Das Fest nach der Pest

In „Karpatenkarneval“ begräbt Juri Andruchowytsch die Vergangenheit und lässt den Geist wieder auferstehen

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manche Bücher werden spät übersetzt – und kommen doch gerade zur rechten Zeit. Auch das kann für ihre Qualität sprechen. Juri Andruchowytschs Roman Karpatenkarneval ist hierfür ein treffendes Beispiel. Im ukrainischen Original bereits 1992 erschienen, liegt das Buch nun in der gelungenen deutschen Übertragung von Sabine Stöhr vor. Diese Verspätung mag überraschen, zumal Andruchowytsch im deutschsprachigen Raum schon länger bestens etabliert ist. Über die Gründe für den Verzug könnte man auch trefflich spekulieren, doch sind sie letztlich sekundär. Ungleich spannender erscheint die Frage, auf welche Resonanz der Roman wohl damals bei uns gestoßen wäre und wie wir ihn demgegenüber fast 30 Jahre später lesen.

Karpatenkarneval wurde in der zweiten Hälfte des Jahres 1990 geschrieben. Im Roman lernen wir einen frühen Andruchowytsch kennen, der im Kern allerdings schon beinahe alles enthält, was den Autor auch später noch kennzeichnen wird: die pure Freude an der Sprache – und zwar stets im Verbund mit Ironie, Humor und Groteske –, die Rezeption der Postmoderne, die mannigfaltigen Verweise auf die literarischen Traditionen der Ukraine und Europas, aber auch die galizische Landschaft, ihre mitteleuropäische Vergangenheit sowie schließlich die jüngere ukrainische Geschichte samt dem drückenden Ballast und schwierigen Erbe der Sowjetunion.

Die Romanhandlung setzt Ende Mai 1990 ein: Im idyllischen Karpatenstädtchen Tschortopil wird ein großes Fest vorbereitet, an dem die „Auferstehung des Geistes“ gefeiert werden soll. Man plant eine Mischung aus Wallfahrt, Karneval, Woodstock und Hexensabbat – mindestens! Der Teufel steckt schon im Namen der Ortschaft (ukrainisch: „tschort“), und in der Folge wird tatsächlich nicht immer alles mit rechten Dingen zugehen. Wer will, vernimmt in diesem Toponym aber auch einen leisen Nachhall von Tschornobyl, wo nur wenige Jahre zuvor eine apokalyptische nukleare Katastrophe stattgefunden hat. Die Sowjetunion siecht endgültig dahin, während sich bereits vage eine neue Zeit ankündigt: Das ist eine gleichermaßen chaotische wie kreative und fruchtbare Gemengelage, auf deren Hintergrund das rauschhafte Treiben abläuft. Tschortopil, „rings umgeben von Bergen und Europa“, wird dabei zu einer Art geistigem Mekka, zu einem mythisch-nationalen Ort, ja zu einer axis mundi.

Die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten sind unterdessen in vollem Gang, Besuchermassen strömen nach Tschortopil, die Züge sind überfüllt, die Straßen verstopft. Allenthalben herrscht Party- und Aufbruchsstimmung. Auf unterschiedlichen Wegen streben auch vier ukrainische Freunde, allesamt noch recht junge Dichter, zum Großanlass: Orest Chomsky, nebenbei Rockstar, der gegenwärtig in Leningrad lebt, Rostyk Martofljak, den seine Frau Marta eher widerwillig begleitet, sowie schließlich Jurko Nemyrytsch und Hryts Schtundera. Die vier verfügen durchaus über poetisches Talent und sollen im Rahmen des Kulturprogramms aus ihren Gedichten lesen. Sie sind darüber hinaus auch echte Lebemänner, und so träumen sie im Grunde genommen vor allem von Saufgelagen und amourösen Erlebnissen.

Der Roman wird in der Folge immer nahe an den vier Dichtern dranbleiben, wobei die Perspektive wiederholt wechseln wird, von Figur zu Figur, aber auch von der dritten in die erste oder gar die zweite Person. So entsteht zum einen ein breitgefächertes, äußerst buntes, mitunter auch verwirrendes Stimmungsbild vom Fest. Zum anderen ergibt sich so etwas wie eine Sammlung von Episoden, die auch den Titel Die Abenteuer der vier Helden tragen könnte: Martofljak landet etwa bei einer Prostituierten. Schtundera wird mit der Geschichte seines Vaters konfrontiert, dessen Familie nach dem Krieg aus der Region nach Kasachstan deportiert worden war. Nemyrytsch seinerseits gerät in eine Art Zeitreise und findet sich in einer seltsamen Maskerade auf einem Schloss in einer Epoche wieder, als die Region noch zu Österreich-Ungarn gehörte. Es geraten aber auch weitere seltsame und schräge Figuren ins Blickfeld wie beispielsweise Dr. Frank Popel, Psychiater an einer Privatklinik in der Schweiz. Er hat seine Kindheit in Tschortopil verbracht, lebt aber seit Jahrzehnten im Ausland. Er spricht ein „Vorkriegsmodell“-Ukrainisch und ist einer der Sponsoren des Fests. Ob er gar der Teufel ist?

Andruchowytschs Sprache ist witzig und hochironisch, auch wenn sie sich ernsteren Themen zuwendet. Man kann die Sprache selbst als karnevalistisch bezeichnen: Sie verlacht alles, das Alte wie das Neue. Sie vertauscht das Oben mit dem Unten, mischt Hoch- und Populärkultur und dekonstruiert sowohl die einstigen sowjetischen wie auch die neuen ukrainischen Mythen. Natürlich geht es in diesem Roman auch um die spirituelle Wiedergeburt der Ukraine und des Ukrainischen, doch selbst dies geschieht auf eine spielerische, leichtfüßige Weise. Man hat mit Karpatenkarneval verschiedentlich den Beginn der zeitgenössischen ukrainischen Literatur datiert. Das mag in gewisser Hinsicht durchaus zutreffen: Andruchowytsch geht mit der Sprache überaus lustvoll um und zeigt der ukrainischen Literatur allein schon dadurch ihr Potenzial auf. Auch begräbt er hier gewissermaßen die sowjetische Epoche – die Pest ist vorbei, nun wird gefeiert und auf das Kommende angestoßen. Doch gleichzeitig kippt bei ihm das Ganze keineswegs ins Nationalistische oder ins Hurrapatriotische: Auch allem Ukrainischen begegnet der Autor stets mit einem Augenzwinkern. Das tut dem Roman gut, denn er hätte ansonsten leicht ins Pathetische, ins Weihevolle abgleiten können.

Auf vielfältige Weise erweist Andruchowytsch der Literatur seine Reverenz: Nicht nur thematisiert er immer wieder das dichterische Schaffen der vier Freunde. Literatur ist zudem ein bevorzugtes Diskussionsthema unter den Festgästen. Der Autor überzieht seinen Roman aber auch mit einem feinen Netz an Verweisen auf die Weltliteratur: In Chomskys Spitzname Choma ist die Hauptfigur aus Nikolai Gogols Der Wij versteckt. Der Höllentrubel in Tschortopil und das Auferstehungsmotiv erinnern an Michail Bulgakows Meister und Margarita, in dem der Teufel Moskau heimsucht und in einer Parallelhandlung ebenfalls eine österlich anmutende Geschichte erzählt wird.

Im Titel des ukrainischen Originals, Rekreaziji, finden sich ein paar zusätzliche Hinweise für das Verständnis des Romans. Der Begriff meint zunächst „Wiederherstellung“, „Erholung“, im Weiteren „Pause“ oder „Urlaub“. Mit Blick auf seine lateinischen Wurzeln kann man den Ausdruck aber auch als „Wiedererschaffung“ verstehen. Da er im Plural steht, scheint es legitim, die verschiedenen möglichen Bedeutungen zu addieren: Es geht in Karpatenkarneval um die Pause von oder die Erholung nach der Sowjetunion, zugleich aber auch um das „neue Erschaffen“ oder „Neuerschaffen“ von Mythen, der ukrainischen Sprache und Kultur, ja einer eigentlichen neuen Welt, die aus der Asche der alten erst noch zu entstehen hätte.

Juri Andruchowytschs Roman erzählt von einer Zeit des Übergangs, von einer historischen Wasserscheide, von einer Welt in Bewegung. Die Sowjetunion ist gescheitert, aber sie geistert noch immer als Halbtote durch die Szenerie. Die neue Epoche scheint unter dem Zeichen des Ukrainischen zu stehen, doch ihre Züge zeichnen sich vorerst nur undeutlich ab. Was ist echt, was nur inszeniert? Was ist tatsächlich erlebt und was nur geträumt? Es brodelt im Hexenkessel Tschortopil. Religion, Sprache, Politik, Kultur, Mythos – alles wird miteinander verkocht. Es wird gemischt und umgerührt und probiert. Was aber am Ende tatsächlich herauskommen wird, weiß niemand.

Und damit wären wir wieder am Anfang: Juri Andruchowytschs Karpatenkarneval ist spät übersetzt worden. Fast 30 Jahre sind seitdem ins Land gegangen. Heute wissen wir mehr und können fragen: Hat es mit der Auferstehung geklappt? Die Antwort darauf fällt freilich nicht eindeutig aus. Die ukrainische Sprache und Literatur sind jedenfalls (wieder) lebendig, und dies nicht nur dank Andruchowytsch. Das ist womöglich die beste Nachricht von allen. Die Ukraine hat inzwischen die Unabhängigkeit errungen. Die Geister der Vergangenheit ist man allerdings immer noch nicht losgeworden, und die ukrainische Gesellschaft kämpft weiter um ihren Weg in die Zukunft. Unterdessen ist die Annexion der Krim erfolgt, es begann ein Krieg im Donbas. Das Ende der Geschichte ist nicht eingetreten. Ein Komiker ist gerade eben Präsident der Ukraine geworden: Der Karneval geht weiter. Aber vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Orest Chomsky weiß jedenfalls: „Wir alle haben die freie Wahl. Unfreie Menschen veranstalten keinen freien Karneval.“

Titelbild

Juri Andruchowytsch: Karpatenkarneval.
Übersetzt aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
172 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783518469415

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