„Schreiben Sie mir darüber?“
Zwei opulente Editionen präsentieren Wolfgang Hildesheimer als feinsinnigen Briefeschreiber
Von Christoph Pflaumbaum
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls 2016 anlässlich des 100. Geburtstags von Wolfgang Hildesheimer der Aachener Literatur- und Kulturwissenschaftler Stephan Braese den Portraitierten mit der ersten umfassenden Biografie Jenseits der Pässe wieder in den akademischen und feuilletonistischen Fokus zu rücken begann, folgten dieser klugen und ertragreichen Studie zwei weitere Editionsprojekte, die maßgeblich zur weiteren Erkundung des ästhetisch eigenwilligen und im literarischen Feld nicht minder prononciert debattierenden Autor beitragen. Einerseits verantwortete Braese selbst die Herausgabe von zwölf Briefwechseln in der Sammlung „Alles andere steht in meinem Roman“, die Hildesheimer vornehmlich im Gespräch mit zeitgenössischen Autorinnen und Autoren, Lektoren, Verlagen, Literaturkritikern und weiteren Freundinnen und Freunden auftreten lässt. Dass diese vielseitige Textsammlung zu Recht in der Einführung Hildesheimer als einen ‚dialogischen Schriftsteller‘ vorstellt, wird andererseits von dem zweiten, ungleich umfassenderen Editionsprojekt von Volker Jehle unterstrichen, der mit dem Titel „Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts“ sämtliche archivierten Briefe an die Eltern in zwei Bänden dokumentiert. Auf insgesamt mehr als 2.000 Seiten setzt sich der Leserschaft mit Hilfe dieser beiden sich glänzend ergänzenden Publikationen das Bild eines Autors zusammen, der – neben seinem ungemindert innovativen literarischen Werk – als feinsinnige, weltläufige und im Urteil präzise formulierende Person inmitten des 20. Jahrhunderts agierte.
Dabei bilden die Briefe an die Eltern zweifelsohne die biografischen, zugleich die intellektuellen und künstlerischen Etappen Wolfgang Hildesheimers aufgrund ihrer engmaschigen Chronologie von über 500 Dokumenten besonders detailreich ab. Zwischen den Jahren 1937 bis zum Tod seiner Mutter 1962 schrieb Hildesheimer in der Regel wöchentlich seinen Eltern, die als Juden nach ihrer Auswanderung aus Hamburg bis zu ihrem Lebensende in Tel Aviv wohnten. Die dabei zurückgelegten geografischen Stationen des Absenders dieser Briefsammlung geben Zeugnis eines zunächst wechselhaften Lebensweges: Die Briefchronologie setzt mit dem Aufbruch des 20-jährigen Wolfgang Hildesheimers von Palästina nach London ein, wo er in der Ausbildung zum Zeichner und Bühnenbildner zu künstlerischer Emanzipation an der Central School of Arts and Crafts zu gelangen versucht. Hildesheimer lernt man in dieser Phase als zwar gewandten, gleichfalls um Distinktion bemühten Dandy kennen. Nach einer weltkriegsbedingten Zwischenstation in Tel Aviv kehrt der 1916 in Hamburg Geborene nach Nürnberg als Dolmetscher der Kriegsverbrecherprozesse in sein Geburtsland zurück, wo er schließlich auch die ersten künstlerischen Selbstversuche zunächst als Maler, später dann als Schriftsteller unternimmt und im Laufe der frühen 1950er Jahre zunehmend reüssiert. Der 1957 vollzogene Umzug ins schweizerische Poschiavo – dies ist eine aus den Briefen bedrückend nachvollziehbare Erkenntnis – ist auch Resultat einer allmählich gewachsenen Enttäuschung über die politischen Nachkriegsentwicklungen und der damit verbundenen fehlenden Bereitschaft der Deutschen, der jüngeren Zeitgeschichte ins Auge zu blicken. Schlimmer noch: „Es sieht wirklich so aus, als würde Deutschland wieder faschistisch, vielleicht diesmal ohne Antisemitismus und Konzentrationslager, aber doch schlimm genug.“ (Brief vom 5. Mai 1958) Mit teils feinsinnigen, teils satirischen Beobachtungen, wie sich die Deutschen Ende der 1940er Jahre wieder in einem Alltag einrichten und hierbei ein ausgeprägtes Selbstmitleid kultivieren, sind dies beredte Briefzeugnisse, die, flankiert von den detailreichen Kontextualisierungen durch den Herausgeber (insbesondere im Hinblick auf den laxen strafrechtlichen Umgang mit den Kriegsverbrechern), bedrückend wirken. Der teils analytische, teils makabre Ton jedoch, den Hildesheimer in diesen Beschreibungen des sich neu konstituierenden Deutschlands anlegt – „Manchmal denkt man dass die Deutschen eigentlich wissen müssten, wie komisch sie sind aber sie wissen es nicht.“ (Brief vom 20. Mai 1947 –, zeugt bereits von den um weitere Ernüchterung und Verzweiflung gewachsenen Passagen seiner großen Erzählwerke Tynset (1965) und Masante (1973).
Besonders erschütternd sind diese sowohl am Kulturbetrieb konstatierten als auch im gesellschaftlichen und politischen Klima beobachteten Urteile vor dem Hintergrund von Hildesheimers Nürnberger Zeit: Die Tätigkeit als Dolmetscher tritt er nach eigener Aussage an, um die These einer Kollektivschuld prüfen zu wollen. Hierbei ist er darum bemüht, der vehementen Kritik seiner Eltern anlässlich seiner Entscheidung, nach Deutschland zurückzukehren, zu begegnen. Dies erklärt mitunter, warum seine Schilderungen der Gräuel aus den Prozessen, in denen Hildesheimer simultan die Berichte von Tätern und Opfer übersetzt, in den Briefen an die Eltern erstaunlich nüchtern ausfallen, ohne jedoch den bestürzenden Abgrund des Verhandelten zumindest anzudeuten: „Das Material was man in die Hand bekommt und auch die Zeugenaussagen die man bei den Ärzte-prozessen zu hören bekommt übersteigt manchmal alles vorstellbare.“ (Brief vom 5. Februar 1947) Bedauerlich in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass die Briefe der Eltern an Hildesheimer nicht überliefert sind, womit zwangsläufig die Briefedition etwas Monoperspektivisches hat beziehungsweise die Mitteilungen der Eltern teilweise nur ex negativo rekonstruiert werden können.
Hildesheimers Bereitschaft, mit einer gewissen Offenheit nach Deutschland zurückzukehren, um allerdings jäh enttäuscht zu werden, zeigt sich auf frappierende Weise auch in einer anderen Hinsicht: Aus dem regen Interesse heraus, das er als Privatperson beim Wiedererstehen der Kultur- und Theaterszene zunächst in Franken, schließlich auch in anderen Teilen Deutschlands hegt, erwächst zunehmend eine grundlegende Skepsis gegenüber einer ‚deutschen Kulturtradition‘. In einer verklärenden Rückbesinnung in der Kultur sieht Hildesheimer zunehmend die ungemindert nationalistischen und teils antisemitischen Facetten artikuliert. In derartigen kulturkritischen Fingerübungen, an denen Hildesheimer seine Eltern teilhaben lässt, manifestiert sich eine außerordentlich sensible, mitunter auch ins Sarkastische kippende Analysefähigkeit. Eindrücklich zeigt sich dies etwa beim Verriss der sprachlichen Schwülstigkeit eines Ernst Wiechert oder der bereits in diesen Briefen einsetzenden polemischen Auseinandersetzung mit der Kunst Wilhelm Furtwänglers, die er später – etwa in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen – als ‚Unsinn im Gewand der Kulturphilosophie‘ zu enttarnen versucht. Aufschlussreich ist die Lektüre dieser Briefpassagen, weil sich eine schriftstellerische Stimme zu erkennen gibt, die in der deutschen Literaturszene auf Basis solcher Beobachtungen eine zeithistorisch bedingte Sprachkritik nach 1945 entwirft.
Einen Gewinn stellen diese Briefe – neben dem biografischen und lebensweltlichen Detailreichtum – insofern dar, als sie Hildesheimer in einem intimen und geschützten Kommunikationsraum als kritischen Beobachter zu erkennen geben, der die frühen und teilweise auch neuen literarischen Tendenzen in Deutschland hellsichtig begleitet. Aus den zuweilen rigorosen Verurteilungen literarischer Antipoden konsolidieren sich gleichfalls die eigenen stilistischen Überzeugungen, wenn es etwa heißt: „Pathos kann heute nur noch falsch sein.“ (Brief vom 23. Januar 1955) Aus dem Schatten der Weltkriegs- und umfassenden Vernichtungserfahrung geben die Briefe so auch Zeugnis über Hildesheimers ernsthafte Suche nach einer neuen, zumindest anderen literarischen Formensprache. Bereits 1952 heißt es in diesem Sinne selbstbewusst: „Mir aber kann man schlechten Stil, Missbrauch der deutschen Sprache, Unklarheit des Denkens nicht nachsagen.“ (Brief vom 4. Februar 1952) In Ambach, wo Hildesheimers schriftstellerische Karriere beginnt und er seine Eltern fortwährend mit aktuellen Textversuchen versorgt, bekennt Hildesheimer schließlich, dass er bevorzugt jenen kleinen, humoristischen ‚Mist‘ verfasse „[v]or Allem in Deutschland, dem Land des tierischen Ernstes.“ (Brief vom 24. Oktober 1950)
Das Verhältnis, das Hildesheimer zu seinen Eltern hegt, verleiht der Briefsammlung eine bemerkenswerte Mitteilungsdichte: Die Aufrichtigkeit, sich selbst in den Briefen porträtieren und reflektieren zu wollen, sowie das gegenseitig bezeugte Interesse, in einen politischen und intellektuellen Dialog zu treten, der gleichfalls nicht frei von Spannungen bleibt, vermitteln der Briefedition einen vielschichtigen, inhaltlich stets sich in Bewegung befindenden Austausch, der viel über die zeithistorischen Rahmenbedingungen in Deutschland, Europa und im Nahen Osten preisgibt, vor allem jedoch auch die Entwicklung einer Schriftstellerpersönlichkeit erzählt. Künstlerisches Selbstbewusstsein wechselt dabei beständig mit wiederkehrenden Selbstzweifeln, die erstmals massiv in London auftreten, als er im Rahmen seiner Ausbildung die eigene Rot-Grün-Blindheit zu kaschieren versucht. Früh thematisiert Hildesheimer in den Briefen Motive der Melancholie, gekleidet in unumwundener harscher Selbstkritik – „Wenn etwas eine Enttäuschung ist, bin ich es selbst.“ (Brief vom 23. April 1937) – oder wiederkehrenden „winterkrankheiten und depressionen“ (Brief vom 7. Februar 1959). Dass gerade diese destruktiven künstlerischen Selbsturteile eine sehr spezifische, wiederum in Produktivität umschlagende Poetologie vorbereiten, die Hildesheimer beispielsweise in Vergebliche Aufzeichnungen (1962) und Zeiten in Cornwall (1971) kunstvoll literarisch inszeniert, hat die Forschung hinlänglich herausgearbeitet. Hier allerdings kann man den biografischen Spuren und auch den werkspezifischen Etappen detailliert nachgehen. Erhellend ist dabei auch die Beobachtung, dass parallel zur Beschäftigung mit Hildesheimers erstem (und einzigem) Roman Paradies der falschen Vögel (1953) auch die Briefe fließender, im Stil souveräner und mit Blick auf das eigene Schreiben selbstreflexiver werden.
Es ist Volker Jehles außerordentlich akribischer Editionsarbeit zu verdanken, dass die Leserschaft dieser Briefe stets detail- und kenntnisreich begleitet und über die zeithistorischen und kulturellen Kontexte informiert wird. Wenngleich manche Fußnote einer gewissen Manieriertheit unterliegt (wenn etwa Hildesheimers Wetterbeschreibungen in London Ende der 1930er Jahre in ihrer Tatsächlichkeit erörtert werden), so vermitteln doch die biografischen oder werkbezogenen Erläuterungen einen differenzierten Blick auf Hildesheimer, der weit über die Briefe hinausgeht, zugleich jedoch nie indiskret wird. Nur selten vermisst man eine Aufklärung, wie zum Beispiel zur Schilderung Hildesheimers eines anvisierten gemeinsamen Essens mit Theodor W. Adorno in einem chinesischen Restaurant in München (vgl. Brief vom 2. November 1951). Ob dieses Treffen zustande kam (oder warum nicht), wäre zweifelsohne von Interesse.
Jehle ist ein seit Jahrzehnten ausgewiesener Kenner, Herausgeber und Archivar von Hildesheimers Werk, der in den Fußnoten seine persönliche Bekanntschaft mit Hildesheimer nicht verbirgt, aber dennoch philologische Profession unter Beweis stellt. So verdient die Edition grundsätzlich Anerkennung für die biografische Informationsfülle, die den Briefen auch in bisher weniger beleuchteten Lebensphasen anheimgestellt wird (etwa hinsichtlich des familiären Herkunftskontextes zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Hildesheimers Londoner Zeit vor dem 2. Weltkrieg oder seiner Tätigkeiten bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen). Dass die Publikation mit einem knapp 140-seitigen Anhang aufwartet, inklusive eines aktualisierten (auch bildkünstlerischen) Werkregisters, das zudem öffentliche Stellungnahmen und Auftritte Hildesheimers einschließt, wertet die Briefedition zusätzlich auf: Der persönliche Austausch Hildesheimers im familiären Kontext und die allmähliche schriftstellerische Positionierung im Nachkriegsdeutschland, wie sie Hildesheimer selbst in den Briefen kommentiert, sind so ergänzt um ein fortan schwerlich zu vernachlässigendes Nachschlagewerk zu Hildesheimer.
Viele Aspekte, die sich aus dem intimen Briefverkehr mit den Eltern herausdestillieren lassen, kehren auch in der weitläufigen Korrespondenz wieder, die Stephan Braese unter Mitwirkung von Olga Blank und Thomas Wild in zwölf weiteren, erstmals vollständig dokumentierten Briefwechseln ebenfalls im Suhrkamp Verlag präsentiert. Zu den Adressaten zählen namhafte deutschsprachige Autoren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie etwa Alfred Andersch, Helmut Heißenbüttel, Hans Magnus Enzensberger oder die Autorin Hilde Domin, aber auch prägende Persönlichkeiten des literarischen Lebens wie Marcel Reich-Ranicki oder Siegfried Unseld. Diese Briefedition ist insofern ein Gewinn, als sie zeigt, wie sich Hildesheimer vielseitig, abwechslungsreich und teilweise geradezu spielerisch auf die Briefpartner und -partnerinnen einlässt. In jeder Korrespondenz weist sich Hildesheimer in einer anderen Tonalität und in einem anderen sprachlichen Duktus aus. Dies zeugt weniger von einer anbiedernden Anpassungsfähigkeit, sondern vielmehr von einer stets engagierten Bereitschaft, im Dialog zu bleiben und die Gesprächsfäden nicht abreißen lassen zu wollen. So prägt ein jeder Briefwechsel eine ganz eigene Klaviatur. Die wiederkehrende Formulierung „Schreiben Sie mir darüber?“ unterstreicht leitmotivisch gleichermaßen das Interesse und die Aufforderung, den Austausch fortzusetzen.
Eine Ausnahme in dieser angestrebten Dialogizität, die sich auch in unermüdlichen Angeboten von Gastfreundschaft im schweizerischen Poschiavo ausdrückt, bildet der insgesamt traurige Briefwechsel mit der amerikanischen Schriftstellerin Djuna Barnes. Zunächst als „euphorische Zusammenarbeit“ gestartet, wie die Herausgeber die Korrespondenz im Zuge von Hildesheimers Übersetzung von Barnes Nightwood, ins Deutsche 1959 als Nachtgewächs übertragen, bewerten, entwickelt sich der Austausch dieser beiden Schriftstellerpersönlichkeiten als bedrückende und geradezu schmerzhafte Entfremdung hin zum Schweigen. Als Hildesheimer mit der Übersetzung von Barnes Versdrama Antiphon beginnt – ein Unterfangen, das sich als ‚rätselhafte Unmöglichkeit‘ erweist, was Hildesheimer nur zögerlich und über Jahre aufschiebend die Autorin wissen lässt –, ist auch die weitere Korrespondenz zunehmend von gegenseitiger Enttäuschung, Distanzierung und von Vorwürfen geprägt. Diese über dreizehn Jahre andauernde Entwicklung lässt die Leserin beziehungsweise den Leser geradezu kummervoll zurück, weil sich in den Briefen gleichermaßen Schmerz und Trauer spiegeln. Selbst dem Herausgeber sind die eigentlichen Gründe, warum die ursprüngliche tiefe intellektuelle Zuneigung in kalte Sprachlosigkeit umschlug, nur schwerlich deutbar. Für die gesamten Briefwechsel bezeichnend ist gleichwohl die Tatsache, dass das Herausgeberteam an solchen Punkten nicht zu spekulativen Ausflügen ansetzt.
Die Korrespondenz mit Barnes erstaunt umso mehr, wenn Hildesheimers Bestreben nach Dialogizität in den anderen Korrespondenzen geradezu als eindringliches Gegenprogramm beobachtbar ist. Die 28 vorgelegten Briefe zwischen Enzensberger und Hildesheimer belegen dies auf besonders aufschlussreiche Weise. Virtuos, außerordentlich anspielungsreich, ironisch und zuweilen makaber reihen sich Sprachspiele aneinander, an denen sich die Lust am Fabulieren von beiden Absendern ablesen lässt. Allein der Austausch über geeignete Antidepressiva präsentiert sich dann als ein intellektuelles Pingpong-Spiel der beiden: „Gegen Depressionen helfen Thymoleptica, deren harmlosestes das ‚Librium‘ ist. Es macht gleichzeitig ein wenig dumm und ein wenig weise. Dürrenmatt behauptet, auch Goethe habe das schon genommen, das erklärt natürlich vieles, wenn auch nicht alles.“ (Hildesheimer an Enzensberger, Frühjahr 1961)
Die zwölf Briefwechsel sind mit weiteren zwölf Disparata ergänzt, zu denen neben den Korrespondenzen mit Max Frisch, Erich Kästner oder Urs Widmer der Brief des zwischenzeitlichen Cheflektors des Suhrkamp Verlags Walter Boehlich vielleicht der einprägsamste ist. Darin informiert Boehlich den frisch gekürten Büchner-Preisträger darüber, dass der Literaturwissenschaftler Fritz Martini die Laudatio halten werde. Boehlich, mit Hildesheimer zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt, legt in einer knappen philologischen Sezierarbeit mehrere Verlautbarungen Martinis während der NS-Zeit dar und gibt unmissverständlich und spürbar emotional entrüstet zu verstehen, dass es ein Skandal wäre, wenn jemand, der wiederholt zu „wunderlichen Verniedlichungen von Hitlers Barbarei und Verbrechertum“ und „ewigen Entschuldigungen für die Blut- und Boden-Bande“ anhielt, die Laudatio auf einen „Rabbiner-Sohn“ halte. Die ganze Empörung über diese Acht- und Taktlosigkeit der Akademie für Sprache und Dichtung gipfelt in Boehlichs verzweifelten Fragen, die beredter Ausdruck über die wahrgenommenen (moralischen) Gefährdungen sind, denen jüdische Intellektuelle in der restaurativen BRD ausgesetzt waren: „Warum dürfen Leute wie Martini in relativ anständiger Gesellschaft heute im Namen Büchners Preisreden auf die halten, die sie so gern ausgerottet gesehen hätten? Warum müssen die, die dieser famosen Ausrottung entgangen sind, sich das anhören?“ (Boehlich an Hildesheimer vom 15. August 1966)
Abermals lassen sich die für Hildesheimers Werk maßgeblichen ästhetischen Kategorien in diesen teils freundschaftlichen, teils beruflichen Korrespondenzen nachzeichnen: Mit seinem Freund aus Londoner Tagen, dem Redakteur und Übersetzer Christopher Holme, spielt er die realen Grenzen seiner fiktiven Figur Sir Andrew Marbot durch, um das Spannungsfeld von Fakt und Fiktion in möglichst überzeugender Authentizität auszuloten. Im Austausch mit dem Rundfunkmoderator und freien Schriftsteller Gerhard Szczesny wird wiederum Ende der 1950er Jahre nach anfänglicher Begeisterung der Surrealismus als „nicht nur tot[e] sondern heute völlig uninteressant[e]“ Kunstform zu Grabe getragen (Hildesheimer an Szczesny vom 6. Januar 1958), wohingegen das Absurde zeitlebens als manifester Orientierungspunkt stets aktualisiert wird (so etwa in den Briefen mit seinem Suhrkamp Lektor Karlheinz Braun). Die vertrauensvollen Briefe an Heißenbüttel zeugen wiederum von den schriftstellerischen Selbstzweifeln („Ich bin, wie immer, sehr unsicher.“ Hildesheimer an Heißenbüttel vom 7. Februar 1968). Insbesondere im Entstehungskontext von Tynset (1965) offenbart sich gegenüber seinem Verleger Siegfried Unseld eine frappierende Ungewissheit über die eigene schriftstellerische Qualität. Vergegenwärtigt man sich, dass Tynset einen wichtigen Wendepunkt hin zur Fokussierung auf das ‚Schmerzhafteste und Schwerste‘ bedeutet, wie ihn Ingeborg Bachmann Anfang der 1960er Jahre von Hildesheimer nach den Erfolgen im absurden Genre eingefordert hatte, klingt die Übersendung des Manuskripts an Unseld geradezu voller Erschöpfung und Zweifel: „Wie gesagt, es tut mir leid, dass es nicht besser geschrieben ist, und ich hoffe nur, dass es sich einigermassen fliessend liest.“ (Hildesheimer an Unseld vom 3. August 1964) Ausdruck dieser auch emotionalen Belastung, die durch die Arbeit an der Exilerzählung Tynset in Auseinandersetzung mit einem restaurativen Nachkriegsdeutschland einhergeht, ist auch der vorherige Hinweis an Heißenbüttel, wonach Hildesheimer „von der Arbeit ziemlich mitgenommen“ sei (Brief vom 14. Juli 1963).
All diese in den Briefen rekonstruierbaren Korrespondenzen zum literarischen Werk sind bereichernde Entdeckungen, zumal sie mit Blick auf den westdeutschen Rundfunk und dessen Relevanz für die Literatur (und in ökonomischer Hinsicht für die Literaten) erhellende Einblicke in die schriftstellerischen Produktionsbedingungen ermöglichen. Stephan Braese hat bei der Auswahl und Reihenfolge der Briefe eine überzeugende Dramaturgie vorgenommen. Gemeinsam mit Olga Blank und Thomas Wild hat er den Kontext der jeweiligen Briefwechsel durch knappe, unter anderem die von Hildesheimer adressierten Briefpartnerin respektive den Briefpartner porträtierende Einführungstexte skizziert. Zugleich charakterisieren sie auf anschauliche Weise den nachstehenden Austausch, womit die einzelnen Kapitel je eine biografische und stets auch die Literatur betreffende Facette Hildesheimers freilegen. Nicht zu umfängliche, aber stets gewinnbringend ergänzende Fußnoten geben zudem den insgesamt 267, zumeist unpublizierten Briefen einen überaus leserfreundlichen Rahmen.
Nach der Briefausgabe, die von seiner Frau Silvia Hildesheimer und Dietmar Pleyer 1999 veranlasst wurde und die vor allem ein beeindruckendes Spektrum der verschiedenen Korrespondenzen in Auszügen freilegt, schließen auf systematische Weise nun die vorliegenden beiden Editionsprojekte hieran an. Vor allem eröffnen sie aufgrund ihrer umfassenden Quellenarbeit einen ungleich umfassenderen Echoraum, um sich Hildesheimer in seinem familiären Kontext, in seiner Entwicklung hin zum Schriftsteller und nicht zuletzt in seinem Agieren im literarischen Feld neu und differenziert zu nähern. Beide Editionsprojekte präsentieren auf komplementäre Weise einen feinsinnigen Beobachter des Zeit-, Literatur- und sozialen Geschehens.
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