Von Wohnen und Wanderschaft
Rainer Maria Rilkes Briefwechsel mit Agnes Therese Brumof
Von Stefan Keppler-Tasaki
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNeue Namen in Rilkes Biografie zu entdecken, ist eine Seltenheit geworden. Zu den zuletzt näher identifizierten Figuren in seinem Vagantenleben gehört etwa Franz Horaček (1851–1909), Rilkes Religionslehrer auf der Militärschule in St. Pölten, der den Zögling mit einigen theologischen Grundkonzepten vertraut machte und ihm die Suggestionskraft der religiösen Sprache demonstrierte. Nun kann man in einer von Achim Aurnhammer, Hans-Jochen Schiewer und Regina D. Schiewer besorgten Briefedition die Grafikerin Agnes Therese Brumof (1893–1987) kennenlernen, die ihre Konnexion zu dem Kultautor bemerkenswert diskret behandelte und bisher noch in keinem Namensregister der Rilke-Forschung auftauchte.
Dabei passt die Tochter des Literaturhistorikers Ludwig Pariser und der Gelegenheitsschriftstellerin Ernestine Pariser, geb. Lichtenstein, ganz ins Bild von Rilkes sozialen Kontakten. Wie bei seinen Freundinnen Mathilde Vollmoeller, Edith von Bonin, Erica von Scheel und Lou Albert-Lasard handelt es sich um eine freiberufliche Künstlerin aus gehobenen Verhältnissen. Gleich Bonin und Albert-Lasard hatte sie ihre Ausbildung an privaten Kunstschulen in München erhalten. Mit dem Namen Brumof, der auf die Urgroßmutter mütterlicherseits zurückgeht, setzte sie sich äußerlich von ihrer Herkunft aus der Industriellenfamilie ab, die an der Luckenwalder Tuchfabrik Tannenbaum, Pariser & Co. beteiligt war. Dass sie neben Buch- und Werbegrafik auch Kostümentwürfe für Tanz und Theater anfertigte, zeigt sie gleichwohl in ‚Tuchfühlung‘ mit dem Familiengeschäft. Zeitweilig lebte sie bei ihrem Onkel Georg Pariser, einem der Firmenleiter, in der Karlstraße (heute Baseler Straße) in Berlin-Lichterfelde. Ein enges Verhältnis bestand zur neun Jahre jüngeren Schwester Hilde Brumof, die in den 1920er Jahren als Erste Solotänzerin am Stadttheater Königsberg und an der Staatsoper Dresden reüssierte.
Rilke lernte Brumof im Winter 1917/18 kennen, noch in der Zeit der Neuorientierung nach dem zweijährigen Zusammensein oder vielmehr „Nicht-allein-bleiben“, wie er sich ausdrückte, mit Albert-Lasard, das im Herbst 1916 endete. Ins Jahr 1918 fallen auch Rilkes Affäre mit Claire Studer (spätere Goll), die abendlichen Treffen mit der Schauspielerin und Anthroposophin Elya Maria Nevar sowie die erste Einladung an die Gräfin Mirbach-Geldern-Egmont in seine „beinah öffentliche Wohnung“; Anfang 1919 erneuerte er außerdem die Beziehung zu Lou Andreas-Salomé. „Es war die letzte Woche wieder ein ziemliches Gedräng bei mir von mehr oder minder durchreisenden Personen“, schrieb er Brumof vor diesem Lebenshintergrund.
Schauplatz ist das München des letzten Kriegs- und des ersten Nachkriegsjahres. Abgeschnitten von seiner Pariser Wohnung und Habe lebte Rilke seit dem 1. August 1914 überwiegend in der Isar-Stadt, in der ihm seine Gönnerin Hertha Koenig zeitweilig ihre Wohnung in der Widenmayerstraße 32 zur Verfügung stellte. Zum Zeitpunkt der ersten Begegnung mit Brumof bewohnte er ein „wohlgewilltes Zimmer“, „verhältnismäßig still und behaglich“, im Grand Hotel Continental, das er Marie von Thurn und Taxis als das „angenehmste hiesige Hôtel“ beschrieb. Als Nachmieter von Egon Freiherr von Ramberg zog er im Mai 1918 in die vierte, oberste Etage des Mietshauses Ainmillerstraße 34, ein repräsentativer Jugendstilbau in Schwabing. Die Wohnung umfasste neben Ess- und Schlafzimmer das „schöne Atelier“ mit Terrasse, von dem Brumof hoffte, dass Rilke es behalten würde. Der Dichter selbst versprach sich von den eigenen Wänden, der Schutzlosigkeit der Hotelexistenz zu entkommen und „den kleinen Nachwuchs meines Eigentums um mich lebendig […] erhalten“ zu können, so heißt es in einem Brief an Katharina Kippenberg. Lou Andreas-Salomé gegenüber beschwor er „liebe eigene alte Möbel, ein paar; nachgewachsene Bücher –, eine ganze Haushaltung“. Beiträge Brumofs zu Rilkes Besitz waren unter anderem eine Ausgabe von Shakespeares Sonetten in der Umdichtung Stefan Georges sowie ein „herrliche[s] Lesezeichen“, eine „goldene Reliquie“, mit der er wie im Schein einer „ewigen Lampe“ lesen zu können glaubte.
Adressen und Wohnverhältnisse, im Zeichen des von Brumof treffend so genannten „Heim-Weh[s]“, bilden den roten Faden der Korrespondenz. Rilkes 15 kurze Schreiben an Brumof von Februar 1918 bis Januar 1919 dienen mehrheitlich der Verabredung „zu ein paar ruhigen Stunden“ bei ihm oder ihr, das heißt in ihrem Atelier in der benachbarten Bauerstraße 18. „Ein Hôtelzimmer ist (ich leide jeden Tag darunter) so gut wie keine Umgebung; so dachte ich, Sie in jener bestimmteren zu sehen, die durch Ihre Arbeit gegeben ist“, schrieb er ihr aus dem Continental. Nach der „Ermüdung“, die ihm „fast tägliches Wohnungsuchen“ bereitet habe, meldete er Mitte Mai: „Nun finden Sie mich in einigen eigenen Räumen, die, so uneingewohnt sie auch noch sind, doch den Vorzug haben, weniger zufällig und von genauerer Umgebung zu sein.“
Im Januar 1919 teilt er ihr mit, dass er sein „ganzes Zimmer umgeräumt“ habe, „zum Guten“, und ihm diese Veränderung Kraft gegeben hätte, seine „vielen Zerstreuungen abzustellen“ und zuhause zu bleiben. Fast gleichzeitig verlassen Rilke und Brumof im Juni 1919 die bayerische Hauptstadt: er zu immer neuen Zufluchtsstätten in der Schweiz, sie zu Stationen in Hamburg, Berlin und Königsberg. Die Frage nach der Adresse und das wiederholte Versinken „im Adressenlosen“ wird auf beiden Seiten zu einem Leitmotiv. Brumofs Briefe erreichen ihn unter anderem im Palazzo Salis in Soglio, dessen historische Einrichtung er ausführlich beschreibt. Die „gräfliche Bibliothek“, ein „altmodisches Zimmer“, gebe ihm das Gefühl, „ins Eigene gekommen zu sein“. Zumindest nicht unpassend findet er das Gut Schönenberg bei Pratteln, auf dem er sich der „‚herrschaftlichen‘ Zimmer […] voll alt ererbten Hausraths“ erfreut. Die Suche nach der richtigen Umgebung – Brumof spricht auch von der „richtige[n] Coulisse“ – ist ihm die Suche nach der „langsamen Besinnung“ und „[r]eine[n] Einsamkeit“. Zwischendurch preist Brumof dem Freund „schöne Räume“ und „alte schöne Herrschaften“ in der Umgebung Hamburgs an, schließlich ein „altfriesisches Häuschen“ auf Sylt. Eine ihrer letzten Mitteilungen betrifft das Felsenschloss, den Torre di Fornillo, des futuristischen Künstlers Gilbert Clavel in Positano am Golf von Salerno.
Wie Rilke unter dem Verlust seiner Pariser Wohnung litt, hatte Brumof zu beklagen, dass ihr in München „zwei Ateliers genommen“ worden seien; offenbar das Rilke bekannte in der Bauerstraße und „ein sehr schönes mit Wohnung“. „Aber diese ewige Wanderschaft wird mir jetzt bald über! Wenn man nichts mehr hat, das einem gehört“, monierte sie im September 1925, während sie zur Zwischenmiete in der Wohnung des Psychoanalytikers Eugen Harnik in Berlin-Charlottenburg lebte. Unter diesen nomadischen Lebensumständen gewannen verbliebene Besitzstücke eine auratische, die Kontinuität des Daseins verbürgende Bedeutung: auf Brumofs Seite ein Flacon, „das silberne Fläschchen“, das sie offenbar von Rilke bekommen hatte, und ein „Haufen ganz erstaunlicher Gedichte von mir als Kind“, auf Rilkes Seite alles, was er aus Paris retten konnte, und das goldbeschwerte Leseband, das Brumof ihm zu Weihnachten 1918 geschenkt hatte.
Noch 1920 bestätigte Rilke der jungen Künstlerin eine „inkommensurable Verbundenheit“, 1923 adressierte er sie als „liebe Freundin“. War dies vielleicht eher taktvoll ausgedrückt, sah sich Brumof in der Rolle, dass „ich Ihnen gegenüber immer die Funktion haben werde, taktlos zu sein“. Die reine Dichterverehrung – „Ach, ewig sind diese Sachen!“, seufzte sie über Der Neuen Gedichte anderer Teil – musste ihr unmodern erscheinen, und so würzte sie sie mit einer zum Teil „kriegerische[n] Stimmung“. Allein die Implikation, dass die Menschen in Rilkes Umfeld bestimmte Funktionen für ihn zu erfüllen hätten, war eine solche Taktlosigkeit. Ebenso die mutmaßliche Charade: „Eine Gräfin, deren Namen mir entfiel, läßt mich durch einen Bekannten um Ihre Adresse bitten. Ich weiß sie selbst nicht! Ich schrieb die letzten Male jedesmal wo anders hin“. Rilkes Bedarf an Mäzeninnen und zugleich an Menschen, vorzugsweise altadligen, „durch die das Vergangene in seinen großen Linien an uns angeschlossen und auf uns bezogen bleibt“ (an Marie von Bunsen), war ihr wohl nicht entgangen.
Der Briefwechsel endet im April 1926 mit der Nachricht Brumofs, dass sie „wieder für eine ganze Weile ohne Adresse“ sei und keine Briefe erhalten könne. Nach Rilkes Tod im Dezember desselben Jahres verzichtete sie darauf, zu dem Erinnerungsschrifttum beizutragen, mit dem sich so viele Bekanntschaften des Dichters in seine Biografie einzuschreiben suchten. Umso verdienstvoller ist die vorliegende Ausgabe, die Hervorragendes bei der Rekonstruktion von Brumofs Lebensweg leistet, nicht zuletzt beim Nachweis ihrer wechselnden Wohnstätten aus Adressbüchern und Melderegistern.
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