Von der Krankheit zum Wohlbefinden

Tanja Reiffenraths „Memoirs of Well-Being“ untersucht autobiographische Texte über körperliche Abweichungen vom ‚Normzustand‘

Von Philipp SchmerheimRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Schmerheim

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist einer der auffälligsten Trends des gegenwärtigen geisteswissenschaftlichen Diskurses: Literatur-, Medien- und KulturwissenschaftlerInnen beschäftigen sich wieder zunehmend mit der Darstellung von Krankheit und Behinderung in fiktionalen und non-fiktionalen Erzählmedien, sichtbar auch an den Sonderausgaben, die Journals wie Diegesis oder kjl&m dem Thema widmen. Damit reagiert die Forschung auf den Boom an Krankheits- und Behinderungsnarrativen auf den Bestsellerlisten der vergangenen Jahre, stellvertretend genannt seien hier John Greens The Fault in Our Stars (Das Schicksal ist ein mieser Verräter), Raquel J. Palacios Wonder (Wunder) und Andreas Steinhöfels Rico, Oskar und die Tieferschatten. Allerdings kann man durchaus fragen, ob dieser Boom tatsächlich auf eine Zunahme entsprechender Veröffentlichungen zurückzuführen ist oder eher auf geschicktes Verlagsmarketing, denn schließlich sind Krankheit und auch Behinderung schon länger Motive der deutsch- und englischsprachigen Literaturgeschichte, man denke nur an das Werk von Thomas Mann oder an die Krankheitsnarrative der viktorianischen Literatur.

Unbestreitbar hat sich aber der gesellschaftliche Blick auf Behinderung und chronische Erkrankungen in den vergangenen Jahren verändert, nicht zuletzt infolge der schrittweisen Implementierung der UN-Behindertenrechtskonvention, mit der Behindertenrechte global festgeschrieben und dadurch zumindest im Ansatz die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung als selbstbestimmte, nicht stigmatisierte Individuen gefördert werden soll.

In ihrer im Rahmen der Reihe „Body Cultures“ veröffentlichten amerikanistischen Doktorarbeit Memoirs of Well-Being. Rewriting Discourses of Illness and Disability untersucht Tanja Reiffenrath einen Teilbereich von Behinderungs- und Krankheitserzählungen, für den sie den Begriff der „memoirs of well-being“ prägt. Die unter diesem „subgenre of the illness and disability memoir“ subsumierten zeitgenössischen autobiographischen Texte thematisieren wahlweise das Leben mit unterschiedlichen körperlichen Beeinträchtigungen bzw. den mit diesen verbundenen Heilungs- bzw. Anpassungsprozess; und sie tun dies, indem sie Reiffenrath zufolge die gerade in der US-amerikanischen Gesellschaft virulenten dichotomen Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen „health“ und „illness“ aufbrechen und hinterfragen: Den AutorInnen der von Reiffenrath untersuchten Texte gehe es nicht um die Wiederherstellung eines angestrebten idealen Gesundheitszustands, sondern darum, selbstaffirmativ mit der jeweiligen Beeinträchtigung umzugehen und ein „concept of disabled identity and bodily difference [zu finden] in which pride and well-being powerfully resonate.“ Kurz: Die Texte argumentieren, dass well-being, ein Begriff, der sich mit „Wohlbefinden“ übersetzen lässt, nicht von Gesund-Sein im engeren Sinne abhängt, sondern dass es sehr wohl möglich ist, mit einem wie auch immer beeinträchtigten Körper ein erfülltes Leben zu führen – eine direkte Wendung gegen die Deutungshoheit biomedizinischer Ansätze, die Gesundheit als „absence of disease“ definieren und damit faktisch abweichende geistig-körperliche Verfassungen pathologisieren.

Damit ist Reiffenraths analytische Aufgabe definiert:

I argue that by means of recurring motifs, themes, and plot structures, memoirs of well-being challenge the traditional notion of health, as well as the authority of cultural and scientific discourses to account for their writers’ experiences. The narratives under analysis thus blur the boundaries between health and illness/disability as their writers may heal, even in the face of a persisting affliction.

Reiffenrath geht es dabei spezifisch um die subjektive, qualitative Perspektive der von Krankheit/Behinderung betroffenen Individuen, nicht um diejenige anderer davon Betroffener.

Das Buch ist zweigeteilt: im theoretischen Teil der Arbeit gibt Reiffenrath einen Überblick über zeitgenössische Krankheitsnarrative und entwickelt den begrifflichen Rahmen, um diese unter dem bereits skizzierten Aspekt des Wohlbefindens zu diskutieren. Der zweite Teil wendet sich dann fünf Fallstudien zu. Bei den untersuchten Werken handelt es sich um Publikationen von professionellen Autorinnen und Autoren ab den 1980er-Jahren, die jeweils andere Formen physischer Erkrankung oder Beeinträchtigung fokussieren. Die narrative Umsetzung dieser Themenschwerpunkte und deren Positionierung im Disability-Diskurs stehen im Zentrum von Reiffenraths Analyse:

So ist Audre Lordes 1980 erschienenes The Cancer Journals eine auf Tagebucheintragungen der Autorin beruhende Auseinandersetzung mit ihrer Brustkrebserkrankung, die kritisch die Fixierung des (damaligen) US-amerikanischen Gesundheitssystems auf die kosmetische ‚Wiederherstellung‘ der Weiblichkeit von brustamputierten Frauen durch rekonstruktive Chirurgie hinterfragt. Mit Lordes „ampu-narration“  setzt ein Prozess der Politisierung von Patienten ein, der in den USA dazu beiträgt, die Deutungshoheit über Krankheit und Gesundheit ein Stück weit aus den Händen der professionellen Mediziner-Gemeinschaft zu nehmen und dem subjektiven Krankheitserlebnis mehr Gehör zu schenken.

Die Patientenperspektive steht auch im Zentrum von Oliver Sacks’ autobiographischem Bericht A Leg to Stand On (1984), den Reiffenrath im fünften Kapitel untersucht. Der berühmte Neurologe beschreibt in dem Buch seine Rekonvaleszenz nach einem Wanderunfall in Norwegen, was ihm deutlich die unterschiedlichen Perspektiven und das Machtgefälle zwischen Patienten und behandelnden Medizinern vor Augen führte – und dabei vor allem, dass die bloße Reparatur einer Körperverletzung (in Sacks’ Fall ein kaputtes Bein) aus Patientensicht noch nicht notwendigerweise Heilung bedeutet.

Die Behindertenrechtlerin Simi Linton spitzt in ihrer Autobiographie My Body Politic (2006) Lordes politisierte Perspektive auf den Umgang mit Behinderung zu: Linton, die seit einem Autounfall 1971 im Rollstuhl sitzt, weist entschieden einen rein medizinischen Begriff von Behinderung zurück und kämpft dafür, die individuelle Perspektive von behinderten Menschen anzuerkennen – und Behinderung somit auch als besondere Lebensweise zu akzeptieren, die mithilfe entsprechender gesetzgeberischer Maßnahmen flankiert und ermöglicht wird.

Kenny Fries’ 2007 veröffentlichtes Buch The History of My Shoes and the Evolution of Darwin’s Theory (2007) diskutiert Behinderung wiederum nicht aus behindertenpolitischer Perspektive, sondern im Rahmen der Darwin’schen Evolutionstheorie: Fries, der ohne Wadenbeinknochen geboren wurde und nur mithilfe von Spezialschuhen laufen kann, deutet Behinderung im Rahmen Darwin’scher Begriffe von „Variation“ und „Anpassung“ und argumentiert, dass das, was gemeinhin als Behinderung oder körperliche Beeinträchtigung verstanden wird, im Darwin’schen Sinne als evolutionäre Variation verstanden werden kann, die sich in spezifischen Kontexten auch als Standortvorteil erweisen kann.

Die letzte Fallstudie Reiffenraths beschäftigt sich mit Siri Hustvedts 2010 erschienenem Sachbuch The Shaking Woman or The History of my Nerves, in dem die bekannte Schriftstellerin ihre rätselhaften Zitteranfälle reflektiert. Diese schicken sie erst auf eine erfolglose Odyssee durch die Medizinerwelt, bevor sie „arrives at the conclusion that she cannot transcend her mysterious and unresolved illness and finds well-being in its embrace.“

Reiffenrath skizziert mit ihren Beispielanalysen ein Kaleidoskop unterschiedlicher subjektiver Zugänge zu einem Leben mit körperlichen Abweichungen von einem implizierten ‚Normalzustand‘. Ungeachtet der Unterschiede identifiziert sie gemeinsame narratostrukturelle Merkmale. Besonders auffällig: allen Texten gemeinsam ist ein Bewusstsein dafür, dass Individualität und Subjektivität von Verkörperung (Embodiment) geprägt sind. Auch handelt es sich jeweils um Erzählungen, die sich einer „closure“ verweigern, einer narrativen Abrundung, die in Mainstream-Narrativen einen wie auch immer gearteten Endzustand des Gesund-Seins als ‚nicht krank sein‘ beinhalten würde.

Der soziopolitische Anspruch von Memoirs of Well-Being im Gewand einer narratologischen Untersuchung ist unverkennbar: Reiffenrath will im Zuge der Fallstudien zeigen, wie die literarischen Aneignungen von Krankheits- und Gesundungsprozessen die Deutungshoheit der Medizin von Gesundheit als „commodity“ anfechten und dadurch das zeitgenössische Verständnis von Wohlbefinden vertiefen und erweitern – und dabei nebenbei die Kraft nonfiktionaler wie fiktionaler literarischer Texte demonstrieren. 

Die Autorin kennt sich offensichtlich im Disability-Diskurs aus, sichtbar an den zahlreichen Ausflügen in die Theoriediskurse der Disability Studies. Doch gerade diese teils ausführlichen Einschübe erschweren bisweilen die Lektüre des jeweiligen Kapitels und Argumentationsfadens. Schade ist auch, dass das Buch zu Redundanzen neigt: Letztendlich werden, unterschiedlich perspektiviert und formuliert, die immer gleichen Hauptaussagen durchgearbeitet: Texte aus dem Subgenre der „memoir of well-being“ hinterfragen eine strikte Gegenüberstellung von Gesundsein und Kranksein, indem sie das Leben mit (chronischen) Erkrankungen oder Behinderungen als eigenständige individuelle Lebensweise bzw. Lebensverfassung darstellen und damit als Korrektiv zu einem dualistischen Paradigma dienen, demzufolge der menschliche Körper ein Art Fleischmaschine ist, deren Fehlfunktionen mithilfe mechanistischer Eingriffe korrigiert werden können. Eine Straffung der einzelnen Kapitel hätte dem Buch wohl gutgetan. Allerdings: Wer zu literarischen Darstellungen von Krankheit und Behinderung forscht, findet in Reiffenraths Untersuchung eine Fülle von Ideen und Diskursen zum Thema, und das Schlagwort „memoirs of well-being“ dürfte den zukünftigen narratologischen Diskurs der Disability Studies bereichern.

Titelbild

Tanja Reiffenrath: Memoirs of Well-Being. Rewriting Discourses of Illness and Disability.
Aus der Reihe KörperKulturen.
Transcript Verlag, Bielefeld 2016.
320 Seiten, 39,99 EUR.
ISBN-13: 9783837635461

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