Nach(t)denken über Deutschland

Carlo Levi entwickelt auf seiner Deutschlandreise im Jahre 1958 seine ganz eigene Sicht auf das Nachkriegswestdeutschland

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Carlo Levi, nicht verwandt oder verschwägert mit Primo Levi, trägt einen prominenten Namen innerhalb der italienischen wie europäischen Literaturgeschichte und ist dennoch ein vergleichsweise Unbekannter geblieben. Aufmerksamkeit erregte er durch seinen Roman Christus kam nur bis Eboli, im Original Cristo si è fermato a Eboli. Diesem Roman verhalf nicht zuletzt die Verfilmung von Francesco Rosi von 1979 zum großen Durchbruch. Dadurch wurde auch diese einstmals abgelegene Gegend, die Bassilicata – nicht weit von der Höhlenstadt Mateira entfernt, die die Römer Lukanien nannten – in die Kultur- und Literaturgeschichte eingeführt.

Dieser Satz des Titels war im südtitalienischen Dorf Aliano seinerzeit eine gängige Redewendung, obwohl Eboli weit weg lag, vielleicht gerade darum. Auch durch seine deutsche Übersetzung wurde sie in der Kulturgeschichte eine Art geflügeltes Wort. Den Autor, wie auf dem Cover des hier besprochenen Werks geschehen, als weltberühmten Autor zu bezeichnen, hält der Rezensent allerdings für übertrieben.

Insbesondere seine Lebensgeschichte war es, die den Autor zu einer politisch bekannten Person machte. Einer großbürgerlichen italienisch-jüdischen Familie in Turin entstammend, wurde Levi Mediziner und Maler, und schließlich wegen seines Widerstands gegen den Faschismus von Mussolini und seinen Faschisten in diese abgelegene Gegend als Bergwelt mit Tuffsteinfelsen, Kegeln und Flanken verbannt. Dazu schreibt der Autor:

Ich kam an einem Augustnachmittag in einem kleinen klapprigen Auto in Gagliano an. Meine Hände waren gefesselt, und ich wurde von zwei robusten Vertretern der öffentlichen Ordnung mit roten Streifen an den Hosen und ausdruckslosen Gesichtern begleitet. Ich kam ungern und war darauf gefasst, alles unerfreulich zu finden.

Das Haus, in dem Levi wohnte, kann man bis heute besuchen.

Der Beck-Verlag, dessen Verleger Hans Dieter Beck am 03.01.2025 gestorben ist, gab in seiner Reihe textura jetzt eine neue Übersetzung des Textes von 1958 heraus. Verschiedentlich ist darauf hingewiesen worden, dass die frühere Ausgabe schnell in der Versenkung verschwand, weil sie „philologisch nicht gut aufbereitet” war, was das auch immer heißen mag. Die Neuübersetzung von Martin Hallmannsecker wird weithin sehr gelobt, vor allen Dingen von konservativen Zeitungen, was nur zu erstaunlich ist, weil innerhalb des Werks eigentlich kaum ein gutes Haar an der deutschen Nachkriegsgesellschaft auf der Reise in ein verwundetes Land mit versehrten Menschen” gelassen wird.

Vielleicht spricht aus diesen Zeilen ein in seinem Humanismus verletzter Levi im Sinne von Erich Hellers Enterbter Geist. Levi war ein großer Kenner und Leser klassischer Literatur, nicht zuletzt der deutschsprachigen, und bezog Teile von Goethes Faust 2 mit in seine Beschreibungen ein. Es ist dieser Widerspruch, der ihn in seinem humanistischen Erbe antreibt, sich mit dem, was damals im und nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland geschehen war, auseinanderzusetzen. Er spricht dabei nicht nur von Deutschland, sondern, und das macht er von Beginn an deutlich, von der Katastrophe, die uns alle betraf, vor allen Dingen von allen gebildeten, allen belesenen Menschen.

So schildert er implizit immer auch die eigene Betroffenheit, etwa wo es heißt, dass alle Opfer wie Täter seien, also wir, und „wir werden es noch viele Jahrhunderte sein, viel geringer als wir zuvor waren, alle, auch wir, nicht nur die Deutschen.“ Thomas Ribi spricht in der NZZ vom 11.12.2024 von „Dokumenten eines Verzweifelten, der Deutschland lieben möchte, aber es nicht kann”. Die Wahrnehmung der Orte, aber vor allem der Menschen, unterscheidet sich so deutlich von dem, was er in der Literatur gelesen hat, „die (kitschigen) Weihnachtsdekorationen lassen die Trostlosigkeit der Orte nur noch mehr hervortreten, in Nachtlokalen und Bars begegnen ihm ’Gestrandete, Prostituierte und Verrückte’, die selbst das bisschen Wohlstand, nachdem sie sich sehnen, niemals erreichen werden”.

Dennoch ist man dann auf der anderen Seite überrascht, wie stark Levi „die Deutschen“, und ich betone, er spricht wirklich von „den Deutschen“, kulturalisiert, in einer heutzutage sehr überzogen erscheinenden Art, die allerdings damals noch weitgehend akzeptiert gewesen zu sein scheint. Es sind die Deutschen, die er vorwiegend nachts in Kneipen oder in Restaurants trifft, vor allen Dingen in Süddeutschland beziehungsweise im Südwesten Deutschlands, in München (er lässt sich dort durch Nachtlokale treiben), Ulm und Augsburg, Tübingen, Stuttgart und Schwäbisch-Hall, die er harsch kritisiert, und schließlich auch jene in Berlin, dem einzigen Ort, wo man zumindest einen Anflug von Sympathie spürt. Er trifft schlesische Flüchtlinge in den Baracken des KZs Dachau. Levi nennt die Deutschen, die er trifft darin „fett, bierselig, gemütlich, mardergesichtig, schuld- und hasserfüllt”, wobei man in der „Beschreibung“ selbst bei noch so viel gutem Willen keinerlei positive Eigenschaften entdecken mag. Vor allem aber darf das vor dem Hintergrund des italienischen Faschismus, von dem Levi verfolgt wurde, auch nicht falsch verstanden werden. Levi war sich der Schuld auch seiner Landsfrauen und Landsmänner und dem Aufkommen des Faschismus in seinem Land durchaus sehr bewusst.

Dennoch fragt man, warum er so eine Art ästhetischer Dämonisierung betreibt, manchmal fast ins Groteske oder ins Surreale abgleitend. Levi betont ausdrücklich, dass es sich nicht um eine Reportage, Dokumentation oder um eine authentische Beschreibung handelt, sondern um eine Art von Roman.

Da heißt es dann auch, und es bleibt einem fast das Wort beim Lesen im Hals stecken:

Dass es den Deutschen unmöglich ist, den Menschen als ganzes zu umfassen und somit auch Liebe (außer jene tödliche des Tristan-Mythos) und Freiheit unmöglich sind, bleiben ihnen als Äquivalent der Liebe nur Selbstmord, in seiner Ausprägung als totale Gemeinschaft, ein Selbstmord, der die Zerstörung der Welt mit sich bringt, oder Mord, das Lager, in dem „Arbeit frei macht”, als verdrehte, neidische, embryonale Version der Freiheit. (…) Wenn Deutschland in zwei Teile geteilt ist, ist es das, weil es in seinem Unterbewusstsein in jeglicher Hinsicht geteilt ist (und gewesen ist).

Diese Trennung kommt natürlich am besten in den zwei Teilen der damaligen Frontstadt Berlin“ zum Ausdruck, die zwar noch nicht durch die Mauer getrennt ist, woran man aber diese Aufgespaltenheit nach Levis Einschätzung schon damals zum Greifen nahe zu spüren bekommt.

Es sind nicht alleine die Beobachtungen, die Levi hier zusammenträgt, es sind diese mit seinem Wissen verknüpft, das er von der deutschen Gesellschaft bzw. Kultur hat, etwa die starke Hinwendung der Deutschen zur Gefühlsbetontheit des Expressionismus oder der Romantik, die in Liedern und Vertonungen etwa von Eichendorff zum Ausdruck kommt, zum Beispiel In einem kühlen Grunde, aber auch im expressionistischen Film à la Fritz Lang oder Friedrich Murnau.

Der Rezensent folgt Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung nicht ganz, wo dieser den Satz äußert: „Wer Deutschland verstehen will muss mit diesem Buch beginnen.” Dazu sind die Bemerkungen zu grotesk übertrieben. Zum Großteil ‘erfährt’ man in diesem Sinne nicht viel über Deutschland, sondern mehr über den Autor und seine Perspektive.

Seibt und anderen Kritikern ist aber darin zuzustimmen, dass es sich um eine „überwältigende Prosa” handelt, im wahrsten Sinne des Wortes, so dass man von der eigenen Perspektive bzw. von den Deutschen abstrahieren sollte und in diesem Sinne aufgefordert ist, über sich kulturell nachzudenken. Insofern ist diese Wiederentdeckung und Wiederauflage dieses Werks vom Ende der 50er Jahre zu begrüßen. Was die Lektüre etwas schwierig macht ist, dass neben analytischen Teilen eben auch sehr stark kommentierende Teile vorkommen, was die Lektüre manchmal etwas in die Breite zieht. Obwohl das Buch nur 145 Seiten hat, erweckt es den Anschein, als wäre es ein sehr langes, um nicht zu sagen langatmiges Buch. Es gibt nur einige wenige prägende Zitate, das übrige ist allerdings in der Tat gelungene Prosa und vor allen Dingen Fiktionalisierung. Insofern kann man etwas über das Deutschland jener Jahre erfahren. aber es ist ein etwas groteskes verzerrtes, allerdings so intendiertes Deutschlandbild, wozu sich der Autor aber auch durchaus bekennt, auch in Form eines Sprachspiels beziehungsweise ästhetischen Spiels, das nur sehr bedingt einen Bezug oder eine direkte Referenz auf die Wirklichkeit aufweist. Wer daran Vergnügen hat, dem sei dieses Werk empfohlen, es ist nichts für diejenigen, die die Äußerungen Levis eins zu eins verstehen oder auf die Wirklichkeit übertragen, als konkrete Beschreibung einer Art von ‘Dokumentation’, was er aber selbst, wie erwähnt, in dieser Form ablehnt.

In manchen Besprechungen wird der ethnographische Blick Levis noch hervorgehoben und an vielem Stellen wird die Stille, besser noch das Be- oder Verschweigen herausgestellt, was etwa an Margarete und Alexander Mitscherlichs psychoanalytisches Werk von 1967 über die Deutschen und Die Unfähigkeit zu trauern erinnert, immer unter der Voraussetzung, dass man von einer deutschen Psyche überhaupt ausgehen mag. In einer Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur vom 1.11.2024 nennt Marko Martin das Erscheinen des Werks zur rechten Zeit, da es nicht nur ein interessantes historisches Dokument, sondern auch einen Augenöffner für die Gegenwart darstellt,

Bis zu einem gewissen Grad kann der Rezensent Martins Ausführungen zur Zerrissenheit der Deutschen – „die Gefühlsbetontheit auf der einen, die vermeintlich reine Ratio auf der anderen Seite“ – durchaus folgen, im Sinne einer Dissonanz, einer fehlenden Balance mit immer neuen Auswüchsen. Ob das aber der Text selbst in dieser Form wirklich hergibt oder sogar nahelegt, daran würde der Verfasser hier allerdings doch Zweifel anmelden. Das erscheint dem Rezensenten dann doch etwas zu sehr aus der heutigen Perspektive interpretiert.

Titelbild

Carlo Levi: Die doppelte Nacht. Eine Deutschlandreise im Jahr 1958.
Verlag C.H.Beck, München 2024.
174 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783406823695

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