits während seiner Kindheit vertraut. Kindermädchen hatten ihm deutsche Volkslieder und Märchen vorgetragen. Sein 1933 aufgenommenes Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie stellte für ihn keinen Wiederspruch zu seinen Aktivitäten als überzeugter Jungkommunist dar. Deutschland, die Heimat von Johann Wolfgang Goethe und Karl Marx hatte es ihm angetan und dabei ist es, bei allen schicksalhaften Brüchen und Wendungen in seinem Leben, geblieben.

Als Major der Roten Armee hatte Kopelew die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erlebt und später eine allmähliche ideologische Desillusion vom Stalinismus erfahren. Anstelle des Traumes des ehemaligen Marxisten Kopelew über die Gestaltung einer gerechten Gesellschaft war längst die bohrende Frage getreten, wie es in Kulturnationen zur Errichtung totalitärer Systeme hatte kommen können.

Der russische Germanist verfolgte von Moskau aus über den Eisernen Vorhang hinweg mit wachem Interesse die neuesten Publikationen deutscher Literatur – in Ost- wie auch in Westdeutschland. Gerade in Phasen verschärfter ideologischer Kampagnen empfand Kopelew die schöne Literatur als einen Hort menschlicher Selbstbehauptung. Für ihn war es geradezu überlebenswichtig, daß auch in der stalinistischen Sowjetunion die literarischen Klassiker gedruckt und verbreitet wurden. Auf diese Weise waren uns, so merkte er einmal an, „die Ideen von Güte, Barmherzigkeit, Gewissen und Heimatliebe vertraut geblieben“. Genau diese Spuren waren es auch, denen er in den Büchern der deutschen Schriftsteller nachgegangen war. In Moskau äußerte er sich zu Büchern von Bertolt Brecht, Erwin Strittmatter, Wolfgang Koeppen oder Günther Weisenborn.

Christa und Gerhard Wolf hatten Lew Kopelew am 26. Juli 1965 während eines Besuches bei Anna Seghers kennengelernt. Seit dieser Zeit tauschten sie in unregelmäßigen Abständen Briefe und Karten aus. Kopelew war von Christa Wolfs Büchern wie etwa Nachdenken über Christa T., Kindheitsmuster oder Was bleibt begeistert. In ihren Briefen und Postkarten sprachen sie sich gegenseitig Mut zu, in der Produktivität nicht nachzulassen. Kopelew richtet Buch- und Schallplattenwünsche an das Schriftstellerehepaar Wolf und äußert wiederholt den Wunsch, sich wieder einmal persönlich zu begegnen.

Aus den Jahren zwischen Dezember 1978 und März 1984 haben sich keine Nachweise über Korrespondenzen erhalten. Es waren vor allem für Lew Kopelew schwere Zeiten. Seit 1977 konnte er in seiner Heimat nichts mehr veröffentlichen und im Januar 1980 war sein Freund, der Atomphysiker und Menschenrechtler Andrej Sacharow, gegen seinen Willen aus Moskau abgeschoben und in die Isolation nach Nischni Nowgorod, das damals Gorki hieß, verbannt worden. Im Januar 1981 wurde Kopelew und seiner Frau Raissa Orlowa-Kopelew die sowjetische Staatsbürgerschaft entzogen. Beide hatten sich auf Einladung von Heinrich Böll zu einem Studienaufenthalt in der Bundesrepublik befunden.

Die deutsche Literatur hatte Lew Kopelew auch dann im Sinne, als er wenige Tage nach dem Mauerfall endlich nach Ostberlin konnte, um dort Christa und Gerhard Wolf zu treffen. Im Band sind Fotos abgedruckt, die den markanten Lew Kopelew an den Grabstätten von Bert Brecht und Anna Seghers auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Ostberlin zeigen.

Für Lew Kopelew war der Fall der Berliner Mauer ein Festtag, wie auch seine im Band abgedruckten Notizen vom 11. November 1989 über die Maueröffnung belegen: „Die Einheit der deutschen Nation ist Wirklichkeit. Sie besteht heute, wie sie vor Jahrhunderten schon bestand – die nationale Einheit im geistigen Leben, in der Sprache, in Kunst und Dichtung, in der Erkenntnis des gemeinsamen historischen Schicksals“.

Auf Christa Wolfs tagespolitische Spitzen in manchen ihrer Briefe nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten, wie etwa „inzwischen geht das Land hier vor die Hunde“ oder „die Regierung ist freilich einfach grauenhaft“ ging Kopelew nicht ein. Er hatte in der Sowjetunion zehn Jahre Lager und Haft, Berufs- und Veröffentlichungsverbote sowie das unsägliche Leid zahlreicher befreundeter Künstler, Literaten und Wissenschaftler unmittelbar erlebt. Er fürchtet sich davor, dass in seinem Land anstelle einer Aufarbeitung der sowjetischen Mentalität Strömungen eines irrationalen Obskurantismus treten und spricht von einer „chauvinistischen Seuche“.

Die Aufnahme eines Briefes von Lew Kopelew an Anna Seghers sowie Rezensionen Lew Kopelews, die Totenrede Christa Wolfs für Lew Kopelew und vor allem gewechselte Briefe zwischen Christa Wolf und Raissa Orlowa-Kopelew bereichern die atmosphärische Dichte dieser Ausgabe.Ausdrücklich hervorzuheben ist die sorgfältige Zusammenstellung des Bandes durch die Herausgeberin Tanja Walenski. Einfühlsam und kundig zugleich hat sie Briefe und Dokumente, Texte und Fotos zusammengefügt und nicht zuletzt im beigesteuerten Essay „Buchweizenlicht“ ihre Kompetenz hinsichtlich einer treffenden literaturhistorischen Einordnung dieses Briefwechsels unter Beweis gestellt.

Titelbild

Christa Wolf / Lew Kopelew: Sehnsucht nach Menschlichkeit. Der Briefwechsel 1969 bis 1997.
Briefe und Dokumente, Texte und Fotos. Herausgegeben von Tanja Walenski.
Steidl Verlag, Göttingen 2017.
357 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783958292949

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