Auf den Fersen der Gegenwart
Dieter Kühns „Ausblicke vom Fesselballon“ erzählt vom Leben, Leiden und den Zeitverhältnissen
Von Werner Jung
Aus dem Nachlass des im Jahr 2015 verstorbenen Schriftstellers Dieter Kühn (Jg. 1935) herausgekommen ist nun dieser Roman, an dem – nach dem anrührenden biographischen Bericht von Kühns Partnerin Olga Zoller, der dem Roman beigefügt worden ist – Kühn buchstäblich bis zum Tod gearbeitet hat. Und man kann auch als Leserin und Leser diesen Eindruck gewinnen, wenn Kühn den Erzähler seiner Geschichte, die in den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts angesiedelt ist, psychosomatische Krankheitsbilder beschreiben lässt, die durchaus auch bis an die Schmerzgrenze dessen reichen, was der krebskranke Autor Kühn hat ertragen müssen: „Oberkörper auf die Oberschenkel, Schulterblätter an die Lehne, Oberkörper fest auf die Oberschenkel: den Schmerz weich kneten. Lässt sich aber nicht weich kneten, hat sich in die Magenwände eingefressen, frisst sich tiefer ein.“
Kühns Roman kreist um den Lehrer Lothar Bremer, der an einem Hürther Gymnasium u. a. Deutsch unterrichtet, mit einer Simultandolmetscherin verheiratet ist, die stets auf Reisen zu irgendwelchen internationalen Konferenzen ist, eine Tochter hat und dessen Familienleben nur noch auf einer Schwundstufe stattfindet. Kaum verwunderlich, dass er rundum unzufrieden ist mit seiner Lebenssituation. Er steckt tief in seinem Alltag fest, sehnt sich ständig – damit ist diese Figur ein ferner Nachhall all der traurigen Protagonisten aus dem Jahrzehnt der ‚Neuen Subjektivität‘ aus den 70er Jahren, all dieser ‚ausgebrannten Lebensprofis‘, wie es schlagend einmal bei Nicolas Born heißt – nach dem Aus- und neuen Aufbruch. Wie auch die Freunde und Bekannten, etwa der nirgendwo so richtig angekommene Privatdozent für Geschichte an der Kölner Universität, der am Ende verzweifelt, aber doch mit festem Vorsatz Firmenhistorien schreibt, oder der Ingenieur von der KFA Jülich oder auch der Vertreter für Lehrmittel.
Dabei lockt der Titel des Romans mindestens auf eine Fährte, bei der man sich als Leser fragen muss, ob sie tatsächlich auch die richtige ist. Denn wiewohl Kühn einerseits eine Art Panorama der Verhältnisse in der Bundesrepublik Anfang der 80er Jahre anbietet (Stichworte: Anti-AKW-Demos, Widerstand gegen die Startbahn West des Frankfurter Flughafens, eine beginnende Sensibilität für Umweltzerstörungen, wie sie massiv im Braunkohlentagebaugebiet im Rheinland stattfinden), fokussiert er sich andererseits doch wieder auf die Lebens- und Leidensgeschichten seiner Protagonistinnen und Protagonisten, schaut genauer auf Kleinigkeiten und Details. Weshalb man den Roman auch treffend als einen des mikroskopischen Blicks bezeichnen könnte. Mithin: von oben und von unten werden die Perspektiven miteinander kurzgeschlossen und verschaltet. Poetologisch von Kühn noch in der raffiniert formulierten Frage verdichtet, wie es auf der letzten Seite des Textes heißt: „Das Wahrnehmen von Gegenwart jeweils auf den Fersen der Gegenwart? Die wahrhaftig flüchtige Erscheinung der Gegenwart?“ – Winkt da nicht tief aus der Ferne des 19. Jahrhunderts Hegels „Furie des Verschwindens“, die, möglicherweise, durch die und in der Literatur und dem Erzählen aufgehalten werden könnte, Mahnung und Warnung zugleich?
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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