Sind Anfänge immer zauberhaft?

Amelie Bendheim stellt medienhistorische Fallstudien zum Romananfang des 13. Jahrhunderts zusammen

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekanntermaßen beginnt auch die längste Reise mit dem ersten Schritt, und das gilt in übertragenem Sinne selbstverständlich auch für literarische Reisen, also zu lesende Texte. Mitunter sind jedoch diese Einstiege so quälend, dass es großer Geduld bedarf, sie zu überstehen, um sich dann dem eigentlichen Ziel – der Erzählung oder dem Roman – annähern und das literarische Produkt auch genießen zu können. Es kommt also auch in besonderem Maße auf den Einstieg an, in vorliegendem Falle: die Anfänge mittelalterlicher Romane. Dass der Haupttitel des Buches – eine Überarbeitung der 2016 vollendeten Dissertation der Autorin – Wechselrahmen lautet, ist nicht lediglich Spielerei mit Erwartungshaltungen, Rezeptionserfahrungen oder der grundlegenden Erkenntnis, dass sich alles im Fluss befinde, sondern von Amelie Bendheim durchaus programmatisch angelegt. So geht es unter anderem auch um Anfangs-Variationen von Romanen, die nicht als ‚Fehler‘ interpretiert werden, sondern denen ein eigenständig-produktiver Aspekt zugestanden wird.

Ausgangspunkt der Argumentation Bendheims ist der Umstand, dass aufgrund einer scheinbaren Konventionalität mittelhochdeutscher Romananfänge diese in der Forschung (zu) wenig Aufmerksamkeit gefunden hätten, also zumindest im expliziteren Sinne kein wirkliches Forschungsthema gewesen seien. Dieser Vernachlässigung soll dementsprechend in den Wechselrahmen entgegengewirkt respektive ein Ende gesetzt werden. Hier spielt die Verortung mittelhochdeutscher Literatur, ihr ‚Sitz im Leben‘, eine Schlüsselrolle. So werden in der semi-oralen Wirklichkeit mittelalterlicher Literatur die variierenden Romananfänge nicht, wie immer wieder im Kontext germanistischer Forschung geäußert, als negative Abweichung, also eine Art ‚Verderbnis‘, gesehen, sondern mit ihnen wird es möglich, Anpassungsleistungen vorzunehmen. Damit fiele diesen Veränderungen eine Art kommunikativer Funktion zu, die zumindest in einer gewissen Bandbreite die Möglichkeit des bedingten Eingehens auf das (lesende oder zuhörende) Publikum bietet.

Amelie Bendheim hat für ihre Analyse drei prominente Romane in den Blick genommen, die sich seinerzeit eines breiten Interesses erfreuten und damit Grundlage für die Vorstellung von den Wechselrahmen beziehungsweise deren Einsatz als kommunikatives Medium bieten konnten. Anhand der Romane Flore und Blanscheflur, Wigalois sowie Wigamur werden über detaillierte Einzelbetrachtungen die Aspekte der wandlungsfähigen und damit zielführenden Romananfänge ausgearbeitet. Das fernere Ziel dieser Untersuchungen ist es jedoch, über den Nachweis der erzähltechnischen und rezeptionslenkenden Funktionen der jeweiligen variierenden ‚Anfangsrahmen‘ hinaus durch Rückschlüsse auf die hochmittelalterliche Rezeptionspraxis Erkenntnisse über die epochenspezifische Wahrnehmung der Welt zu gewinnen.

Die Einleitung des Werks ist gleichermaßen interessant wie ungewöhnlich: Mitnichten führt der Weg, wie das bei vergleichbaren Publikationen üblicherweise der Fall ist, direkt ins Mittelalter, sondern es werden Roman- und Textanfänge gerade aus späteren Epochen herangezogen, was nicht nur verwundert, sondern eben auch recht erfrischend ist. Nachdem bereits das knappe Vorwort mit einem Camus-Zitat eingeleitet wurde, steht für die Einleitung Günter Grass’ Der Butt auf dem Speise- beziehungsweise Leseplan. Auch dies ist ein geschickter Eröffnungszug – weist doch der um den Namen Ilsebill kreisende Textabschnitt eben über den Bezug zum (Volks-)Märchen in eine weiter zurückreichende Vergangenheit sowie auf eine in diesem Falle sicherlich nicht herbeikonstruierte ‚Ur-Oralität‘, die, so die Kernaussage Bendheims, als Spezifikum mittelalterlicher Literatur zumindest in gewisser Hinsicht für die ‚Wechselrahmenhaftigkeit‘ mittelalterlicher Romananfänge verantwortlich zu machen ist.

Nach dem bereits informativen Vorwort und der deutlich umfangreicheren, wenngleich überschaubaren Einleitung werden unter dem programmatischen Oberbegriff „Textanfang und Rahmen“ die weiterführenden Parameter definiert und in ihrer Anwendung auf die Kernfrage(n) weiter ausgeführt. Dabei wird zunächst mit dem Begriff des „bekleideten Texts“ operiert, der eben vom gewählten Anfang ‚bekleidet‘ wird. Folgerichtig wird dies in einer „funktionalen Bestimmung“ weitergeführt, die nochmals die Bedeutung des postulierten Wechselrahmen[s] unterstreicht. Dabei wird zugleich die wesentlichste aller Fragen gestellt: „Wie kommt der Text in den Kopf des Rezipienten?“ Mag diese Frage auf den ersten Blick trivial erscheinen, ist sie – bei genauerer Betrachtung und etwas längerem Nachdenken – doch notwendig für das Begreifen des eigentlichen Phänomens des Lesens. Es geht hier eben nicht nur darum, die Aneinanderreihung von Zeichen und Buchstaben zu ordnen und einen eindeutigen Sinngehalt zu generieren, sondern neben der ersten Informationsebene auch weitere zu entschlüsseln beziehungsweise für sich selbst zu generieren und zu eröffnen.

Die dabei herangezogenen drei Beispieltexte sind dazu angetan, primär die literarische oder literaturgeschichtliche Perspektive einzunehmen, in denen die Wechselrahmen als ein wesentliches Element der gewissermaßen dann dramaturgischen Ausdifferenzierung fungieren. Aber natürlich weist die Auswahl auch auf gesellschaftliche Gegebenheiten und damit kulturgeschichtliche Aspekte hin, die sowohl die literarische Schöpfung inauguriert haben mögen, aber eben auch die Rezeption und damit den Publikumskreis widerspiegeln. Womöglich ist es gerade diese Komplexität, die die Varietäten der Romaneinleitung(en) hervorruft.

Konrad Flecks Flore und Blanscheflur steht hier für die Wertigkeit der Liebe in ihren verschiedenen gesellschaftlichen Dimensionen – oder, anders ausgedrückt, Wirklichkeit und Wirksamkeit innerhalb des Sozialgefüges der höfischen Adelswelt des hohen Mittelalters. Denn durch die mittelhochdeutsche Übertragung des französischen Stoffes wird dieser „durch die spezifische Umgestaltung an ein verändertes Publikum angepasst und bekommt in diesem Zuge ein komplexes Rahmenkonstrukt übergestülpt, das den konventionellen einen Prolog um zwei weitere Prologe ergänzt“. Hier wird erkennbar, dass ein Mittel der Literatur Anwendung findet, durch das eine Adaption an die Hör- und Lesegewohnheiten erfolgen soll; diese sind aber eben soziokulturell bedingt beziehungsweise überformt.

Diese reziproken Prozesse werden auch zumindest implizit von Bendheim festgestellt, die selbstverständlich nicht ‚nur‘ eine Auflistung der unterschiedlichen „Rahmen“, also Prologe, leistet, sondern die Texte weiter sondiert, nicht zuletzt, um mögliche Interdependenzen zwischen den Einleitungen und den ‚Textkernen‘ nachzuweisen. Hierbei wird, so die Autorin, auch der an sich apokryphe Kontext der Vorgeschichte produktiv in den Textfluss eingebaut und ihm vorangestellt, sodass sich sogar pränatale Dimensionen erkennen lassen, die eine Harmonisierung interkultureller Differenzen ermöglichen. Vergleichbare Antagonismen werden auch etwa im ‚Kulturrahmen‘ zu Blanscheflur erkennbar gemacht, der durch entsprechende Bruchlinien gekennzeichnet erscheint.

Und auch der Umstand, dass offenbar nicht jeder locus amoenus als ein „Paradiesgarten“ angesehen werden kann, wird in die Indizienkette eingebaut, wodurch „Modellkollisionen“ wahrgenommen werden können, in denen verschiedene anthropologische Konflikte ausgetragen werden. Dies – so die Kernaussage – findet vornehmlich im Romananfang, also dem Wechselrahmen als zielleitendem Informationsraum gewissermaßen, statt, denn „in Flecks Roman schließt sich dieser [unbestimmt-unscharfe] Raum mit dem Beginn der Haupterzählung dann wieder, indem nun der Zeitfluss der fiktionalen Welt einsetzt und begonnen wird, die Geschichte der Protagonisten ab ovo linear und progressiv zu erzählen“.

War Flore und Blanscheflur gewissermaßen das Präludium für die vorliegende Untersuchung zum mittelalterlichen Romananfang, entfaltet sich im Artusroman Wigalois Wirnts von Grafenberg das volle Spektrum weiterreichender Betrachtungen zu den Wechselrahmen. Dementsprechend ist es essenziell, hier eine markante und auffällige Prolograhmung wahrzunehmen, „die die Konturen des Prologs definiert, seine Schnittstellen zu einem lebensweltlichen Außen sowie einem textweltlichen Innen gestaltet und ihn demgegenüber abgrenzt“. Die sich daraus ergebende Differenziertheit ermöglich eine reflektive Rezeption dieses Romans, die es auf implizite Weise ermöglicht, gesellschaftliche Erfahrungen und Erwartungen in den Kontext des Hörens und Lesens einzubringen. Dabei werden die Wahrnehmungskonfrontationen sowohl hinsichtlich eines Dualismus von realistischer zu märchenhafter Außenwelt als auch hinsichtlich innerer Werteerwartungen und -konflikte ausgetragen oder doch zumindest sichtbar gemacht.

Dass hier dann eben auch bemerkenswerte oder absonderliche Elemente wie etwa ein auch und gerade für Entscheidungsaspekte relevanter Zaubergürtel oder der ‚Tugendstein‘ im Lauf der Kernhandlung in den Blick treten, scheint – wenn wir der Autorin folgen wollen – die konsequente Fortsetzung des Prinzips der variierenden Anfänge. Diese besitzen zwar auf der ersten Ebene literarisch-literaturästhetischen Charakter, stehen aber auch für das implizit vorhandene ‚Multiversen-Element‘ des Gesamttextes. Auch dass dabei Aspekte einer heldisch-irdischen Bewährung ebenso zum Tragen kommen, wie dies für transzendentale Metaebenen und Metawege der Fall ist, scheint bereits aufgrund des texttraditionalen Hintergrundes beziehungsweise der Einbindung in den weiteren Kontext der Artustradition bedingt. Hier werden Erwartungen erweckt und bedient, aus denen sich ableiten lässt, dass der Text mehr als nur der Kurzweil dienen sollte. Das heißt, dass er in einem verbindlichen Wertekanon angesiedelt und in der Rezeption ebendiesem anzugleichen war.

Wenn die Autorin dann allerdings „filmische Verfahren in der Fischerepisode“ des Wigalois ausweist, ist das doch recht ahistorisch formuliert. Zuvorderst ließen sich aufgrund der eindeutigen Vorher-Nachher-Situation dann allenfalls ‚Wigalois-Verfahren‘ in der Produktion von (Spiel-)Filmen entdecken. Und auch der Hinweis darauf, dass dieser spezifische Blickwinkel – im Film wie im Wigalois – „eine Szene kurzzeitig beleuchtet, um […] im nächsten Moment bereits wieder auf ein neues Geschehen“ zuzugreifen, ist zumindest für ‚mehrdimensionale‘ Literatur dergestalt zutreffend, dass kaum von einem Alleinstellungsmerkmal der Wigalois-Dichtung die Rede sein kann. Das heißt selbstverständlich nicht, dass dieses Prinzip nicht zur Anwendung käme, nur ist es eben kaum für die Einordnung als Spezifikum tauglich. So ist das Zwischenfazit durchaus nicht abwegig, dass hier eine „‚Bild-Lehre‘ […] ein bewusstes Bilderschaffen und -erdenken initiiert“. Das gilt aber eben auch für andere Texte, für die keine Wechselrahmen erkennbar sind.

Nach den bekannten Verfassern zugeordneten beiden Romanen ist der dritte Referenztext, der Wigamur, anonym überliefert. Dass gerade dieser Roman offenbar eine besonders hohe Bandbreite im Rahmen der differierenden Einleitungen aufweist, mag eine Folge der Anonymität sein, die es erleichtert haben mochte, gegebenenfalls von der Vorlagentradition abzuweichen, diese zu ergänzen und zu erweitern. Die Anbindung dieses Romans an den Parzival ist ebenso augenfällig, wie transzendental-religiöse Aspekte eines der tragenden Elemente des Wigamur darstellen. Mit dem Wigalois besteht etwa allein schon insofern eine sinntragende Übereinstimmung, als hier wie dort dem ‚Tugendstein‘ eine hohe Bedeutung zukommt.

Dass dieser ein wesentliches Element der Legitimation von Herrschaft darstellt, ist grundsätzlich der Artus-Tradition bereits insofern immanent, als der junge Artus seinen Anspruch auf die Herrschaft über Britannien erweisen kann, als er das Schwert Excalibur aus einem Stein zieht, mit dem es für Unbefugte unveränderlich verbunden ist. Einen adäquaten Prozess durchläuft auch Wigamur, wobei in der Romantradition noch weit wunderlichere und mitunter auch deutlich bedrohlichere Situationen durchschritten werden müssen, nach deren erfolgreicher Absolvierung letztlich der Königsthron steht.

Auch hier erkennt Amelie Bendheim die tragende Rolle sowie die unbedingte Relevanz von variierenden Einbettungen, also eben Wechselrahmen, die es erst möglich machen, in vollem Umfang den Antagonismus von Anforderung und Bewährung zu überwinden beziehungsweise letztere erfolgreich zu bestehen und sich somit des Königtums als würdig zu erweisen. Das heißt in Bezug auf Person und Erscheinung von Wigamur: „Der Königskörper wird als corpus mysticum inszeniert und damit die Vorstellung eines die historische Zeit überdauernden und der historischen übergeordneten Konzepts personal gebunden“. Das ist sicherlich korrekt, aber brauchte es hierzu wirklich unbedingt der Wechselrahmen?

Die Autorin ist naheliegenderweise dieser Auffassung und (re-)definiert die Grundvorstellung des paratextuell bedingten Wechsels nochmals in ihrem fünften Abschnitt (Diz ist ein erste begin), in dem zum einen nochmals Begrifflichkeiten der einleitenden Passagen aufgegriffen werden, andererseits ein konkreter Bezug zu den Referenztexten erfolgt. Das ‚Fazit im Fazit‘ lautet dann folgendermaßen: „Das Neue, Besondere, Andere, das mit dem Anknüpfen des Erzählfadens des Helden eingeführt wird, hebt sich von einem Vertrauten ab, in das es im Endrahmen auch wieder überführt wird.“

Auch hier sind Stimmigkeiten zu konstatieren, ohne allerdings die dissoziierende Gegenüberstellung von „Wechselrahmen“ (also Einleitung) und „Endrahmen“ als unabdingbare und feste Größen zwingend erscheinen zu lassen. Dies gilt auch angesichts des Vergleichs zwischen mittelalterlicher und neuzeitlicher Literatur und ihrer jeweiligen Rezeption, zumal das hier konstatierte totale Auseinanderliegen beider letztlich eben nicht zwingend ‚alternativlos‘ ist. Der griffige Titel Wechselrahmen besticht zweifellos durch seine Attraktivität und hat damit einen leseanreizenden Charme. Aber ‚funktioniert‘ das wirklich? Genauer gesagt: Sind die Begrifflichkeit und die entsprechende Assoziation so passgenau und glücklich gewählt? Die Funktion des klassisch-analogen Wechselrahmens liegt ja tatsächlich darin, dass das jeweilige Bild gewechselt, also durch ein anderes ersetzt werden kann; der Rahmen selbst bleibt davon unverändert.

In der vorliegenden Untersuchung geht es aber gerade darum, dass der ‚Rahmen‘, also der Romananfang unterschiedlich ausgeführt ist, während das ‚Bild‘, also der Romankern, weitgehend unverändert bleiben, wobei die Autorin hier mitunter Schrödingers Katze zu bemühen scheint. Andererseits bietet sich hier zugleich die Chance, assoziative Wahrnehmungsmuster zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verändern; und wenn das nicht weiterführt, mag ein weiterer Blick auf die theoretische Physik helfen, denn die Heisenberg’sche Unschärferelation ließe sich durchaus so deuten, dass das Detail (zumindest mitunter) keine Eindeutigkeit zulässt.

Gleichwohl sind die Wechselrahmen lesenswert, es werden neue Aspekte eruiert sowie neue Sichtweisen und damit diskussionswürdige Perspektiven herausgearbeitet, die sicherlich noch eine ganze Weile tragfähig sein können. Der positive Eindruck des sorgfältig und – wie beim Winter Verlag üblich – solide gestalteten Bandes wird durch ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis abgerundet, das eine hervorragende Basis für die weitergehende Beschäftigung mit dem Thema bietet.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Amelie Bendheim: Wechselrahmen. Medienhistorische Fallstudien zum Romananfang des 13. Jahrhunderts.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2017.
469 Seiten , 82,00 EUR.
ISBN-13: 9783825366544

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