Eine interessante Sicht auf den „Deutschen Herbst“

Petra Terhoeven legt eine kompakte Geschichte terroristischer Gewalt in der Roten Armee Fraktion vor

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Selten ist so viel über so wenige geschrieben worden“ – so bilanzierte bereits 1987 der Terrorismusexperte Walter Laqueur die Geschichte der „Roten Armee Fraktion“ (RAF). Nun zum 40. Jahrestag des „Deutschen Herbstes“ erscheinen weitere Publikationen. In der Reihe „Wissen“ des C.H. Beck Verlages legt Petra Terhoeven, Professorin für Europäische Kultur- und Zeitgeschichte an der Universität Göttingen, eine Chronik der Ereignisse vor. Darüber hinaus geht sie anhand der aktuellen Forschung der Frage nach, wie und warum aus den Stadtguerilla-Experimenten einer kleinen Minderheit radikalisierter „68er“ eine terroristische Gruppe hervorging.

In einem umfangreichen Prolog beleuchtet die Autorin zunächst die RAF im Kontext von drei Themenkomplexen: 1. der Nachgeschichte des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik, 2. der Geschichte der internationalen 68er-Bewegung und 3. der Geschichte des modernen Terrorismus. Die folgenden sechs Kapitel erzählen nicht nur die RAF-Geschichte aus den verschiedensten Perspektiven, sondern setzen sich auch mit dem Phänomen des deutschen Terrorismus auseinander. In „Die Gewalt als Ab- und Irrweg der 68er-Bewegung“ führt die Frage nach dem „Entstehungsort“ in die „Frontstadt“ des Kalten Krieges – nach West-Berlin. Das erste Opfer war der unbewaffnete Student Benno Ohnesorg, womit die Studentenrevolte zur Massenbewegung wurde. Rhetorische Aufrüstung ergänzte das Radikalisierungspotential, das sich dann in Kaufhausbränden und der Baader-Befreiung äußerte. Letztere gilt als Geburtsstunde der linksextremen Terrororganisation Rote Armee Fraktion (RAF).

Anschließend analysiert Terhoeven das RAF-Führungsquartett (Mahler, Baader, Ensslin und Meinhof), das der RAF den Anstrich einer streng marxistisch-leninistischen Kaderorganisation gab. Hier konstituierte sich eine Gruppe, die keine tatenlosen Intellektuellen sein wollten. Ihre Vorbilder waren „Vietnam, Palästina, Kuba oder Black-Power“. Der bewaffnete Widerstand führte zum „Konzept Stadtguerilla“ – zu blutigen Zusammenstößen mit der Polizei, wobei es Teil des RAF-Kalküls war, dass der Staat mit Härte auf ihre Aktionen reagieren würde.

Diese nicht ausbleibenden Reaktionen von Staat und Gesellschaft zeichnet Terhoeven in dem Kapitel „Ein Krieg von 6 gegen 60 Millionen“ (1972-1976) nach, wobei die damaligen Regierungsparteien SPD und FDP von einer Union vor sich her getrieben wurden, die eine Chance witterte, verlorengegangene Macht zurückzugewinnen. Nach der Verhaftung der RAF-Führungsriege wurden die Gefangenen in Vollzugsanstalten quer über die Bundesrepublik verteilt. Das rief die zweite RAF-„Generation“ auf den Plan, die den eingesperrten Kader „retten“ wollte. Der Umgang mit dem Terrorismus führte zu einer poltischen Polarisierung. Terhoeven geht hier auch kritisch auf die Rolle der BILD-Zeitung und der Springer-Presse sowie die moralische Empörung Heinrich Bölls ein. Die Bundesrepublik stand am Scheideweg. Es folgten die Lorenz-Entführung, der Stammheim-Prozess und die Anti-Terror-Gesetze.

Die „Offensive 77“ oder der „Deutsche Herbst“ standen jedoch noch bevor. Nach einer Pause von fast zwei Jahren kam der Terrorismus in die Bundesrepublik zurück. Die Morde an dem Generalbundesanwalt Siegfried Buback, an dem Vorstandssprecher der Dresdner Bank Jürgen Ponto, die Entführung des BDA-Präsidenten Hanns Martin Schleyer sowie die Kaperung der „Landshut“ waren die traurigen Höhepunkte, mit denen sich die Autorin aus heutiger Sicht auseinandersetzt – darunter die sogenannte „Todesnacht von Stammheim“, die sie im internationalen Kontext betrachtet. Das Kapitel „Letzte Ausfahrt Ost-Berlin“ geht auch kurz auf das Engagement des SED-Staates (der Stasi) zugunsten der RAF ein. Die dritte RAF-Generation verfolgte dann ab Anfang der 1980er Jahre eine Internationalisierung des Terrorismus. Auf ihr Konto gingen fünf weitere Morde.

Im Abschlusskapitel „Mythos RAF“ setzt sich Terhoeven schließlich mit der Aufarbeitung des Linksterrorismus in Politik und Gesellschaft auseinander, die mit heftigen Kontroversen quer durch die Parteien und die Bevölkerung geführt wurde – mit Plädoyers für Begnadigung (mit oder ohne Reuebekundung) oder dem Wunsch nach historischer Wahrheit. Das Resümee der Autorin in einem Epilog lautet: Der Linksterrorismus war eine gescheiterte Selbstbefreiung.

Aus vielen Mosaiksteinen ergibt sich auf den 128 Seiten ein kompaktes Bild nicht nur der Ereignisse von 1977, sondern auch von deren Vorgeschichte und Nachwehen. Das alles prägt bis heute die Geschichte der Bundesrepublik. In Anlehnung an jüngere Forschungen wird Terrorismus auch als eine Kommunikationsstrategie dargestellt, denn die RAF hat ihre größte Wirkung nicht durch ihre mörderischen Taten, sondern durch ihre Propaganda erreicht. Terhoeven, die nach zehnjähriger Forschungsarbeit schon zahlreiche Publikationen zum Thema „Deutscher Herbst“ veröffentlicht hat, räumt dabei mit der „morbiden Faszination“ auf, die von der RAF ausging, mit dem von ihr genährten Opferkult und mit der Selbststilisierung der Täter zu antifaschistischen Widerstandskämpfern. Auch die  nationalen Komponenten des linksgerichteten Terrorismus in Westeuropa spielen in ihren Überlegungen eine wichtige Rolle. Die terroristischen Bedrohungen unserer Tage machen mehr als deutlich, wie wichtig und aktuell eine Auseinandersetzung mit diesem Thema ist.

Titelbild

Petra Terhoeven: Die Rote Armee Fraktion. Eine Geschichte terroristischer Gewalt.
Verlag C.H.Beck, München 2017.
128 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783406712357

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