Doppelte Identität und flegelhafter Psychiater

Der schottische Autor Graeme Macrae Burnet schreibt mit „Fallstudie“ einen kunstvoll verrätselten Roman über einen Außenseiter der Psychotherapie

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der schottische Romancier Graeme Macrae Burnet ist dafür bekannt, Autorschaft und Quellenlage seiner Bücher kunstvoll zu verrätseln. Diesmal firmiert der aus früheren Romanen bekannte G M B (im Original offenbar ohne Leerzeichen) als Verfasser einer Biografie des Psychotherapeuten Collins Braithwaite, der „so etwas wie das Enfant terrible der sogenannten antipsychiatrischen Bewegung der sechziger Jahre“ gewesen sei.

Konjunktiv – Braithwaite ist eine erfundene Gestalt. Also hat der Autor nicht, wie behauptet, ein Exemplar von dessen Buch Untherapie in einem Antiquariat gefunden. Auch hat er nicht durch einen Blog-Eintrag über Braithwaite das Interesse eines Mr Grey geweckt, der ihm Notizbücher seiner Kusine zukommen lässt, die den Psychiater verdächtigt, er sei schuld am Selbstmord ihrer Schwester Veronica, die zwei Jahre zuvor im Alter von 26 Jahren von einer Eisenbahnbrücke unweit von Braithwaites Praxis in den Tod sprang.

Nehmen wir zunächst für bare Münze, was zwischen Vorwort und Nachwort abwechselnd über Braithwaites Biografie und aus den Notizbüchern erzählt wird! Burnet wäre nicht der raffinierte Fallensteller, der er ist, würde er nicht beides verschränken. Denn die namenlose Notizbuchschreiberin (nachfolgend als „Veronicas Schwester“ bezeichnet), hat Untherapie ebenfalls gelesen und war nach anfänglicher Verwirrung beruhigt, weil fremde Verschrobenheiten ihre eigenen harmlos erscheinen ließen. In einer Fallstudie im Buch entdeckt sie Ähnlichkeiten zwischen der dort beschriebenen Dorothy und ihrer Schwester. Sie meldet sich unter falschem Namen bei Braithwaite an, denn Selbstmord macht aus uns allen eine Miss Marple. Rebecca Smyth nennt sie sich dort; der Vorname stammt aus dem gleichnamigen Roman von Daphne de Maurier.

Die Begegnungen zwischen dem Psychiater und der sich gequält fühlenden Patientin – Braithwaite nennt allerdings alle, die ihn konsultieren, Besucher oder Klienten – sind für den Leser erhellend und stellenweise erheiternd mit origineller Sicht auf Bewusstseinsspaltung und ähnliche Zustände.

Aus „Rebecca“ wird viel mehr als ein Pseudonym: das andere Selbst von Veronicas Schwester, extrovertiert statt introvertiert, hemmungslos statt zurückhaltend und ständig unzufrieden mit der anderen Person. Nach Auffassung des Psychiaters soll zur Gesundung kein „wahres Selbst“ die Oberhand gewinnen, sondern das Nebeneinander beider Persönlichkeiten ertragen werden. Er findet die Leute nicht verrückt, selbst wenn sie das gern wären. Nicht das Exzentrische quäle sie, sondern der Versuch, es zu verbergen. Seine eigenen Äußerungen würden von ihnen nur geschätzt, weil sie gut dafür bezahlt hätten. Generell will er das zerrüttete Gebäude der Psychiatrie zum Einsturz bringen.

Braithwaites erfundener Lebenslauf sei hier kurz umrissen. Nach abgebrochenem Philosophiestudium und einer unvergesslich sorglosen Zeit bei der Weinlese in Frankreich traf er in einem englischen Militärhospital mit dem schottischen Psychiater R. D. Laing zusammen. Der ist keine Erfindung des Autors, sondern lebte von 1927 bis 1989 und wandte sich gegen die brutale Elektroschockbehandlung. Auch mit ihm verdarb es sich Braithwaite, er warf ihm sogar Ideendiebstahl vor. Seine Skepsis gegenüber der vorschnellen Einstufung gewisser Neigungen als „verrückt“ äußerte er mit flegelhafter Rechthaberei, so dass sich Fachwelt und Öffentlichkeit gegen ihn wandten. In seinen wenigen Jahren in Oxford wurde er, der Mann aus dem Norden und der unteren Mittelschicht, dem Zeitgeist entsprechend zum Star der Oberschicht, mit immensem Erfolg bei den Frauen.

Später, als Lektor in einem Verlag, gönnte er sich ausgedehnte alkoholische Mittagspausen. Seinen Ruf als Therapeut beschädigte er mit Verstößen gegen die Schweigepflicht und mit Partys, bei denen Joints und Alkohol gereicht wurden. Endgültig bergab ging es, als man ihm vorwarf, eine Frau vergewaltigt zu haben. In seiner Wohnung wurde Marihuana gefunden, er musste ins Gefängnis, seine Wohnung wurde aufgelöst. Nach der Haft kehrte er, der immer weggewollt hatte, in das inzwischen verlassene Elternhaus zurück. Dort beging er Selbstmord. Seine Schrift Mein Selbst und andere Fremde hinterließ er als „Abschiedsbrief“.

Und vorher, wie lief das mit ihm und „Rebecca Smyth“? Sie nahm es schon als Kind mit der Wahrheit nicht genau – im Tagebuch notierte sie Banalitäten und nicht das, was sie wirklich bewegte. Im Schatten der hochbegabten Veronica wurde sie eiskalt. Als die einen Nervenzusammenbruch erlitt, hieß es im Notizbuch: „Bedauerlicherweise schien sie sich weder eingenässt noch mit Erbrochenem bekleckert zu haben.“ Veronicas Tod empfand sie als Erleichterung – nun hatte sie beim Vater keine Konkurrentin mehr. Den aus nächster Nähe miterlebten Unfalltod der Mutter hatte sie Jahre zuvor ungerührt zur Kenntnis genommen.

Sexuell war die junge Frau erbarmungswürdig frustriert; der mechanische Reiz eines um den Körper geschlungenen „Gängelbands“ ersetzte ihr Partner oder Partnerin. Eine Bekanntschaft mit einem gut aussehenden jungen Mann ging in die Brüche, weil sie sich zu spät von Rebeccas Einflüsterungen löste. Sie gab sich auf, wollte keine unabhängige Frau sein, sondern sich mit stiller Verzweiflung um ihren Vater kümmern. Der aber drängte sie zur Berufstätigkeit, auch der hübschen walisischen Haushälterin zuliebe. Die erwies sich beim psychischen und körperlichen Niedergang von Veronicas Schwester als mütterlich und hilfsbereit. Ihr kleines Glück mit dem Vater ist die einzige gelungene Beziehung im Buch.

Das köstliche Nachwort schildert die Verabredung des Autors mit Mr Gray. Zwar bringt es dem aufmerksamen Leser keine wirkliche Überraschung, doch die Enthüllung wird elegant hinausgezögert.

Der Übersetzer Georg Deggerich schlägt sowohl in den psychiatrischen Erörterungen als auch in den Notizbüchern einen überzeugenden Tonfall an. Wenn sich die Schreiberin aber häufig weder „hausbacken“ noch hübsch genug für einen Flirt findet, fragt man sich, ob „hausbacken“ wirklich der Kontrast zu „hübsch“ ist.

In dem kunstfertigen und gelehrten Buch spiegelt der Autor mit schier grenzenlosem Einfallsreichtum geistige und soziale Strömungen der Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts wider. Die Auseinandersetzung mit psychiatrischen Störungen und deren Therapie hat dabei weit mehr Gewicht als die Krimi-Komponente. Denn die Protagonistin fühlt sich von Braithwaite angezogen und zugleich abgestoßen und verliert über ihren eigenen Problemen immer mehr Veronicas Selbstmord aus den Augen, der sie ursprünglich in die Praxis des Psychiaters geführt hat. Allerdings wird die Anteilnahme des Lesers am Schicksal zweier „verkorkster“ Menschen durch die ironische Brechung gemindert, die immer wieder daran erinnert, es sei ja alles nur (gut) zwischen Wahnvorstellung und Realität erfunden.

Titelbild

Graeme Macrae Burnet: Fallstudie.
Aus dem amerikanischen Englisch von Georg Deggerich.
Kampa Verlag, Zürich 2022.
368 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783311100409

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