Mauern überall

Carolin Würfel erzählt in „Drei Frauen träumten vom Sozialismus“ von drei Schriftstellerinnen in der DDR

Von Steffen KrautzigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Steffen Krautzig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Sommer 2021 übergab der Literaturkritiker Denis Scheck in einem witzig gemeinten Video seiner Anti-Kanon-Reihe Christa Wolfs Roman Kassandra (1983) wortwörtlich den Flammen. Der Aufschrei war groß. Inzwischen ist das Video nicht mehr verfügbar. Schon 1993 fasste der Journalist Günter Gaus in seiner legendären Interview-Sendung Zur Person treffend zusammen: „Christa Wolf wurde zu einem Exempel für die Tiefe des Unverständnisses zwischen West und Ost, für die Eilfertigkeit mancher, vieler westdeutscher Urteile.“ (Dieses Video ist zum Glück noch verfügbar. Gaus’ Einschätzung bleibt leider aktuell.) Schecks Angriff auf einen bedeutenden Text der deutschen Nachkriegsliteratur ist mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall ein weiterer Beleg, warum Bücher wie Carolin Würfels Drei Frauen träumten vom Sozialismus so wichtig sind.

Carolin Würfel, 1986 in Leipzig geborene Autorin und Journalistin, hat kein klassisches, trockenes literaturhistorisches Fachbuch mit wissenschaftlichem Apparat geschrieben, sondern ein lebendiges, erzählendes Sachbuch, das subjektiv und einfühlsam von drei sehr unterschiedlichen Autorinnen in der DDR berichtet, von ihren Hoffnungen, Sorgen und Problemen. In drei Teilen („Politisches Erwachen“, „Ankunft im Alltag“, „Träume platzen“) und abwechselnd den drei Protagonistinnen gewidmeten Kapiteln werden vor allem private Lebensstationen spannend nacherzählt. Gerade dieser offene, neugierige Blick auf die drei Frauen, auf ihren anfänglichen Optimismus und ihren individuellen Umgang mit den Herausforderungen und Widrigkeiten des DDR-Alltags rückt so manches Vorurteil über ostdeutsche Künstlerinnen und Künstler zurecht. An vielen, oft kleinen Beispielen wird konkret erläutert, was es bedeutete, an den Sozialismus als Utopie zu glauben und gleichzeitig das Scheitern der DDR unmittelbar mitzuerleben – sei es in Sachen Mangelwirtschaft oder Stasi.   

Die wissenschaftliche Literatur zu Kunst und Kultur der DDR ist unglaublich umfangreich –wahrscheinlich aufgrund der vermeintlichen Abgeschlossenheit des Untersuchungsobjekts. Würfel wählt in ihrem Buch bewusst nur wenige gesellschaftspolitische Ereignisse aus und schildert deren individuelle Auswirkungen auf die drei Autorinnen, ihre Gedanken und Reaktionen. Mauerbau, Prager Frühling und Bitterfelder Weg kommen natürlich vor, aber die für die DDR-Geschichte, insbesondere für die Kulturszene, einschneidende Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 wird mit keinem Wort erwähnt. Für die Lesbarkeit des Buches ist dies allerdings ein enormer Gewinn. (Wer den kompletten historischen Überblick sucht, greife zu Gerd Dietrichs dreibändiger Kulturgeschichte der DDR aus dem Jahr 2019 mit über 2400 Seiten.) Auch dass die Autorin nicht alle Veröffentlichungen, Romane und Erzählungen der drei Protagonistinnen erwähnt, deutet und zitiert, kommt dem Lesefluss sehr zugute. Vor allem die Entstehungsgeschichten von Wolfs Nachdenken über Christa T. (1968), Wanders Guten Morgen, du Schöne (1977) und Reimanns Franziska Linkerhand (1974) stehen im Zentrum.

Die Literaturangaben im Anhang geben weitere Lesetipps, auch zu postum veröffentlichten Bänden mit Tagebuchaufzeichnungen und Briefwechseln der drei. Formal gibt es einige Parallelen, zum Beispiel nennt Würfel in den Untertiteln ihrer nur aus den Vornamen der Autorinnen bestehenden Kapitelüberschriften (Brigitte, Maxie, Christa) immer auch die jeweiligen Handlungsorte (Burg, Wien, Hoyerswerda, Leipzig, Kleinmachnow usw.). Auch Christa Wolf schrieb in den jährlichen Einträgen ihrer 2003 erschienenen Autobiografie Ein Tag im Jahr die entsprechenden Orte in die Überschriften – noch ein Buch, mit dem man nach der Lektüre von Drei Frauen träumten vom Sozialismus direkt weitermachen möchte. Genau diese Neugier auf die Beschäftigung mit der DDR und ihrer Literatur ist auch der große Verdienst dieses Buches: Der persönliche Zugang öffnet Türen für Neu- und vor allem Erstleser*innen, zeigt die Relevanz der drei Autorinnen und ihrer Texte für unsere Gegenwart. Carolin Würfel im Nachwort: „Mauern gibt es überall. Reden und sich erinnern hilft, ist notwendig, wenn wir verstehen möchten, woher wir kommen und wohin wir gehen wollen.“

Titelbild

Carolin Würfel: Drei Frauen träumten vom Sozialismus. Maxie Wander, Brigitte Reimann, Christa Wolf.
Hanser Berlin, München 2022.
269 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783446273849

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