Die ‚unbefleckte Empfängnis‘ als Sozialexperiment
Emi Yagis Roman einer fingierten Schwangerschaft
Von Lisette Gebhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Debütroman der Autorin Emi Yagi wird im japanischen Kulturjournalismus als Erzählung einer Fake-Schwangerschaft bezeichnet. Yagi knüpft mit ihrer Thematik an die in der landeseigenen Literaturkritik erstellte Kategorie des „Schwangerschaftsromans“ (ninshin shôsetsu) an – nur eben, um den außergewöhnlichen Fall einer Frau zu schildern, die an ihrem Arbeitsplatz vorgibt, ein Kind zu erwarten.
Vom Studium über die Zeitarbeitsfirma in die Papierfabrik
Die 34-jährige Angestellte Shibata leidet an ihrem Büroalltag, der sie chronisch unterfordert. Als Frau am Arbeitsplatz kommen ihr wie üblich das Kaffeekochen und diverse Aufräumarbeiten zu, Aufgaben, die Männer in der Firma geflissentlich übersehen. Man geht automatisch davon aus, dass die weibliche Angestellte, die Office Lady (OL) dafür zuständig ist, also Shibata. Obwohl sie ein Studium absolviert hat und man ihr beim Eintritt in die Verwaltung der Papierfabrik zunächst höflich begegnet, wird ihr bald klar, wie chancenlos sie im Kreis der Kollegen bleiben wird. Die Papierfirma ist ihr zweiter beruflicher Versuch, nachdem sie zuvor einige Jahre bei einer Zeitarbeitsfirma tätig war. Dort wurden ihr mehr und mehr Aufgaben übertragen, bis sich, als sie in die Position einer Managerin aufgestiegen war, ihre Dienstzeiten immer weiter in den späten Abend hinein ausdehnten und sie – ohne höheres Gehalt – körperlich wie geistig völlig erschöpft war. Belastend war zudem, dass man ihr als junger Frau unangenehme Situationen als Betreuerin des zu vermittelnden Personals zumutete. Im Fall der Kundenbeschwerde über einen streng riechenden etwa vierzigjährigen Zeitarbeiter, der offensichtlich an einer Verbitterungsdepression litt und sich nicht mehr pflegte, schlug ihr die geballte Missachtung der männlich dominierten Geschäftswelt in Form von sexistisch unterlegter Häme entgegen. Nicht nur der Mann konterte, es sei dann eben an ihr, ihn – um Abhilfe zu schaffen – in ein Hotel zu begleiten und dort zu waschen, sondern auch sein Chef meinte wenig später, sie solle doch mit dem Betroffenen zusammen ein Bad nehmen – er würde sich alsbald in der Wanne dazugesellen.
Schien der Job in der Produktionskontrolle der Papierrollenfabrik auch anfangs gemächlicher und insgesamt erträglicher, stört Shibata doch bald die stumpfe Atmosphäre. Oft versammeln sich die Männer zu langwierigen Sitzungen, auf denen irgendwelche Vorschläge besprochen werden. Außer einem Wust an Kopien bringen die Treffen kaum je ein Ergebnis hervor. Die schwerfällige Firmenkultur, typisch für altmodische japanische Arbeitsstätten, ist ebenso belastend wie die zahlreichen Handreichungen, die man der Protagonistin als Frau abverlangt.
Verkündigung und Abenteuer
Völlig frustriert von der Lage, verkündet die Angestellte eines Tages, schwanger zu sein. Sie nennt diese Finte ein „kleines Experiment“. Das Experiment zeigt umgehend Wirkung, da man ihr nun plötzlich mit viel Rücksicht begegnet: In der japanischen Gesellschaft hat die werdende Mutter einen Sonderstatus inne. Was aus einer Laune heraus seinen Anfang genommen hat, jedenfalls nicht als direkter ‚Widerstand‘ geplant war, entwickelt im Verlauf der überzeugend komponierten Erzählung eine immer stärkere Eigendynamik, der sich die Heldin genießerisch überlässt – während der Lesende von Yagis Prosa unweigerlich in die Situation hineingezogen und von der Befürchtung geplagt wird, man werde Shibata bald enttarnen. Ihre neue Rolle bringt ihr viel Aufmerksamkeit, etliche Freiheiten im Berufsleben und neue Kontakte, als sie an einer Aerobic-Gruppe für Schwangere teilnimmt.
Unterstützt von einschlägigen Apps gelingt Shibata die glaubhafte Darstellung des Mutterwerdens innerhalb von neun Monaten. Indem sie gewissenhaft ein Tagebuch des Abenteuers führt, betreibt sie eine partielle Autosuggestion ihrer Schwangerschaft. Auf die Konstellation des Fiktiven weist bereits der japanische Titel hin – er lautet Kûshin techô, d.h. „Kernlos-Notizen“, womit zum einen die Papierrollen ohne Hülse gemeint sind, die die Firma der Protagonistin herstellt, zum anderen aber auch – in der Interpretation des „leeren Kerns“ – Aufzeichnungen einer Schwangerschaft ohne Kind bedeuten können. Das Spiel mit der Fiktivität könnte zudem dahingehend verstanden werden, dass es sich bei den erzählten Ereignissen um Phantasien der Angestellten handelt, die auf diese Weise ihren einigermaßen öden Alltag und ihre Einsamkeit überwinden will. Die elegante literarische Doppeldeutigkeit des japanischen Titels vermag die sich dem vermeintlichen Lesergeschmack anbiedernde deutsche Version Frau Shibatas geniale Idee leider nicht wiederzugeben.
Dachs und Maria
Emi Yagi legt ihr Erstlingswerk auf verschiedenen Bezugsebenen an. Das Motiv der Leere, um das der Roman kreist, könnte in einer weiteren Denkfigur auch auf das Fehlen eines Partners im Leben der 34-Jährigen hinweisen. Da klingt es seltsam, aber auch irgendwie lustig, wenn eine Gruppe Kinder, auf die sie zufällig trifft, mehrmals den Satz „Yamada ist schuld!“ ruft. Man mag über diese Stelle hinweglesen und der Szene, in der zwei Schulmädchen Origami in Form von Dachsen falten, ebenfalls keine große Beachtung schenken. Im japanischen Kontext deutet die Nennung eines Dachses (tanuki) jedoch auf ein magisches Geschehen hin. Der Dachs ist aus überlieferten Schriften wie der Zauberfuchs (kitsune) dafür bekannt, Dinge zu verhexen und den Menschen als veritabler Trickster ein Trugbild der Realität vorzugaukeln.
In die Sphäre des Christlich-Religiösen verweist Yagi dann, wenn sich ihre Protagonistin an einigen Stellen im Text Maria zuwendet – sie entdeckt ihr Portrait im Fenster des Oberstocks eines Geschäftshauses auf der bekannten Tokyoter Prachtstraße Ginza. Maria versinnbildlicht das Schicksal aller Frauen, die Schwangerschaft, Geburt und die Einsamkeit ihrer Ängste letztlich allein durchstehen müssen. Shibata empfindet Sympathie für die Mutter des Jesuskindes, deren Empfängnis wie die ihre unter denkbar rätselhaften Umständen geschah. Bei der Heiligen Jungfrau leistet sie auch Abbitte ob ihres Schwindels: „Hör mal. Ich tue im Moment so, als wäre ich schwanger. Würdest du mir das übel nehmen?“.
Wunschträume?
Yagi gelingt mit ihrem literarischen Debüt eine originelle Gesellschaftssatire aus der Sicht einer jungen Frau, die spürt, dass es für sie an der Zeit ist, sich über die Widerstände eines stark normativen Kollektivs hinwegzusetzen, um ein glücklicheres Leben führen zu können. Ob man deshalb den Roman, wie es in der Verlagsbeschreibung heißt, als eine „feministische Antwort auf tief verankerte patriarchalische Strukturen“ bezeichnen sollte, bleibt zu bezweifeln. Yagi vertritt keine Agenda des Feminismus. Sie fordert für ihre Protagonistin nur ein rudimentäres Anrecht auf körperliche Gesundheit, garantiert durch menschenverträgliche Arbeitszeiten, einen respektvolleren und reflektierten Umgang zwischen den Geschlechtern sowie die Aussicht auf ein Mindestmaß an persönlichem Glück. Shibata möchte einen Partner finden, eine Familie gründen und ein Kind bekommen. Derlei bescheidene Wünsche sind in der Tat nicht unbedingt mit den Anliegen der Frauenbewegung zu verknüpfen, sondern entsprechen eher den Grundbedürfnissen in einem menschenrechtlichen Sinn.
Die Protagonistin sehnt sich nach einem Ort, an dem sie sie selbst sein kann, ohne von der Umgebung als Frau gemobbt oder grundlos kritisiert zu werden. Ihr Traum ist es, dass die Männer am Arbeitsplatz lästige Erledigungen nicht mehr auf die Kolleginnen abladen, sondern diese ganz selbstverständlich eigenständig verrichten. Bestimmte Rollenmuster wie das von der dienenden Funktion des Weiblichen, gehörten abgeschafft, freiheitlicher solle es werden in ganz Japan, menschlicher. Am Ende des Sozialexperiments sind durchaus Erfolge zu verbuchen. Shibata ist mit sich im Reinen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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