Eine ganz normale Geschichte

Victoria Wolffs Exil-Roman „Gast in der Heimat”

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von einem Exilroman (also einem Roman des deutschsprachigen Exils der Jahre nach 1933) wird viel erwartet: Er muss sich politisch positionieren und soll zudem literarisch überzeugen, um seine Wiederentdeckung legitimieren zu können. Zwar wird dem Text immer gutgeschrieben werden, dass er unter den besonders ungünstigen Bedingungen des Exils entstanden ist und seine Verbreitung durch den Wegfall des Absatzmarktes Deutschland massiv gehemmt wurde. Auch wird stets darauf verwiesen, wenn der Nationalsozialismus literarische Karrieren gehemmt oder gar Existenzen zerstört hat, gerade bei jüngeren Autor/innen. Große Teile der literarischen Kultur wurden über Jahrzehnte, ja über das Kriegsende hinaus aus dem literarischen Gedächtnis gelöscht. Eine verspätete Rezeption, eben nach 1945 war schließlich insofern schwierig, als die Exiltexte in die Erwartungen des Literaturbetriebs und des Lesepublikums der Nachkriegszeit passen mussten, was zahlreiche Exiltexte eben nicht taten, weil sie stilistisch den Jahren vor 1933 verpflichtet waren oder weil sie thematisch das Publikum nicht bedienten. 

Das hat sich seit den 1970er Jahren deutlich geändert, in denen sich das Interesse an den Umbruchsituationen des frühen 20. Jahrhunderts verstärkt hat. Dennoch geraten neu edierte Exiltexte bis heute in ein dichtes Geflecht unterschiedlicher, zum Teil sogar widersprüchlicher Erwartungen, die kaum zufriedenstellend zu erfüllen sind. 

Das führt auch dazu, dass die Frage, wo die Texte im literarischen Gefüge der Zeit anzusiedeln wären, weitgehend vernachlässigt wird, was sinnvoll sein kann, um die Aufmerksamkeit auf sie lenken zu können, sie aber zugleich ein wenig in der Luft hängen lässt. Denn wenn auch Qualitätskriterien nicht sakrosankt sind, müssen erneut in den literarischen Betrieb eingebrachte Texte des Exils etwa neben dem immer noch verblüffenden Dreigroschenroman Bertolt Brechts, den beiden fulminanten Henri IV-Bänden Heinrich Manns oder den beiden großen Romanen Anna Seghers (Das siebte Kreuz und Transit) bestehen können – um nur einige Beispiele zu nennen –, was schon unter normalen Umständen (was immer das sein soll) schwer genug wäre. Enttäuschungen sind da beinahe vorprogrammiert. Oder aber dem Exiltext wird sein Entstehungszusammenhang immer schon gutgeschrieben. Was freilich auch zu dem unangebrachten Effekt führen kann, dass alles gutgeheißen wird, was aus dem Exil stammt.

Festzuhalten ist, dass die deutschsprachige Literatur im Exil ungemein produktiv war und zahlreiche höchst interessante Texte hervorgebracht hat. Zugleich ist zu konzedieren, dass diese Texte deshalb nicht ohne weiteres dauerhaft Nachwirkung zeigen mussten, ihre Kenntnis aber vor allem das Gesamtbild der Literatur der Zeit, in diesem Fall des Exils vervollständigt und unsere Wahrnehmung von Zeitgeschichte, Kultur und Literatur verändern kann.

Bei Aviva in Berlin ist nun der 1935 bei Querido in Amsterdam erschienene Roman Gast in der Heimat Victoria Wolffs neu herausgegeben worden – die sich zu dieser Zeit noch mit einem f schrieb, dem Namen ihres damaligen Ehemanns folgend, das zweite kam mit der zweiten Ehe mit einem Träger des Namens hinzu, der sich allerdings mit zwei ff schrieb. Gleich vorneweg: Mit diesem Roman ist nicht ein Meisterwerk einer vergessenen Autorin zu entdecken, sondern ein aufschlussreicher, intelligent gemachter Text mit einem interessanten Konzept. Und das ist stark hervorzuheben, weil eben nicht selbstverständlich.

Victoria Wolff, 1903 in Heilbronn unter dem Namen Gertrud Victor geboren, hatte bereits vor 1933 eine Karriere als Autorin begonnen. Sie setzte sie im Exil fort und nahm den schriftstellerischen Faden nach einem langjährigen Intermezzo als Drehbuchautorin im amerikanischen Exil nach dem Krieg mit einer Reihe von Romanen wieder auf. Betrachtet man das Gesamtwerk, kann es sich trotz der längeren Pause sehen lassen. Sich von Vertreibung und Exil nicht aus dem literarischen Gleis werfen zu lassen, muss als Verdienst Wolff selbst und nur ihr ganz allein zugeschrieben werden und verweist auf die Ernsthaftigkeit, mit dem sie ihrem Beruf nachging. 

Nach 1945 blieb Wolff zwar in den USA, wo sie 1992 auch verstorben ist, und sie verstand sich in späten Äußerungen anscheinend entschieden als Amerikanerin, wie die Herausgeberin, Anke Heimberg, betont. Aber Wolff orientierte sich publizistisch nach dem Krieg wieder auf den deutschsprachigen Raum um: Immerhin neun Romane erschienen nach 1945 in (West-) Deutschland, davon einige bei Publikumsverlagen wie Heyne, Droemer Knaur oder Schneekluth.

Wolffs schrieb demnach für ein breites Publikum, und wenn man den Verlag, in dem – nach dem Auftakt bei Reissner in Dresden – ihre frühen Romane erschienen sind, nämlich Zsolnay, hinzuzieht, ist das bereits von Anfang an der Fall. Sie wusste dabei, so Heimberg, einen eingängigen Stil mit dem Blick für populäre Themen und eine handwerklich saubere Erzählkunst zu verbinden. 

Das Thema für diesen Roman hat Wolff aus ihrer konkreten Situation nach 1933 gewählt: Wie hat es dazu kommen können, dass ein großer Teil deutscher Staatsbürger expatriiert und vertrieben wurde (wenn sie denn nicht einige Jahre später in Lager deportiert und ermordet wurden, was eben hier noch nicht einmal denkbar ist). 

Die Rede vom Schicksal der „assimillierten“ jüdischen Bevölkerung Deutschland rekurriert zwar auf die jahrhundertealte Ghettoisierung von Juden in Europa, die im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts aufgegeben wurde und zu einem mählichen Integrationsprozess führte. Zugleich aber klingt in der Formulierung eben auch der Ansatz an, dass es sich beim Judentum nicht nur um ein religiöses Bekenntnis eines Teils der Bevölkerung handelt, sondern um eine Abgrenzung, die Abstammungsregularien bemüht. Die Diskussionen über die Zuordnung zum Judentum, die derzeit um den Publizisten Max Czollek geführt werden, zeigt, dass dies bis heute Relevanz hat. Als jüdisch kann sich demnach nicht jemand bezeichnen, der sich zur Religionsgemeinschaft bekennt und darin aufgenommen wird, sondern die Zugehörigkeit wird nach der mütterlichen oder väterlichen Linie bestimmt. Deutsche jüdische Gemeinden sind, was das angeht, durchschnittlich wohl strikter und konservativer als etwa US-amerikanische.

Solche Fragen werden bei Wolff, die selbst aus einer jüdischen Familie kam, gleich zu Beginn geklärt. Die Fabrikantenfamilie Martell, in die die junge Claudia Dortenbach einheiratet, ist zweifelsfrei Teil der kleinen schwäbischen Gemeinde, in der sie seit Generationen lebt. Das müssen die Martells nicht einmal beweisen, aber die Veränderungen in der Haltung ihrer Umgebung, die sich im Laufe der Handlung zeigen, die etwa zwei Jahrzehnte bis Mitte der 1930er Jahr umfasst, werden von der Erzählerin bereits zu Beginn angezeigt. Sie „entstamme“, erzählt sie, „einer protestantischen Familie, die schon seit vier Generationen“ in ihrer „Heimatstadt“ ansässig sei. Und bemerkt sogleich, dass sie das „kirchliche Bekenntnis vor die Person stelle“. Früher hätte sie anders begonnen, meint sie, nämlich: „Ich entstamme einer Großkaufmannsfamilie, die seit vier Generationen den gleichen Beruf ausübte“. Sie korrigiert ihre, wie sie schreibt, „vorschnelle“ Formulierung jedoch nicht, sondern erklärt sie aus „der Gewohnheit unserer Zeit, diese unwillkürliche Zugehörigkeit als Ausweis zu gebrauchen“. 

Damit ist in wenigen Sätzen der Paradigmenwechsel gekennzeichnet, der die politische Lage der frühen 1930er Jahre kennzeichnet und der den Alltag binnen kurzem bestimmte. Denn neben der Konfession (die als Wahl gekennzeichnet wird) ist in dem unauffälligen Satz auch noch die berufliche Positionierung der Familie Dortenbach durch den vergleichsweise alteingessenen Wohnort ausgetauscht, der zudem mit dem Schmuckwort „Heimat“ aufgewertet wird. Was den Bedeutungswechsel auch dieses Begriffes anzeigt. Seine Beiläufigkeit und Selbstverständlichkeit wird aufgehoben. Heimat wird zu einer Kategorie, die von außen zugestanden werden muss. Und den Martells wird die Heimatfähigkeit wie die Zugehörigkeit zur deutschen Nation (die wir heute besser auf die Staatsbürgerschaft begrenzen) mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten abgesprochen. Das Judentum wird als ethnische Kategorie reinstalliert, die konfessionelle Abgrenzung, die als vergleichsweise junge kulturelle Errungenschaft zu bezeichnen ist, wird kassiert. 

Das wollen naheliegend weder die Martells noch die mit ihnen durch die Ehe von Helmuth und Claudia verbundenen Dortenbachs hinnehmen. Aber ihr vormaliger Einfluss in der kleinen schwäbischen Stadt reicht gerade noch dazu, den inhaftieren jüdischen Schwiegervater aus der NS-Haft zu befreien. Der zunehmenden Ausgrenzung und Isolierung haben sie aber nichts entgegenzusetzen. Das zuvor lebendige gesellige Leben, das die beiden Familien geführt haben, erstirbt. Martells werden auf der Straße nicht mehr gegrüßt, die gegenseitigen Besuche hören auf. Da hilft auch die selbstverständlich nationale Haltung beider Familien nichts, deren Männer in den Krieg gegangen und – soweit sie überlebt haben – dekoriert zurückgekehrt sind. Die Unternehmerfamilie Martell muss aufgeben, der erfolgreiche Anwalt Helmuth Martell verliert seine Kanzlei, Claudia schließlich ist die erste, die ins Exil – hier in die Schweiz – geht, bevor Helmuth ihr folgt. 

Die Qualität des Romans besteht freilich nicht darin, die rasche Durchsetzung nationalsozialistischen Gedankenguts nachzuvollziehen, sondern vorzuführen, wie wenig Vorgeschichte des Nationalsozialismus bei Familien wie den Dortenbachs und Martells ankommt und wahrgenommen wird (auch wenn der jüngste Bruder Claudias sich als Nazi bekennt). Denn in der ersten Hälfte des Nachdrucks, der etwas 300 Seiten umfasst, ist vom Aufstieg des Nationalsozialismus eigentlich nichts zu spüren. Stattdessen steht die Adoleszenz Claudia Dortenbachs im Vordergrund, die ihre Ausbildung beginnt, die den vertrauten Mann ihrer Jugend heiratet, Kinder bekommt, Geldsorgen hat, um die Treue ihres Manns bangt und sich um den Zusammenhalt der Familie sorgt. Eine ganz normale weibliche Biografie der bürgerlichen Oberschicht der 1920er Jahre.

Es sind anfangs mehr die zunehmenden Empfindlichkeiten des jüdischen Teils der Familie, die anzeigen, dass sich etwas ändert. So etwa der Ärger der Tante Amalie darüber, dass sie zu den Vorträgen der Winterhilfe Ende 1932, die reihum in den bürgerlichen Familien gehalten werden, nicht persönlich eingeladen worden sei – was bis dahin auch nicht üblich war, wie die Erzählerin bemerkt. Bis dahin hatte teilgenommen, wer meinte teilnehmen zu müssen. Aber Selbstverständlichkeiten beginnen zu erodieren. 

Und die Sitten verrohen: Dazu gehört auch noch, dass ein Kriegskamerad Helmuths im Suff erklärt, dass er ihn nicht meint, wenn er vom „Saujud“ faselt. Nicht mehr lange, und die städtische Gesellschaft mit all ihren lieb gewonnenen Bräuchen und Gewohnheiten wird von Grund auf erschüttert sein und zerschlagen werden. 

Gerade in diesem unscheinbaren Verfahren aber liegt die Stärke des Romans. Er betont eben nicht, dass die Weimarer Republik von Anfang ein Gefälle zum Nationalsozialismus gehabt habe, sondern folgt eher der These, dass der Umbruch schnell und unprätentiös kam. Zumal für eine soziale Gruppe, die sich durch Wohlstand und sozialen Habitus fern von den Auseinandersetzungen der Zeit hatte wähnen können und die sich als stabiler Faktor im gesellschaftlichen Umbruch verstand. Nachdem dann aber alles anders geworden war, bleibt nicht mehr viel. Danach hilft eben nur von vorne anfangen, was dann am Schluss des Romans steht. Dass ein solcher Satz von Claudia kommt, ist für unsereins immer noch tröstlich, wenn auch unverdient. 

Titelbild

Victoria Wolff: Gast in der Heimat.
Hg. u. m. einem Nachwort von Anke Heimberg.
AvivA Verlag, Berlin 2021.
336 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783949302008

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