Alles andere als Nichts
Der Mela Hartwig gewidmete „Text + Kritik“-Band brilliert mit einigen erhellenden Beiträgen
Von Rolf Löchel
Mela Hartwig zählt zweifellos zu den AutorInnen, die eine große Karriere verdient gehabt hätten. Dass sie ihr versagt blieb, ist wie in so vielen Fällen vor allem der Nazi-Diktatur anzulasten. Immerhin wurden seit Beginn des 21. Jahrhunderts einige ihrer Werke teils neu, teils erstmals aufgelegt. Nun hat ihr die renommierte Zeitschrift Text + Kritik einen Band gewidmet. Seine Beiträge befassen sich zumeist mit einer bestimmten Veröffentlichung der Autorin. Nicht so jedoch der erste und der letzte Text. Diese stammen von Gisela von Wysocki und Vojin Saša Vukadinović. Wysocki fasst Hartwigs gesamtes Œuvre ins Auge. Vukadinović widmet sich der „Urheberin beklemmender bis verstörender Prosa“ als „politische[r] Schriftstellerin“, deren Werke allerdings weit mehr bieten als „politische Warnung[en]“.
Wysocki wiederum erinnert daran, dass Hartwigs Vater nicht nur Kulturphilosoph und Soziologe war, sondern zudem „Ende der 1920er Jahre wegweisende Veröffentlichungen über Themen der Sexualität und der ‚Frauenfrageʻ“ publizierte. Es lässt sich zwar kaum von einem väterlichen Erbe sprechen, das sich in den ersten literarischen Publikationen der Tochter niedergeschlagen habe, denn deren erste literarische Veröffentlichungen erschienen fast zur gleichen Zeit. Doch scheinen die väterlichen Themen in gewisser Weise auch in den „experimentierfreudig[en]“ Frauenfiguren seiner Tochter auf, deren Protagonistinnen sich „angezogen und aufgerieben von fremdem Leben, auf der Suche nach einer wahnhaften Form der Identität“ befinden, wobei die Autorin dem „weibliche Körper“– und nicht selten seiner Sexualität – eine zentrale Rolle zuschreibt und ihm dabei, wie Wysocki formuliert, den „Status eines Zauberstabes übertr[ägt]“.
Zugleich analysiert Wysocki die „Sprengköpfe der Psyche“ in Hartwigs literarischen Werken als „die eigentlichen Gebieter im Leben der Frauen“. Was das Thema Frauenbewegung betrifft, merkt Wysocki an, dass Hartwig „einer feministischen Avantgarde Nimbus verliehen“ hat. All dies ist nicht nur klug und wohldurchdacht, sondern auch originell und treffend formuliert.
In einem gemeinsam verfassten Beitrag beleuchten Walter Erhart und Heinz-Peter Schmiedebach sodann Hartwigs in ihrem Buchdebüt Ekstasen enthaltene Novelle Das Verbrechen, in der nicht etwa die freudsche Brüderhorde, sondern die Tochter den Vater tötet. Das Autorenduo geht ebenfalls auf Hartwigs Darstellungsweise ein und betont, dass die Erzählperspektiven des Textes „irritierende Muster des Ineinandergreifens geschlechtsspezifischer und psychophysischer Aktionen und Reaktionen“ bilden. Dies spiegele das Verhältnis von Tochter und Vater, bei denen es sich nicht etwa um „antagonistische Pole“ handele. Vielmehr offenbare ihre Beziehung „ein Ineinanderverwobensein gegensätzlicher und doch korrespondierender Impulse“.
In ihrer erhellenden Analyse der Novelle gehen Erhart und Schmiedebach zudem auf die Variationsbreite der Bedeutung des in der Geschichte nicht weniger als 25 Mal vorkommenden Begriffs Blut ein. Dabei arbeiten sie heraus, dass dem Lebenssaft nicht nur „hinsichtlich der in der Erzählung vorgeführten medizinisch-psychiatrischen Kontexte“ eine „ganz eigene Erklärungskraft“ zukommt, sondern er zugleich „die entscheidende Erklärungsgrundlage für die besondere inzestuöse und sadomasochistische Begegnung zwischen Vater und Tochter [bildet]“. All das ist sehr instruktiv. Dass Hartwigs Novelle „an die Geschichten von Franz Kafka erinnert“, ist hingegen keine neue Erkenntnis.
Eldi Grubišić Pulišelić liest Hartwigs Roman Aufzeichnungen einer Häßlichen zu Recht als „grundsätzlich[e], tief[e] und scharf[e]“ Kritik an der „gesellschaftlichen Realität“, wie sie die Schriftstellerin in etlichen ihrer Werke übe. Mit den Aufzeichnungen literarisiere Hartwig anhand der in der Weimarer Republik von progressiver Seite propagierten „Neuen Frau“ die „Gefahr der Umsetzung eines gesellschaftlichen Ideals in eine für das Individuum gefährliche und zerstörende Ideologie“, deren „Phantasma“ zu „neue[n] Formen und Inhalte[n] der Ungleichheit der Geschlechter“ geführt habe.
Markus Reitzenstein erkennt in Hartwigs Roman Das Weib ist ein Nichts ebenfalls eine „Dekonstruktion moderner Weiblichkeitsmythen“, wobei sich die „geradezu androgyne Erzählposition“ in den „männlich konnotierten Blick des Betrachters“ einerseits und „die weiblich konnotierte Position des passiven Objekts der Betrachtung“ anderseits „spaltet“. Dabei macht Reitzenstein zwar eine „ironische Zuspitzung weiblicher Klischeebilder der Passivität“ aus, zugleich aber träten in der „passiven Haltung“ der weiblichen Protagonistin auch „immer wieder die positiven Züge“ zutage. Ein Befund der durchaus bedenkenswert ist. Auf mögliche intertextuelle Bezüge zu Frank Wedekinds Drama Lulu oder Parallelen und Unterschiede zwischen den Protagonistinnen von Wedekinds Stück und Hartwigs Roman geht Reitzenstein hingegen nicht ein. Auch dies hätte einigen Erkenntnisgewinn bieten können.
Marjike Box wiederum zeigt anhand des antifaschistischen Romans Inferno, dass die nicht selten vorgebrachte Kritik, Hartwigs Werk sei „überholt“, nicht Stich hält. Mit ihrem „prinzipielle[n] literarhistorische[n] Anachronismus“ hebele Hartwig vielmehr ganz bewusst jede „starre Epochenzuordnung“ aus.
Beschlossen wird der mit seinen gerade einmal 89 Seiten leider viel zu schmale Band mit einem Auszug aus einem unveröffentlichten Romanmanuskript Hartwigs. Außerdem bietet er eine Auswahlbibliographie und einen Abriss des Lebens der Autorin.
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