Der Schachzwerg im Moratorium

Yôko Ogawa schickt in „Schwimmen mit Elefanten“ erneut skurrile Figuren durch ihre Exzentrikermanege

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein schmächtiger Knabe mit chirurgisch geöffneten, behaarten Lippen, ein zu großer Elefant, ein fetter Busfahrer, eine Katze – vermutlich Abkömmling der Cheshire Cat – düstere Örtlichkeiten mit Patina, ein Mädchengeist und ein brillanter Schachautomat – Ogawa bedient sich in dem 2009 in japanischer Originalfassung entstandenen Text aller Register ihrer bewährten Retro-Maschinerie. Der aufmerksame Leser erkennt wohl Grundtypen des Figurenkanons wieder, fühlt sich nach nur wenigen Seiten der Lektüre vom Ogawa’schen Gefühlsdesign umwoben und schließlich ganz und gar in ihren klebrig-gruseligen Kokon eingesponnen.

Meisterin der Mumien

Ogawas Spezialität ist das Moratorium. Die Protagonisten setzen alles daran, ihr Habitat nicht verlassen zu müssen und ihr Dasein in dem von ihnen bevorzugten Zustand zu konservieren. Dem Konservieren ist von jeher Ogawas Kunst gewidmet: Schutzräume mit ihren charakteristischen Ausstattungen werden selten verlassen, Präparate werden sorgfältig archiviert und manchmal finden sich auch Kinderleichen in Kühlschränken. Oder eben Jungen, die sich in wachstumshemmenden Kästen verschanzen − wie Ogawas Protagonist aus „Schwimmen mit Elefanten“.

Seine offenbar nicht ganz imaginären Freunde sind ein zum erzählten Zeitpunkt bereits toter Elefant, der aufgrund seiner zunehmenden Masse bis zum Ende seines Lebens auf einem Kaufhausdach ausharren musste, sowie ein Mädchengeist mit dem klingenden Namen Miira, was auf Japanisch Mumie bedeutet. Das Mädchen war, wie es die Legende berichtet, in den schmalen Spalt zwischen zwei Häusern geraten, ist nie wieder aufgetaucht und wurde vermutlich zu einer spukenden Kindermumie. Begleitet von diesen Freunden wohnt der Junge bei den Großeltern − die Mutter starb früh. Weitere vertraute Wesen stellen für ihn schließlich ein in einem Bus neben dem Wohnheim der Busgesellschaft hausender ehemaliger Fahrer und sein Kater dar.

Der korpulente Mann weiht ihn in das Schachspiel ein – der Junge erfasst intuitiv dessen Bedeutung. Im Laufe der in 18 Kapiteln erzählten Geschichte ist zu erfahren, dass er zu einem großen Meister wird; allerdings bleibt seine Existenz immer eine verborgene, denn er sitzt während der Partie in einem Holzkasten, sodass das Gegenüber den Eindruck gewinnen muss, er spiele tatsächlich mit dem Automaten.

Der „Schachtürke“

Der Protagonist – eine Mischung aus dem Vorbild des historischen „Schachtürken“ des Hofbeamten und Mechanikers Wolfgang von Kempelen (1734-1804) und Günther Grass’ kleinwüchsigem begabten Oscar – zeigt sich als zeitgeschichtlich und literarisch-allegorisch vielfach interpretierbare und hybride Figur. Der in Europa gefertigte Schachroboter, der sogar mit Friedrich II. spielte, war zu seiner Zeit – bis er nach 1840 zur Jahrmarktsattraktion abstieg – ein berühmtes Objekt an absolutistischen Höfen (seine Nachbildung ist heute in Paderborn im Heinz Nixdorf MuseumsForum zu sehen). Edgar Allan Poe, der als der Vater der Detektivgeschichte gilt, wollte später ebenfalls das Geheimnis um den rätselhaften Maschinenmenschen ergründen (siehe dazu Tom Standage: „Der Türke“, 2002). Eine weitere Spur führt zu Walter Benjamin, der den „Schachtürken“ in seinen „Thesen zur Geschichte“ als Allegorie des Bezugs zwischen Marxismus und Theologie wahrnimmt.

Übrigens existiert auch der Elefant in mechanischer Form – der englische Automatenbauer James Cox (um 1723-1800) schuf ein mit Perlen und Edelsteinen besetztes 2,5 m großes Exemplar. Während der englische Elefant sich kostbar darstellt, ist er in Ogawas Version ein außerordentlich bescheidenes Tier, das seine Beschränkung klaglos hinnimmt und die Wochenenden oft einsam im Regen stehend verbringt.

Poetisches Schach

Ebenso wie der Fall des auf einen kleinen Raum fixierten Elefanten oder des beleibten ehemaligen Busfahrers, der seinen Hausbus kaum mehr verlässt, fasziniert den Knaben die Konzentration von Kraft auf minimalem Platz. Körperlich führen dies die beiden genannten vor, das Schachbrett vermag es jedoch, ungeheure Geistes- und Imaginationskräfte auf einen noch kleineren Punkt zu konzentrieren. Dergestalt gerät es zur Gleichung für die Unendlichkeit des Universums. Der einzelne Denker versucht, dieser Komplexität mit seinem Spiel gerecht zu werden, und zeigt mit seiner Spielmelodie, die in Notationen aufbewahrt wird, wie kunstvoll er ein Schach mit seinen individuellen Zügen zum Ausdruck bringen kann.

Ogawas junger Schachmeister entwickelt eine eigene Poesie, verschmilzt förmlich mit dem Automaten und begeistert die Partner, die mit ihm das Brett teilen. Er tritt an den seltsamsten Örtlichkeiten auf, so zum Beispiel in einem Schachklub im Untergeschoss eines vornehmen alten Hotels oder als Figurenlenker beim Lebendschach des „Klubs am Grunde des Meeres“ − auf dem Fließenboden eines alten Schwimmbeckens. Am Ende des Berichts, der das Leben des Jungen nachzeichnet, welcher sein Moratorium des engen Raums nicht verlassen will – psychoanalytisch zu deuten als Regression in den Uterus der kaum gekannten Mutter –, gelangt er in ein Seniorenstift in den Bergen.

In der Seniorenresidenz

„Größerwerden ist eine Tragödie“, erkennt der Junge, als er in der Residenz „Etüde“ ankommt. Seine Aufgabe dort ist es aber ohnehin nicht zu wachsen, sondern als Nachtspieler zu wirken, der den schlaflosen Senioren hilft, die langen Stunden der Dunkelheit einigermaßen angenehm mit ihrem Lieblingsspiel zu verbringen. Er eignet sich seinerseits von den Alten manchen Zug und manche Einstellung an, die deren Spiel zugrunde liegt. Auch erfährt er, dass die Kommunikation durch Sprache überbewertet wird und dass erst der Verzicht auf egoistische Antriebe die Perfektion des Spiels gewährt. Am Ende der Geschichte lernt er das Schweigen, die tiefe Stille kennen, und wir erfahren, wie seine Schachkompositionen der Nachwelt in Teilen überliefert wurden.

Überfüllung im Retroparadies

Ogawa staffiert also erneut mit Fantasie und merkwürdigen Charakteren ein geheimnisvolles Kabinettstück aus. Man kann den vielen Spuren, die sie gelegt hat, beinahe nicht mehr folgen: Da ist der Moratoriumsmodus als Gefühlskulisse, die angedeuteten historischen Bezüge und Weisheitslehren, die seltsamen Orte, Häuser und Gerätschaften, die sie beschreibt – insgesamt ein beachtliches Assoziationsfeld.

Die Motive der Vergänglichkeit, des Todes und der Auslöschung des Ich erweisen sich indes als ebenso allgegenwärtig, wie sie doch auch überstrapaziert wirken. Als Kuriositätenkabinett gedacht, zeigt sich Ogawas Text ziemlich vollgestopft. Der Eindruck chronischer Überfüllung mag künstlerische Absicht sein, dennoch kommt letztlich Zweifel an der Komposition der versammelten Seltsamkeiten und der mit ihnen vermittelten Botschaften auf. Wer mit Ogawas Welt vertraut ist und sie schätzt, wird die hier entworfenen Bilder genießen. Der weniger begeisterte Leser mag sich leicht irritiert fragen, ob das Buch aus der Hand der Autorin stammt oder ob nicht vielleicht ein von ihr programmierter Schreibautomat da einen ganz passablen Text produziert hat, dem man allerdings das Retortenhafte anmerken kann.

Titelbild

Yoko Ogawa: Schwimmen mit Elefanten. Roman.
Übersetzt aus dem Japanischen von Sabine Mangold.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2013.
318 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783954380138

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