Stille-Post-Spiele unter Laborbedingungen
Fritz Breithaupt geht in „Das narrative Gehirn“ der Frage nach, wie unser narratives Denken funktioniert
Von Thomas Merklinger
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFritz Breithaupt ist Germanist, Kultur- und Kognitionswissenschaftler. Seit 1996 hat er Professuren für Germanistische und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Indiana University in Bloomington inne, die ab 2010 durch eine Affiliate Professur in Kognitionswissenschaften erweitert wurden. Diese interdisziplinäre Perspektive äußert sich auch in seinen Forschungen und hat in den vergangenen Jahren Monographien zu einer evolutionswissenschaftlichen Erzähltheorie (Kultur der Ausrede) sowie zur Empathie (Kulturen der Empathie, Die dunklen Seiten der Empathie) hervorgebracht. Darüber hinaus leitet er das Experimental Humanities Lab, das sich der empirischen Erzählforschung widmet. In großangelegten Versuchsreihen wird hier unter anderem versucht, durch Nacherzählungen die Strukturen narrativen Denkens zu erfassen. Von diesen Ergebnissen ausgehend entwirft er nun in dem Suhrkamp-Band Das narrative Gehirn. Was unsere Neuronen erzählen eine Theorie des narrativen Denkens.
Um die zentralen Thesen des Buches sowie das Erkenntnisinteresse zu verstehen, ist es zunächst nötig, einen Blick auf die Methodik der Versuchsreihen im Experimental Humanities Lab zu werfen, da der Untertitel des Buches falsche Erwartungen wecken könnte. Denn tatsächlich geht es nicht um konkrete neurowissenschaftliche Thesen und Erkenntnisse – von Neuronen ist im Textteil sogar kaum die Rede –, sondern viel eher um psychologische Vorgehensweisen, die mittels empirischer Befunde Rückschlüsse auf die Strukturen und Prozesse im Bereich des narrativen Denkens ziehen. Den Ausgangspunkt bilden dabei Ketten seriell reproduzierter Narrationen oder, vereinfacht gesagt, die Ergebnisse von Stille-Post-Spielen. Der Ansatz selbst geht auf die psychologischen Versuche Frederic Bartletts zurück, die dieser ab 1913 im Cambridge Psychology Laboratory durchgeführt hat. Obwohl die ursprünglichen Erzählungen beim Weitergeben verkürzt und meist auch verfälscht werden, lässt sich doch gerade durch diese Reduktion auf einen narrativen Kern erkennen, welche narrativen Elemente als wesentlich angesehen werden.
Bartlett selbst sieht in seinen 1932 veröffentlichten Ergebnissen die kausalen Strukturen gestärkt, verwendet als Ausgangsnarration allerdings einen fremdartigen Mythos, so dass bei der Nacherzählung eine Plausibilisierung der Zusammenhänge durchaus im Vordergrund stehen könnte. Ohne die Rolle der Kausalität für das narrative Denken bestreiten zu wollen, lassen Breithaupts Versuchsreihen mit Alltagserzählungen eher die zentralen Emotionen in den Vordergrund treten. Selbst wenn die ursprüngliche Erzählung inhaltlich nur noch schwer zu erkennen ist, bleibt die Kernemotion im Wesentlichen stabil. Versuche mit unterschiedlichen Abstufungen emotionaler Intensität zeigen, dass der jeweilige Intensitätsgrad auch am Ende der seriellen Reproduktion weitgehend konstant geblieben ist. Vor allem für Primäremotionen wie Freude und Trauer werden leichte, mittlere und starke Emotionen von Testgruppen ähnlich eingeschätzt. Ausnahmen bilden Peinlichkeit, Scham und Ekel, die durch Nacherzählungen tendenziell abgeschwächt werden, was womöglich aber darauf zurückzuführen sei, dass sie kulturell stigmatisiert sind und in der kommunikativen Weitergabe als unangenehm erlebt werden.
Insgesamt gelangt Breithaupt zu der These, dass „die emotionale Wertigkeit am Beginn der Geschichte und an ihrem Ende […] der Leitfaden für die Rekonstruktion der Geschichte“ werde. Die Nacherzählungen reproduzieren die meisten Emotionswerte relativ stabil. Daraus leiten sich als erste Ergebnisse ab, dass über Kausalität, Situation und die agierenden Charaktere hinaus vor allem Emotionen für das narrative Denken zentral sind und als „Anker“ dienen, wenn es darum geht, eine Geschichte zu erinnern und wiederzugeben. Mehr noch: Die Kernemotionen können, insbesondere am Schluss einer narrativen Episode, „als Ausbeute oder Belohnung“ gelten. Im Rückgriff auf Gustav Freytags Dramentheorie fasst Breithaupt eine narrative Episode dadurch, dass Anfang und Ende durch einen Umschlag der Handlung in der Mitte verbunden werden. Da sich dadurch „Mit-Erleben“ einstellen kann, die Zuhörerin oder der Leser also die Situation wie selbst erfahren, ist die Episode dann abgeschlossen, wenn die Spannung aufgelöst ist und man aus der Geschichte wieder zurück in das eigene Leben treten kann.
Über die Bedeutung von Emotionen für das narrative Denken hinaus hebt Breithaupt zusätzlich die „Spielbarkeit“ von Figuren sowie die Multiversionalität von Erzählungen hervor. Beide Momente kennzeichnen unser Denken in Narrationen, das sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass wir reale Personen als geistige Figuren ausformen können, um ihre Möglichkeiten durchzuspielen. Breithaupt veranschaulicht das Phänomen in Analogie zur Tulpamancie. Tulpa sind im tibetischen Buddhismus geistige Wesen, die durch reine Willenskraft ausgebildet werden, dann allerdings als eigenständige Gegenüber agieren, mit denen man in Kontakt treten kann. Um andere Menschen als Figuren in unseren Köpfen zu entwerfen und mit ihnen im narrativen Denken interagieren zu können, ist es nötig, sie über einen längeren Zeitraum hinweg zu beobachten und ihr Verhalten zu rechtfertigen. Die Spielbarkeit narrativer Figuren setzt somit eine beobachtete Außenperspektive (‚tracking‘) und das Einnehmen einer Innenperspektive (‚Rechtfertigen‘) voraus. Die Andersartigkeit anderer wird dadurch zunächst einmal nicht genommen, aber zumindest reduziert, und es wird möglich, unterschiedliche Handlungsformen im sozialen Bereich durchzuspielen.
Hinzu kommt, dass es narrativem Denken zu eigen ist, simultan unterschiedliche Fortsetzungen einer Geschichte zu entwerfen. Dass das menschliche Gehirn stets die nähere Zukunft antizipiert, ist unter dem Stichwort des ‚predictive brain‘ bereits psychologisch untersucht worden, allerdings nicht so sehr für Vorhersagen über die weiter weg liegende Zukunft. Hier setzt für Breithaupt das narrative Denken ein, wenn es nicht mehr darum geht, zukünftige Möglichkeiten auflösen zu müssen. Dann wird es möglich, zu jedem Zeitpunkt einer Narration potentielle Fortsetzungen weiterzuentwickeln, die erst verworfen werden, wenn die erzählte Situation oder aber die gesamte Erzählung beendet ist. Erst eine Form des Mit-Erlebens und Involviertseins entspricht dem Rezeptionsmodus von Narrationen und sorgt dafür, dass Erzählungen als spannend betrachtet werden. In der Fiktion werden Vorhersagen emotional belohnt, indem Spannung selbst als reizvoll gesehen wird und die richtige Vorhersage sowie ein guter Ausgang ebenfalls belohnend wirken. Was im fiktionalen Rahmen eingeübt wird, besitzt aber auch evolutionäre Vorteile.
Wenn wir eigene Handlungsoptionen durchspielen oder den Problemen anderer ausgesetzt werden, befinden wir uns in Narrationen. Hier kommen nicht nur Vorstellungen von der Welt und die Entwürfe, die wir von anderen Menschen gemacht haben, zum Tragen, sondern vor allem die Fähigkeiten der Multiversionalität und Bewusstseinsmobilität. Breithaupt nutzt das Bild eines Aquariums, um zu zeigen, dass die Wirklichkeit zu einem übersichtlichen, reduzierten Raum wird, in dem das Bewusstsein gleichzeitig narrative Möglichkeiten in den Blick nimmt und andere Akteure entwirft. So können Situationen aufgrund von Erwartungen, Präferenzen und Wahrscheinlichkeiten simuliert und auch extreme Möglichkeiten in den Blick genommen werden (Multiversionalität), aber wir können uns auch in die Situationen und Positionen anderer einfühlen (Bewusstseinsmobilität).
Dadurch bietet sich narratives Denken etwa für die Bewältigung von Krisen an, indem ein einschneidendes Ereignis in ein sinnstiftendes Narrativ eingebunden wird. Diese therapeutische Funktion in individueller wie kollektiver Hinsicht veranschaulicht Breithaupt am Beispiel von 9/11 sowie der Bankenkrise und stellt dabei heraus, dass die emotionalen Strukturen wichtiger sind als die kausalen. Unter anderem ergibt sich die Überwindung krisenhafter Erfahrung durch emotionale Belohnungsstrukturen, etwa indem als Ergebnis von Antagonisierung zuletzt das Gute triumphiert oder man stärker geworden ist. Die Krise selbst wird nicht als das Ende erfahren, sondern als Übergang. Was sich für vergangene Krisen gut zeigen lässt, scheitert (vorerst) noch beim Herausdestillieren eines dominierenden Corona-Narrativs. Der Versuch, im Experimental Humanities Lab die Evolution einer narrativen Corona-Bewältigung zu verfolgen, hat bislang noch keinen klaren Kandidaten hervorgebracht.
Wesentlich für Breithaupts Theorie des narrativen Denkens ist, dass wir in Erzählungen involviert sind. Das meint, andere Perspektiven einzunehmen, Möglichkeiten mitzudenken und zuletzt emotionale Gratifikation erlangen können. Hierin sieht er nicht nur die Stärke der Grimm’schen Märchen, in denen Vulnerabilität belohnt wird: Neben der List wird die zuletzt siegreiche Verletzlichkeit der kindlichen oder tierischen Zentralfiguren wichtig. Auch für die evolutionäre Ausformung des narrativen Denkens spielt das Mit-Erleben eine zentrale Rolle, die er – zugegeben spekulativ – in der Bühnenkultur verortet. Sieht Breithaupt die Ausbildung von narrativer Multiversionalität bereits ursprünglich in der Ausrede (Kultur der Ausrede), führt er Bewusstseinsmobilität und Mit-Erleben auf die kollektive Erfahrung der Bühne zurück. Um das Theater zu genießen, muss man sich in die Bühnenfiguren einfühlen und das Geschehen aus ihrer Perspektive wahrnehmen. Was heute vielleicht eher über das Fernsehen und andere Medien eingeübt wird, mag seinen Ursprung aber durchaus im Bühnengeschehen haben.
Zuletzt wirft Breithaupt einen kurzen kritischen Blick auf das mediale Überangebot an Narrationen, dem wir heute ausgesetzt sind. Dies könnte paradoxerweise dazu führen, dass wir die wichtigsten Dimensionen narrativen Denkens verlernen, da die bloße Rezeptivität nicht ausreicht, um das narrative Denken zu trainieren. Statt narrativer Dauerberieselung sei es vielmehr nötig, sich auf einzelne Narrationen einzulassen und die in einer Erzählung angelegten Möglichkeiten fortzusetzen, also jederzeit selbst inmitten der Narration zu sein. Narratives Denken setzt nicht nur Mit-Erleben voraus, sondern auch die beständige Fortführung von Möglichkeiten, zumindest so lange, bis die Episode oder Narration aufgelöst ist.
In seinem anregenden, gut lesbaren Buch stellt Fritz Breithaupt narrative Strukturen des Menschen vor. Wenn dabei auch nicht gesagt wird, was auf neuronaler Ebene geschieht, wenn wir erzählen, so bieten die vorgestellten kognitionswissenschaftlichen Thesen aber doch eine gewinnbringende Vorstellung, welche Strukturen und Prozesse für das narrative Denken relevant sind.
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