„Dieses Land ist verrückt geworden“

Mit dem Roman „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ zeichnet José Eduardo Agualusa die Geschichte Angolas nach

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Angola, 1975, Beginn der Unabhängigkeit. Sofort entflammten die Kämpfe zwischen Kommunisten, kubanischen Guerrilleros und den rivalisierenden Gruppierungen der Befreiungskämpfer Angolas. Nahezu alle Portugiesen, die ehemaligen Kolonialherren, verließen das Land; zur gleichen Zeit kehrten einige politisch Verfolgte aus dem Exil zurück. Jeder gegen Jeden hieß die neue Devise, es war ein brutaler Bürgerkrieg. Unaufhörlich wechselten die Fronten zwischen portugiesischen Soldaten, Söldnern und den Kämpfern der drei Befreiungsfronten. Dazu kamen die Mitläufer, die immer versuchten, auf der Seite der jeweiligen Sieger zu stehen. Ein nahezu undurchdringliches Gewirr und für viele ein Rad der Fortuna: Es machte aus gefolterten Gefängnisinsassen reiche Bürger, aus mächtigen Politikern arme Überlebende. Fast dreißig Jahre lang schienen das Land und vor allem seine Hauptstadt Luanda verurteilt, in einer nicht endenden Spirale der Gewalt zu leben.

Wie kann man das erzählen, ohne den Leser mit Gewalt und Wahnsinn zu überfordern? José Eduardo Agualusa erzählt eine unglaubliche und dennoch fast wahre Geschichte: Die portugiesische Protagonistin, Ludovica Fernandes Manto, die seit der Kindheit unter Agoraphobie litt und keinen Schritt allein aus dem Haus wagte, hatte Angst vor Fremden, und nach einem traumatischen Zwischenfall in der Heimat, „Unfall“ genannt, hatte sich ihre Krankheit noch verstärkt. Ihre Schwester Odete war nach dem Tod der Eltern die einzige Bezugsperson, und so zog sie nach deren Heirat mit einem wohlhabenden Bergbauingenieur nach Luanda. Als der Schwager und Odete eines Abends von einer Abschiedsparty vor der geplanten Rückreise nicht nach Hause kamen, blieb sie allein zurück und lebte seitdem fast dreißig Jahre lang von der Außenwelt abgeschlossen in der großzügigen Dachwohnung im „Haus der Benedeiten“: dort residierten die reichsten Einwohner.

Wenige Tage später versuchten ein paar Diebe in ihre Wohnung einzubrechen, aber Ludo hatte eine Waffe gefunden und tötete – eher aus Versehen – einen Einbrecher durch das Schlüsselloch, den sie anschließend auf der Terrasse im geplanten Schwimmbecken verscharrte. Danach mauerte sie sich in der Wohnung ein, um weitere Überfälle zu verhindern. Insistente Telefondrohungen nach der Herausgabe der „Steine“ endeten, als die Leitung kaputt ging. Der Schwager hatte nämlich ein Säckchen mit Diamanten versteckt, das sie irgendwann fand. Damit lockte sie Brieftauben auf der Terrasse an, die sie auf der Terrasse fing, um den Küchenzettel zu verbessern. Bananen und Granatäpfel wuchsen auf dem Dach, und Ludo ernährte sich und den Hund Fantasma zunächst mit den überreichlich vorhandenen Dosenvorräten. Eines Tages gelang es ihr, ein Huhn aus der Wohnung unter ihr zu fangen, wo inzwischen arme Bewohner eingezogen waren und auf dem Nobelbalkon ihren Hühnerstall errichtet hatten. Obwohl begeisterte Leserin, verfeuerte sie nach und nach die Bücher der Bibliothek und fast das gesamte Mobiliar, schrieb ein Tagebuch – von dem wir Auszüge lesen – und vergaß ihre Umwelt mehr und mehr. 

Agualusa gelingt es, die Schicksale einzelner Personen so einfühlsam und bildstark einzufangen, dass man die Wirren der Zeit gespannt mitverfolgt, dass man mit den Verfolgten bangt, wenn sie gefoltert werden und wie durch Wunderhand dennoch überleben, dass man das couragierte Verhalten einer Krankenschwester oder eines Journalisten bewundert, dass man kaum glauben mag, wie Menschen „verschwinden“ bzw. straflos „beseitigt“ werden. Lange Zeit existierte keine staatliche Gewalt, die über ausreichende Mittel und Polizisten verfügt hätte, um eine rechtsstaatliche Ordnung auch nur ansatzweise durchzusetzen.

Schließlich fanden sich unbeabsichtigt Personen der einzelnen Erzählstränge im Haus von Ludovica wieder, als es saniert wurde und ein kleiner Junge durch das Gerüst kletterte, sich bald danach mit der sehr dünn gewordenen Ludo anfreundete und fortan mit der geistig offensichtlich verwirrten alten Frau zusammenlebte. Auch sein Schicksal ist symptomatisch für die Zeit. Bei den Bauarbeiten entdeckten die Arbeiter plötzlich auch die von Ludo gezogene Mauer, rissen sie ab und stellten die Verbindung zur Außenwelt wieder her. Der Autor berichtet weitere erstaunliche Zwischenfälle, die den ungläubigen Leser in den Bann schlagen, und die alle so geschahen (oder so geschehen hätten können), wie z.B. die Taube, die Liebesbriefe beförderte oder was mit den Diamanten passierte, die Ludo damals gefunden hatte und die noch immer zurückverlangt werden.

Das Lebensrätsel von Ludo wird behutsam erklärt und deckt weitere Abgründe auf, Dinge, die sie allesamt vergessen möchte. Auch in Luanda möchten manche Menschen lieber in der „guten alten Zeit“ leben, erkennen die Unabhängigkeit nicht an und reden in der Kneipe von kommenden Umstürzen. Die Versprechungen der Revolutionäre und Befreiungspolitiker erweisen sich bis heute als hohl: Unverändert erleiden viele Menschen gewaltsames Unrecht, und die große Mehrheit der Bevölkerung lebt in Armut. Der Autor behauptet, dass das Erzählte Fiktion sei, aber der Leser darf zu Recht vermuten, dass vieles sich vermutlich genau so zugetragen hat, wie es berichtet wird. All das ergibt ein beeindruckendes Bild aus unruhigen Zeiten. Ludos Tagebücher halfen Agualusa, nicht nur ihr Schicksal, sondern auch sein Land besser zu verstehen, das aus den vielen blutigen Kämpfen entstand. Ludovica starb im Oktober 2010 in Luanda im Alter von 85 Jahren.

Das „Haus der Benedeiten“ erfuhr ein ähnliches Schicksal wie Angola in den dreißig Jahren nach der Unabhängigkeit: Zunächst mussten seine wohlhabenden Bewohner fliehen, arme Neuankömmlinge zogen ein, das Gebäude wurde heruntergewirtschaftet und schließlich von einem Neureichen mit vormals revolutionären Idealen erworben und wieder in Luxusappartements umgewandelt, die von den neuen Millionären bewohnt werden – direkt vor dem Meer und unter dem Himmel, der, wie Ludo nach ihrer Ankunft in Luanda urteilte, „viel größer ist als unserer“.

Aus Einzelschicksalen, Gedichten und Tagebuchfragmenten hat Agualusa ein Mosaikbild geformt, das den schwierigen Weg aus der kolonialen Abhängigkeit in ein freies Land überzeugend und beeindruckend aufzeigt. Ergebnis ist ein wunderbarer Roman, der im Sommer 2017 zu Recht den – von Buchhändlern verliehenen – hochdotierten Dublin Preis erhalten hat, gemeinsam mit dem englischen Übersetzer. Auch der deutsche Übersetzer Michael Kegler verdient ein hohes Lob, denn er hat den abwechslungsreichen Rhythmus wie auch die farbigen, poetischen Bilder großartig ins Deutsche übertragen. Bislang erschienen bei uns drei Romane von José Eduardo Agualusa, die dem Leser weithin unbekannte Welten literarisch faszinierend erschließen. Und: Mit dem Preisgeld stiftet der Autor eine Bibliothek, denn Lesen ist in seinem Land unverändert ein Privileg der Wohlhabenden.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

José Eduardo Agualusa: Eine allgemeine Theorie des Vergessens. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2017.
197 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406713408

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