Einsamkeit ist Freiheit

Die Anthologie „Vollmond hinter fahlgelben Wolken“ versammelt Texte von Autorinnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und der arabischen Welt, die über ein selbstbestimmtes Leben reflektieren

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der wahre Wert eines literarischen Werks stellt sich […] dann heraus, wenn einer lesend mit derselben Dringlichkeit, wie sie der Autor beim Schreiben empfand, die Welt zu verstehen und kennenzulernen versucht.“ Die puerto-ricanische Autorin Rosario Ferré, die im Vorwort zur Anthologie Vollmond hinter fahlgelben Wolken. Autorinnen aus vier Kontinenten zitiert wird, hat damit eine zentrale Eigenschaft von Literatur treffend zum Ausdruck gebracht: Literatur verbindet, baut Brücken zwischen Autor*innen und Leser*innen, auch über nationale oder kulturelle Grenzen hinweg.

Die von Anita Djafari, Geschäftsleiterin der Litprom e.V., und Juergen Boos, Direktor der Frankfurter Buchmesse und Präsident der Litprom e.V., herausgegebene Anthologie präsentiert Texte von Autorinnen aus vier Kontinenten und zeigt, dass weibliches Schicksal weltweit geteiltes Schicksal ist. In den Texten unterschiedlicher Gattungen geht es vor allem um weibliche Selbstbestimmung, Mutterschaft, auch regretting motherhood, ums Verlassen und Verlassenwerden, um Kindheitserfahrungen und erste emanzipatorische Versuche. Aber auch um den magischen Moment eines Blickkontakts während eines heftigen Regengusses und das voraussehbare Ende einer leidenschaftlichen Liebschaft wie im Text der auf Antigua geborenen Autorin Jamaica Kincaid.

In der Anthologie kommen nicht nur prominentere Autorinnen wie Jean Rhys (mit einem Auszug aus Wide Sargasso Sea), Maryse Condé, Clarice Lispector, Assia Djebar oder Han Kang (mit einer Vorversion von Die Vegetarierin) zu Wort, auch neuen bemerkenswerten Stimmen, jüngeren und weniger bekannten Autorinnen wird ein Platz eingeräumt. Was die Texte inhaltlich verbindet, sind Emanzipationsversuche und die Überzeugung, dass soziale Verbindungen und Verpflichtungen (Frauen) nicht immer glücklich machen – Einsamkeit kann nämlich auch Freiheit bedeuten.  

So zum Beispiel in der Kurzgeschichte der 1987 in Singapur geborenen Amanda Lee Koe. Erzählt wird aus der Perspektive einer eigentlich vom Schicksal gebeutelten Frau mittleren Alters: Ein Unfall, der ihr Gesicht entstellt, der Mann verlässt sie für eine Frau vom chinesischen Festland, die Tochter heiratet und sie bleibt allein zurück. Doch in dieser eigentlich desolaten Situation zeigt sich die Protagonistin besonders stark und schafft es, ihre Einsamkeit als neue Freiheit zu begreifen – nämlich als „Unabhängigkeit davon, Ehefrau zu sein, Mutter, sogar Frau.“ Sie wird sich bewusst, dass die Selbstdefinition über die Existenz eines Mannes an ihrer Seite, häufig als Liebe missinterpretiert, eigentlich eine Falle ist. 

Die Autorin, die mit der Kurzgeschichtensammlung Ministerium für öffentliche Erregung (2013) debütierte, erklärt in einem Interview, dass Einfühlungsvermögen für sie als Schriftstellerin das Allerwichtigste sei. Und tatsächlich ist bemerkenswert, wie sie ihre Protagonistin sehr lebensklug reflektieren lässt, so zum Beispiel über Eifersucht, die eigentlich gar keine ist: „Nein, es war keine Eifersucht, weil Eifersucht Liebe ist, und selbst damals war ich sicher, dass ich keine Gefühle mehr für ihn hatte – falls ich überhaupt jemals welche für ihn gehabt hatte. […] Es war Konkurrenz. Sport.“

Auch die Protagonistin der mexikanischen Autorin Liliana Blum zieht die Einsamkeit einer Affäre vor, die sie nicht mehr glücklich macht. Angewidert vom Ehemann, der sie kurz nach der Schwangerschaft betrügt, und genervt von der Tochter, die den Verlust eines Meerschweinchens beklagt – brutal erschlagen durch einen Blumentopf –, täuscht sie einen wöchentlichen Schwimmbadbesuch vor, um den wesentlich jüngeren Marcelo in einem Motel zu treffen. Doch als der kein offenes Ohr für ihre Sorgen hat („Er wollte Sex, und sie hatte über ihre Gefühle gesprochen.“)  beschließt sie kurzerhand, sich zu befreien: „Wenn sie schon verheiratet und die Ältere war, wollte sie wenigstens ihre Würde behalten und diejenige sein, die die Beziehung beendete.“

Es sind nicht nur Beziehungen zu Männern, unter denen die Protagonistinnen leiden und die sie in ihrer Freiheit einschränken, sondern auch ihre Rolle als Mutter – ein Thema, das in vielen der Texte eine zentrale Rolle spielt. Die Protagonistin der argentinischen Autorin Leticia Martin zum Beispiel „befreit“ sich beim Fußballspielen von einer ungewollten Schwangerschaft, während die ebenfalls argentinische Autorin Ana María Shua eine Mutter zum Opfer ihrer drei Kinder werden lässt. Und hier handelt es sich um einen der besten Texte der Anthologie: Getrieben von dem Wunsch, eine gute Mutter zu sein, wird der Alltag mit drei Kindern zum parodistisch überdrehten Horror-Trip.

Während „Mama“ zu Beginn ihr eigenes Handeln als gute Mutter, aber auch als gute Hausfrau immer wieder selbstkritisch in Frage stellt, sich voller Fürsorge und Selbstlosigkeit um das Wohl der Kleinen sorgt, muss sie sich am Ende vor den zwei älteren, immer bösartiger werdenden Kindern mit dem Jüngsten ins Badezimmer retten. Doch auch das unschuldige Baby („Die kleinen Fingernägel waren lang, zu lang […] Eine gute Mutter, eine Mutter, die ihre Kinder wirklich liebt, schneidet ihnen die Nägel häufiger.“) entpuppt sich als heimtückischer Kontrahent: „Der Zeigefinger der rechten Hand des Babys fuhr in Mamas Auge und grub einen tiefen Riss in die Hornhaut. Das Baby lächelte sein zahnloses Lächeln.“

Die Frage, was eine gute Mutter und nicht zuletzt auch ein gutes Mutter-Tochter-Verhältnis auszeichnet, beschäftigt schließlich auch die haitianische Autorin Edwidge Danticat. In ihrer in The New Yorker erschienenen Kurzgeschichte Sunrise, Sunset erzählt sie von einer komplizierten Mutter-Tochter-Beziehung. Während die Mutter Carole unter Demenzschüben leidet, zeigen sich bei ihrer Tochter Jeanne Tendenzen zu einer regretting mother, die Schwierigkeiten hat, zu ihrem kleinen Sohn eine liebevolle Beziehung aufzubauen.

Maryse Condé lässt in ihrer Erzählung eine in New York wohnhafte Schriftstellerin mit karibischen Wurzeln, sich über ihre Kritiker*innen beklagen: „Sie wollen, dass ich zum x-ten Mal über Sklaverei und Menschenhandel und Rassismus spreche, dass ich uns mit den Tugenden der Opfer schmücke, dass ich Hoffnung einflöße. […] Ich kann das einfach nicht mehr hören.“ Es scheint, als seien die in der Anthologie versammelten Autorinnen Condés Protagonistin gefolgt: Eine postkoloniale Thematik dieser Art rückt bei ihnen zugunsten feministisch-emanzipatorischer Fragen in den Hintergrund.  

Die Anthologie, die im Rahmen des dreißigjährigen Jubiläums des LiBeraturpreises herausgegeben wurde, der jedes Jahr ein bestimmtes Werk einer Autorin aus Afrika, Asien, Lateinamerika oder der arabischen Welt auszeichnet, überzeugt nicht nur durch die handverlesenen klugen Texte, sondern bietet eine bereichernde und spannende Reise quer durch die nicht-europäischen feministischen Literaturen der Welt. Sehr hilfreich bei der stets kurzweiligen Lektüre sind zudem die Informationen zu den Autorinnen und ihrem Werk.

Titelbild

Juergen Boos / Anita Djafari (Hg.): Vollmond hinter fahlgelben Wolken. Autorinnen aus vier Kontinenten.
Unionsverlag, Zürich 2018.
351 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783293208001

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