Lyrische Nachrichten aus einem Grenzland

In seinem Gedichtband „Antenne“ erweist sich Serhij Zhadan als aufmerksamer Seismograph

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aktuelle Literatur aus der Ukraine muss stets damit rechnen, dass sie einseitig auf dem Hintergrund der kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre rezipiert wird. Daran sind im Übrigen oft weniger die Texte oder die Autorinnen und Autoren schuld als vielmehr eine entsprechende Erwartungshaltung bei der Leserschaft im Ausland. Man sollte dies berücksichtigen, wenn man die neuen Gedichte von Serhij Zhadan liest, die nun unter dem Titel Antenne auf Deutsch erschienen sind. Das ist deswegen umso wichtiger, als Zhadan derzeit einer von wenigen ukrainischen Schriftstellern ist, die einigermaßen regelmäßig mit Veröffentlichungen in deutscher Übersetzung aufwarten können. Gerade dieser Sachverhalt bietet aber auch die Chance, seine Prosa und Gedichte über die Jahre hinweg vertieft und differenziert zu betrachten.

Doch auch am Band Antenne selbst kann man die mannigfachen Themen und die stilistische Vielfalt ablesen, die inzwischen Serhij Zhadans Werk charakterisieren. Es handelt sich hier um eine Auswahl seiner neueren Gedichte. Sie schöpft aus zwei Bänden, die nach dem sogenannten „Euromaidan“ von 2014 publiziert worden sind: Schiffsverzeichnis (im Original Spysok korabliw, 2020) sowie Antenne (Antena, 2018). Der Dichter hat für die deutsche Ausgabe eine Auswahl aus den beiden Sammlungen getroffen und die Gedichte teilweise neu angeordnet. Dabei ergeben sich auch interessante Möglichkeiten einer zyklischen Lektüre zwischen einzelnen Texten. Zhadan hat den Gedichten außerdem einen Prosatext vorangestellt, den er eigens für diese Veröffentlichung verfasst hat. Es handelt sich um eine berührende Erinnerung an den Vater, an dessen Leben und Tod. Zugleich führt Zhadan hier eine der Leitfragen des Bandes ein: Was vermag dichterisches Schreiben, und was vermag es nicht?

Wie man erwarten kann, ist der Krieg in manchen Gedichten des Bandes präsent. Er ist bisweilen explizit und brutal, und zwar besonders im Teil III der Auswahl aus Antenne. Hier ist etwa vom Artilleriebeschuss die Rede und von einer durch ein Geschoss „zerfetzten Schülerin“ in einer Bibliothek. Zhadan denkt darüber nach, wer einen Orden erhalten solle: „Sollen die dekoriert werden, die überlebt haben.“ Doch auch in weniger dominanter Form ist das aktuelle Zeitgeschehen ein Thema. So registriert das lyrische Ich, wie sich die Sprache verändert oder wie die Menschen auf einmal nicht mehr über Politik reden wollen. In solchen Momenten erweist sich Serhij Zhadan in der Tat als ein genauer Seismograph von zunächst kaum wahrnehmbaren Verschiebungen.

Doch es geht in Antenne auch um solch klassische Themen der Lyrik (und der Literatur) wie Liebe, Natur und Jahreszeiten, Gott, Tod, Heimat oder eben das Dichten (Singen) selbst. Diese bloße Auflistung von Begriffen mag unspektakulär klingen, doch deren Behandlung durch den Dichter ist es nicht. So wird die Natur nicht etwa romantisch-idyllisch verklärt. Vielmehr stehen Bäume, Steine oder Vögel immer in einem Spannungsfeld. Sie können „gut“ oder „böse“ sein, und manchmal antworten sie auch gar nicht auf die Anrufungen durch den Dichter. Ähnliches gilt beispielsweise für Gott: Dieser ist für Zhadan zwar tot. Doch zugleich verwebt der Autor zahlreiche biblische und liturgische Elemente in seine Gedichte. Die lyrische Sprache erinnert hie und da an Psalmen, das Dichten wird wiederholt mit dem Beten assoziiert: In beiden Fällen bleibt die Frage zurück, ob man gehört wird. Die Liebe ihrerseits wird nicht unbedingt als ein großes Fest inszeniert, sondern eher als banaler Alltag. Die Gedichte über die Liebe bilden nebenbei einen Unterzyklus im Band. Die Verse sind hier in der Regel kürzer, der Ton ist erzählerischer gestimmt. Zusammen ergeben sie eine Art intimes Tagebuch. Dieses kommt freilich ohne ein „Ich“ aus. Es berichtet meist in der dritten Person von „ihm“ und „ihr“.

Die Heimat (oder das Vaterland) ist vielleicht dasjenige Motiv, das in den Gedichten am komplexesten kodiert ist, da es seinerseits zahlreiche Schattierungen aufweist. Es geht hier um die (ukrainische) Sprache, um die Orthographie, aber auch um das Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Damit verbunden sind wiederum Themen wie das Zuhause und das Heimkehren. Der Ort dieser Texte ist nun öfter als früher das „Grenzland“ (im Original „prykordonnja“): Es ist eine Gegend dazwischen, ein Landstrich des Durch- und des Übergangs. Das ist gleichermaßen konkret, also geografisch zu verstehen wie auch figürlich. Das Grenzland hängt eng mit anderen Schwellenmotiven zusammen – Flüsse, Küstenlinien, Ufer oder auch Risse. Zhadans Gedichte sind fast immer titellos, sie vermeiden Eindeutigkeiten, sie tasten sich voran, schweben eigentümlich im Raum. Sie werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Und es scheint, als wechselten sie gewissermaßen ständig ihren Aggregatszustand. Das trägt viel zu ihrem Reiz bei.

Serhij Zhadan verwendet oft Langzeilen. Diese können rhythmisiert sein, ohne gleich einem der klassischen Versmaße zu folgen. Im ukrainischen Original gesellen sich vielfach Reime dazu, die manchmal unrein sind. Außerdem arbeitet der Dichter intensiv mit lautlichen Anklängen auch innerhalb der Verszeilen. Das ist eine Herausforderung für jede*n Übersetzer*in von Lyrik. Man kann aber festhalten, dass Claudia Dathe den unverkennbaren Klang von Zhadans Lyrik zweifellos sehr gut getroffen hat. Besonders wenn man die Texte laut liest, begreift man, wie sehr dieser Dichter eben auch Musiker ist. Seine Bände erscheinen im Original meist mit sehr schönen Illustrationen, die von Künstler*innen entworfen werden. Dass diese in dem schmalen Suhrkamp-Bändchen nicht wiedergegeben werden, ist gewiss verständlich und trotzdem bedauerlich. 

Zhadans lyrischer Stil ist mitunter erzählend, dann dominieren wieder das Preisende oder das Litaneiartige. Letzteres führt bisweilen zu Aufzählungen, zu Verzeichnissen und Katalogen, zu einer Inventur der umgebenden Welt. Immer wieder weht Melancholie und Einsamkeit durch die Zeilen. Ab und zu verdichtet sich eine Stelle zu einem Aphorismus: „Das Leben ähnelt einem Haus, in dem man einen Erhängten gefunden hat.“ Zahlreich sind die intertextuellen Anspielungen, etwa an Homer, an Ossip Mandelstam oder Nikolai Gogol. Hie und da fühlt man sich bei der Sprache dieser Gedichte an Paul Celan erinnert, an den Sonnengesang des Franziskus oder an die dokumentarische Bestandsaufnahme postsowjetischer Realität durch Swetlana Alexijewitsch. Aber auch Anklänge an die Sprache der Leninpioniere oder der Propaganda finden sich hier.

Wo Zhadans Sprache hingegen pathetisch wird, mögen im deutschsprachigen Raum vielleicht nicht mehr alle mitgehen: Zu sehr wurde uns das allzu Salbungsvolle in den letzten Jahrzehnten ausgetrieben (und meist wohl zurecht). Aber im ukrainischen Kontext von Zhadans Gedichten macht dieses Stilregister durchaus Sinn. Serhij Zhadan beweist mit seinem Auswahlband Antenne, dass die Lyrik in der Ukraine Relevanz besitzt, selbst wenn sie zuweilen an sich zweifelt.

Titelbild

Serhij Zhadan: Antenne. Gedichte.
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
144 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518127520

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