Bilder einer verlorenen Zeit

Zur kommentierten Neuauflage von Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers“

Von Lukas PallitschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lukas Pallitsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zuweilen erlebt der genretechnische Versuch, das Große in kleinen Zeitspannen an einem zudem unpopulären Zeitpunkt in den Blick zu nehmen – man denke an Florian Illiesʼ 1913 oder Hans Ulrich Gumbrechts 1926 –, eine merkbare Konjunktur. „Ein Jahr im Archiv“ – für dieses modern gewordene Genre ließen sich Stefan Zweigs miniaturhafte Sternstunden der Menschheit als Vorläufer benennen, die erst kürzlich den Auftakt zur neu herausgegebenen Salzburger Werkausgabe machten. Die zu verzeichnende Wiederkehr jener Versuche, Geschichte vom Rande her zu schreiben, bietet indes Zweigs großartigem Epochengemälde der Welt von Gestern bis heute keineswegs Einhalt, weder in der Außenwahrnehmung noch in der Rezeption. Es wurde nun von Oliver Matuschek im S. Fischer Verlag neu herausgegeben.

„Die Zeit gibt die Bilder, ich spreche nur die Worte dazu, und es wird nicht so sehr mein Schicksal sein, das ich erzähle, sondern das einer ganzen Generation, die wie kaum eine andere im Laufe der Geschichte mit Schicksal geladen war.“ Zweigs aus der Malerei übernommene Miniaturform, die er in seinem Spätwerk in ihrer Plastizität zur Meisterschaft brachte, kann an diesen Erinnerungen besonders anschaulich nachvollzogen werden. Die Erinnerungen des Weitgereisten widmen sich weniger dem Versuch, herauszufinden, „wie es eigentlich gewesen“ ist (Leopold von Ranke), nachgezeichnet wird vielmehr eine exemplarische Lebensgeschichte, die entlang historischer Fakten zu einem mitreißenden und farbigen Weltgemälde wird. Besichtigt wird ein Zeitalter der Epochenbrüche, die in Erinnerungen nachleben. War die Welt von Gestern lange als elegant erzähltes Grundbuch aufgrund des breit entworfenen Panoramas schulbildend, so ist ihre Bedeutung in jüngster Gegenwart zunehmend in den Schlüsselmomenten deutsch-jüdischer Kulturgeschichte wieder erwacht. Von besonderem Interesse sind derzeit vor allem die vor dem Ersten Weltkrieg stimmungsvoll nachgezeichneten Kippmomente, die bis heute zu literarischen Bearbeitungen einladen. Beides ist Zweigs Erinnerungen zu entnehmen, sowohl die Vorahnung des bevorstehenden Untergangs, die etwa in der begleitenden Reflexion des bis heute wenig rezipierten Antikriegsdramas Jeremias durchschimmert, als auch die letzten historischen Atemzüge einer kulturellen Blütenphase vor dem Umkippen in den Krieg. Gerade in der Erinnerungsgeschichte am Vorabend des Ersten Weltkriegs drängt sich die Frage auf, was in dieser faszinierenden Welt zu Ende ging, bevor etwas anderes beginnen konnte. Nirgendwo sonst als in der mit starken Kontrasten beschriebenen Zeit von Melancholie und Eros, von Tradition und Moderne flackert noch eine dumpfe Ahnung davon auf.

Bereits 1939 fasste Zweig den Entschluss zu einem autobiografischen Buch. Konzeptionell grundlegend war ein 1940 in Paris gehaltener Vortrag über Das Wien von Gestern, der in den Titel der Memoiren einging. Zahlreiche Enttäuschungen und Depressionen brachten das Buchprojekt ins Stocken, doch intensive Arbeitszeiten, begleitet von Phasen der Überarbeitung und Übertragung der Korrekturen, trugen zur Fertigstellung im November 1941 bei. Kaum drei Monate später nahm sich Stefan Zweig das Leben.

Bekanntlich ist an dieser Autobiografie Zweigs kaum etwas strittiger als die Gattungsbezeichnung selbst, zumal Zweig private Details stillschweigend hinter die zeitgeschichtliche Szenerie zurückdrängt. Als eher zweifelhafte Vita können Zweigs Memoiren nur schwerlich als historische Maßgabe oder Quelle herangezogen werden. Nach wie vor aber stützen sich literarische Studien gerne mit autoritativen Zitatverweisen auf dieses Buch. Inwieweit Zweigs Gedächtnis historische Fakten stillschweigend glättet oder welche Ereignisse und kulturgeschichtlichen Momente hintergründig sind, kann in den akribisch erarbeiteten Stellenkommentaren nachgelesen werden. Kaum jemand scheint für den kritischen Apparat zu den jeweiligen Kapiteln prädestinierter zu sein als Oliver Matuschek, der sich bereits mit einer umfangreichen Zweig-Biografie hervorgetan hat und in ein umfangreiches Projekt zur Digitalisierung von Zweigs Quellenmaterial federführend involviert ist.

Der schwere Gang ins Exil bedeutete für Zweig auch, sich sukzessive von seiner privaten Bibliothek und seinem Archiv zu verabschieden und kaum mehr auf Materialen zurückgreifen zu können. Weil noch heute die Korrespondenzen des Kosmopoliten in unterschiedlichen Archiven (New York, Jerusalem und so weiter) weit verstreut sind, erweist sich das Unterfangen einer soliden Edition als entsprechend schwierig. Im Nachwort illustriert Matuschek mithilfe von Abbildungen der Manuskripte die aufwendige Arbeitsweise Zweigs von den frühen Fassungen in Notizheften, die holzschnittartig und daher eher lückenhaft sind, aber das Projekt in nuce enthalten, bis zum Typoskript. Damit können sowohl die Genese der frühen Entwürfen, die noch mit Bleistift notiert und später in Tintenschrift ausformuliert sind, als auch die aufwendige Schreibweise Zweigs in exemplarischen Varianten und ihren späteren Fassungen mitsamt Verbesserungen nachvollzogen werden.

Zweigs Buch ist also ein Zeitgemälde, das Privates zugunsten allgemeiner Erinnerungen ausspart. Tatsächlich aber plante der Autor sein Projekt ursprünglich stärker als autobiografisches. All jenen, deren Interesse über den geschichtlichen Horizont des Kosmopoliten hinausgeht und sich auf persönliche Momentaufnahmen richtet, offeriert das Nachwort erste Anknüpfungspunkte. Für autobiografische Vertiefungen sei nachdrücklich auf die vom Herausgeber verfasste Biografie Zweigs mit dem Titel Drei Leben verwiesen. Matuschek hat hierfür dessen Ersttitel Drei Leben –  zu diesem Zeitpunkt war das Projekt noch stärker persönlich und weniger epochal angelegt –  als Buchtitel aufgegriffen und hat damit Zweigs stärker autobiografischem Impuls Rechnung getragen. Der Herausgeber setzt mit dieser breiter kulturgeschichtlich angelegten Edition eine schöne Klammer um bios und graphie, zwei Stichworte, die in Zweigs zahlreichen historischen Porträts und biografischen Romanen, denen stets ausgiebige Recherchen über die Zeit zugrunde liegen, immer wieder aufgegriffen und entfaltet werden.

Die kommentierte Neuausgabe entpuppt sich sowohl für allgemein interessierte Leser als auch für die Zweig-Forschung als Glücksfall, weil sie durch den breiter angelegten kulturgeschichtlichen Ansatz erlaubt, in eine Welt von Gestern einzutauchen.

Titelbild

Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers.
Herausgegeben und kommentiert von Oliver Matuschek.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
700 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783100024091

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