Wie wir zu sein haben

James Baldwins grandioser Roman „Giovannis Zimmer“ über schwule Liebe und Scham in einer gelungenen Neuübersetzung

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Haben Romane ein Verfallsdatum? Veralten sie und werden muffig wie das Papier, auf dem sie gedruckt sind? Rangiert ein schwuler Roman aus den 1950er Jahren in Zeiten der Homo-Ehe allenfalls als eine traurige Reminiszenz an eine intolerante Zeit? Als Baldwin vor bald siebzig Jahren in Paris über die Liebe zweier Männer und über das schwule Milieu einer Großstadt schrieb, wird ihm die Provokation bewusst gewesen sein. Zu fragen bliebe jedoch, ob das Thema Liebe sich schon in der Objektwahl erschöpft, ob es also allein um die Provokation ging. In der Hauptsache beschreibt der Roman die Liebe zweier Menschen und deren Scheitern. Liebe ist eine natürliche menschliche Regung, gleich wer da wen liebt. Jede hat ihre eigene Geschichte, aber am Ende „funktioniert“ sie bei Baldwin nicht anders als beispielsweise in Erzählungen einer Jane Austen, eines Henry James oder einer Marguerite Duras. Wäre da bloß nicht, was wir den „gesellschaftlichen Faktor“ nennen wollen. Genau damit landen wir unweigerlich auf vermintem Feld – damals sicherlich zuverlässiger als in scheinbar enttabuisierten Zeiten heute. Dennoch scheitert jene Liebe auch an den Liebenden – und genau hier ist der Roman ganz bei sich selbst.

Deshalb noch einmal gefragt, geht es in Baldwins Roman wirklich nur um das Schwulsein? Wäre es nur das, läsen wir die Geschichte tatsächlich vor allem als Dokument aus einer phobisch-verklemmten Epoche, um hinterher beruhigt festzustellen, wieviel weiter wir in Fragen von Minderheitenrechten, Gleichbehandlung und Antidiskriminierung sind. Aber das ist es nicht, was berührt. Und trotzdem ist das Schwulsein mehr als nur ein dekorativer Hintergrund, es macht die Abgründe tiefer, verworrener. Im Übrigen sind Homophobie und ihre Wirkung auf die Lebensbedingungen keineswegs etwas Gestriges. Jugendliche verwenden „schwul“ noch immer gerne als Schimpfwort. Was mich an dem Buch fesselt, das ist der unerbittliche Blick in die menschliche Psyche. Giovannis Zimmer wird dadurch zum Klassiker wie all jene große Literatur der letzten zweihundert Jahre, in der das Menschsein vermessen, sein spezifisches Gewicht ermittelt wird.

Nicht zu übersehen ist die autobiografische Subebene, denn in jenem metaphorisch aufgewerteten Raum tritt in wechselnden Sprechrollen der Autor selbst auf samt seiner schwulen Amour fou mit dem Schweizer Lucien Happersberger, obschon gut getarnt. Ich denke hier an die große Abschiedsszene: Wer ist hier David, wer Giovanni? „Und meinst du, ich wusste nicht, wenn wir uns geliebt haben, dass du niemanden liebst?“, so Giovannis Vorwurf. „Niemanden! Oder alle – aber nicht mich […].“ Auch die Szene in Guillaumes Bar, in der sich David und Giovanni kennenlernen, läßt an Baldwins Begegnung mit Lucien denken. Insofern mischt sich Bekenntnishaftes in den Roman, gar eine Abrechnung. Das verleiht ihm einen zusätzlichen Reiz als Vexierspiel. Hinzu kommt mit der Neuübersetzung von Miriam Mandelkow eine sprachliche Frische, die freilich nicht vergessen macht, dass hier Menschen aus einer anderen Zeit sprechen im Tonfall antiquierter Hemmungen und Ansichten. Unsere Art, etwas auszudrücken, mag sich wie unser Bewusstsein ändern, nicht aber das Dilemma, wie hilflos und verletzlich uns Scham sein lässt. Auch fand die Übersetzerin für Baldwins poetische Sprachkraft eine gleichermaßen präzise Eindringlichkeit.

Die Flucht jenes jungen weißen Amerikaners namens David erinnert an jene des jungen schwarzen Amerikaners James, der 1948 in Richtung Paris aufbrach. Paris ist ihr Ziel und im Gepäck bringen beide mit, was den einen wie den anderen zur Flucht animiert. Nur werden sie es nicht los, denn sie tragen es in sich. David jedenfalls begreift, dass die Flucht nicht den Ursprung des Dilemmas löst. Wie auch, da sein Schwulsein für ihn nicht aussprechbar ist und „so still und fürchterlich wie eine verwesende Leiche“ auf dem Grund seiner Seele liegt. Für sich und für andere unkenntlich, undurchsichtig bleiben, lautet die Taktik, die zur tragischen Fehlkalkulation wird. „Ich hatte entschieden, im Universum keinen Raum für etwas zu lassen, das mich beschämte und erschreckte.“ Auf diesem Weg wird David zum „Spezialisten der Selbsttäuschung“, wobei sich der Autor wohl selbst im Spiegel sah, als er resümierend feststellt: „Hätte ich auch nur die leiseste Ahnung gehabt, dass das Ich, das ich finden würde, sich als dasselbe Ich entpuppen würde, vor dem ich so lange weggelaufen war, ich glaube, ich wäre zu Hause geblieben. Andererseits wusste ich tief in meinem Herzen wohl ganz genau, was ich tat, als ich das Schiff nach Frankreich bestieg.“

Baldwin ist ein überaus talentierter Menschenbeobachter und gelegentlich gibt er davon etwas an die Figur David ab, wenn jener beispielsweise in Giovannis Gesicht liest, es verrate „Furcht unter seiner Grazie und Großtuerei und ein furchtbares Bedürfnis zu gefallen“, und zwar „so schrecklich, schrecklich schmerzlich, dass ich die Hand ausstrecken wollte, um ihn zu trösten“. Diese Geste erscheint so berührend wie eine andere entlarvend: „Und ich merkte, wie viel es mir bedeutete, dieses Gesicht so erstrahlen lassen zu können. Und dass ich womöglich viel darum gäbe, diese Kraft nicht zu verlieren.“ Doch David verliert sie, wie er sich selbst verliert aus Mangel an Glauben an sich selbst. Schließlich war ihm bewusst geworden: „Das Tier, das Giovanni in mir geweckt hatte, würde sich nie wieder schlafen legen, auch wenn ich eines Tages nicht mehr mit Giovanni zusammen wäre.“ Extreme berühren sich, sagt man. Deshalb ist es von der Liebe zum Hass oft nur ein winziger Schritt, jedenfalls wusste der Autor, dass sich beide aus denselben Wurzeln speisen.

Auffällig, wie gerne Baldwin von Räumen spricht. Das Leben in Giovannis Zimmer, diesem schäbigen Raum, im Parterre eines alten Mietshauses gelegen, mit einem Fenster zum Hof, das Leben darin kommt David vor, als spiele es sich unter dem Meer ab und „über uns floss die Zeit gleichgültig dahin“. In diesem submarinen Exterritorium geschieht Ungeheuerliches, dort werden Leben „umgewälzt“, wie David feststellt: „Ich sollte dieses Zimmer zerstören und Giovanni ein neues, besseres Leben schenken. Dieses Leben konnte nur mein eigenes sein, das, um Giovanni zu verwandeln, erst ein Teil von Giovannis Zimmer werden musste.“ Die Ambivalenz scheint das einzig Sichere zu sein, fliehen zu wollen und gleichzeitig in dem Zimmer eingeschlossen zu sein – „und auf eine Weise wollte ich genau das“.

Man möchte bei den Beschreibungen der beiden ungleichen Männer von Psychogrammen sprechen, wenn dieser Begriff nicht ausgerechnet Überschaubarkeit suggerieren würde, als sei die menschliche Psyche trotz ihrer unsichtbaren Verwerfungen, ihrer sprunghaften Irrationalität etwas klar Gezirkeltes. Doch was sich in Giovannis Zimmer ereignet, in dieser scheinbaren Enge, ist ein ausuferndes Leben. Indem der Autor diese komplizierten und ambivalenten Figuren umkreist, weitet sich der Roman zu einem wirklich großen Kino, das uns am Ende David und seinen Verrat im Breitwand-Cinemascope zeigt. Die Überwältigung verstehe ich nicht als Vorwurf, im Gegenteil. Für mich ist es das beste an literarischer Wirkung, nämlich als Leserin nicht mehr unbeteiligt sein zu können, in eine fremde Geschichte hingezogen zu werden.

Der Schriftsteller und Fotograf Teju Cole, der sich auf Baldwins Spuren begab und jenes Leukerbad in der Schweiz aufsuchte, wo dieser im Familienchalet seines Geliebten Lucien wohnte und den Roman Gehe hin und verkünde es vom Berge schrieb, dieser Teju Cole bemerkt, wie in Baldwins Werk stets „ein Hunger nach Leben spürbar“ wird, dem ganzen Leben. Und so kann es darin nur um alles gehen, um Lust, Leid, Liebe, Humor und Trauer. Diese Botschaft gibt der Autor seinen Lesern gleich am Anfang mit: Man könne sich nicht seine Liebhaber, Freunde und Eltern aussuchen, „das Leben gibt sie und nimmt sie, und die Schwierigkeit liegt darin, zum Leben Ja zu sagen“.

Titelbild

James Baldwin: Giovannis Zimmer.
Mit einem Nachwort von Sasha Marianna Salzmann.
Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow.
dtv Verlag, München 2020.
208 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783423282178

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