Wer wir heute sind
Nach Vergangenheit und Zukunft widmet sich Yuval Noah Harari in „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ der Gegenwart des Menschen
Von Sebastian Meißner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Zeitenwende begann nach Yuval Harari mit „Alpha Zero“ – einem Algorithmus, der sich das Schachspielen in nur vier Stunden selbst beigebracht und in 100 Testspielen gegen andere Gegner ungeschlagen blieb. Das Geheimrezept: Statt Millionen möglicher Züge kalkulierte Alpha Zero gerade einmal mit 80.000 möglichen Zügen pro Sekunde. Diesen scheinbaren Nachteil glich er mit einem künstlichen neuronalen Netzwerk aus, das lediglich die wahrscheinlichsten Züge herausgriff und bewertete. In der Folge schaffte das Programm Züge, die unkonventionell, kreativ oder mitunter sogar genial waren. Für Harari das Musterbeispiel der bevorstehenden KI-Revolution. Die neuen Maschinen, so der Autor, würden den biochemischen Mechanismen, die den menschlichen Emotionen, Wünschen und Entscheidungen zugrunde liegen, immer näherkommen. Lernen, Kommunikation und emotionale Empathie seien demnach keine Illusion mehr, sondern nahe Zukunft. Schon bald– und nicht nur an dieser Stelle des Buches schaut Harari dann eben doch in die Zukunft – könnte es Algorithmen geben, die auf der Grundlage biometrischer Daten zum Beispiel Musik komponieren und spielen könnten, die exakt auf die Persönlichkeit und die aktuelle Stimmung der Nutzer abgestimmt sind. Soweit der angenehme Teil.
Übermenschen und Nutzlose
Doch diese „Zwillingsrevolution“ von Künstlicher Intelligenz und Biotechnologie sorge eben auch dafür, dass die Gefühle und Überzeugungen der Menschen zunehmend kontrolliert würden und verändere radikal seine Stellung in der Welt. Die neue Macht werde Milliarden von Jobs kosten und die Menschheit in eine kleine Elite und eine große Klasse der „Nutzlosen“ spalten. Während draußen ein Kampf ums Überleben tobt, könnten die Reichen und Mächtigen dieser Welt sich in hermetisch abgesicherte Festungen zurückziehen und ihre Körper und Gehirne optimieren. So könnte schließlich sogar eine neue Spezies entstehen. Es sind bedrückende Szenarien, die Harari in 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert entwirft. Die Vergangenheit hat er in Eine kurze Geschichte der Menschheit beschreiben. Mit dem Nachfolger Homo Deus blickt der Universalhistoriker weit in die Zukunft unserer Spezies. Nun widmet er sich in 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert der Gegenwart.
Reiche Themenvielfalt
Anekdotenreich und gewohnt sprachgewaltig stellt Harari darin die ganz großen Fragen. Fragen, die man sich kaum zu stellen traut. Dabei schreckt er auch vor den ungemütlichen Antworten nicht zurück. Seine Faktenkenntnisse machen es ihm möglich, interessante und überraschende Zusammenhänge herzustellen, gewohnte Denkmuster aufzubrechen und Dinge in neuem Licht zu betrachten. Für den Leser ist das meist sehr erhellend und bereichernd. An einigen Stellen aber verheddert sich Hararai, verliert sich in den Ausflüchten über Rassismus, Fake News, Religionen, Echokammern oder Ernährung und verliert das eigentliche Ziel aus den Augen. Dann erzeugt all das Wissen keinen Aufruhr, sondern eher Ermüdung. Manche Gedankengänge bleiben krude, so unterhaltsam sie auch sein mögen. Ob es daran liegt, dass 21 Lektionen auch aus bereits veröffentlichten und nun noch einmal redigierten Artikeln zusammengesetzt wurde, bleibt unbeantwortet. Es ist auch nur ein kleiner Makel dieses ansonsten wichtigen Werks. Denn glücklicherweise findet Harari immer wieder den Weg zurück und gelangt am Ende schließlich doch ans Ziel. „In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht“, schreibt der Autor. Mit 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert schenkt er seinen Lesern erneut Orientierung in einer Welt, die sich rasant entwickelt. Ob es eine zentrale Botschaft dieses Buches gäbe, die sich in einem Satz zusammenfassen lässt, wurde er bei seinem Erscheinen gefragt. Seine Antwort: „Es gibt keine nationalen Lösungen für globale Probleme – es gibt nur globale Lösungen.“
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