Partisan, Autokrat und Friedensvermittler

Marie-Janine Calics Tito-Biographie fasziniert mit ihrer Erzählkunst

Von Franz Sz. HorváthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Sz. Horváth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leben und Werk Josip Broz Titos (1892–1980) gehören zweifellos zu den spannendsten Kapiteln der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wie wurde aus einem Bauernsohn eine der einflussreichsten politischen Gestalten Europas nach 1945? Wie schaffte es der Partisanenführer nach dem Zweiten Weltkrieg, die Kroaten und die Serben, die sich davor erbarmungslos abgeschlachtet hatten, erneut in einen gemeinsamen Staat zu zwängen? Und: Wie eng war dieser zweite südslawische Staat an die Person Titos gebunden? Marie-Janine Calic, Lehrstuhlinhaberin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München für die Geschichte Ost- und Südosteuropas legt mit Tito – Der ewige Partisan eine meisterhafte Biographie vor, die es schafft, vor dem Hintergrund von Titos Leben die nationalistische Misere Südosteuropas genauso zu beleuchten wie ein Panorama des Ost-West-Konflikts nach 1945 zu entwerfen.

Die Münchener Historikerin beschreibt die riesige Armut, in der Josip Broz am Anfang des 20. Jahrhunderts aufwuchs, seine Lehr- und Wanderjahre in der Monarchie. Die Hinwendung zum Sozialismus erfolgte in russischer Kriegsgefangenschaft, die sich mit der dortigen Oktoberrevolution deckte. Im Königreich Jugoslawien erarbeitete sich Broz allmählich mit seiner Standfestigkeit, seiner Fähigkeit, mit Menschen umzugehen, und mit Gefängnisaufenthalten immer höhere Positionen in der illegalen Partei der Kommunisten. Als Autodidakt eignete er sich die Klassiker des Marxismus an, doch scheiterte zugleich seine erste Ehe aufgrund seiner ständigen Abwesenheit von der Familie. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf Jugoslawien 1941 stand es für ihn außer Frage, dass er als Generalsekretär der Partei den kommunistischen Widerstand aus dem Untergrund heraus organisiert. In dieser Zeit legte er sich den Kampf- und Tarnnamen „Tito“ zu, da er in Kroatien ein Allerweltsname war. Der erfolgreiche, jedoch alles andere als ungefährdete und geradlinige Kampf gegen die Besatzer begründete seinen Mythos, den er gerne selbst nährte, und sicherte ihm nach Kriegsende die Herrschaft.

Calic beschreibt nicht nur die Überwindung kroatisch-serbischer Gegensätze mitten im Krieg durch den Partisanenführer Tito, sondern auch dessen taktierendes Verhalten gegenüber den Alliierten und sein geradliniges Auftreten der Sowjetunion gegenüber. Nach dem Krieg machte Tito schnell deutlich, dass er als Ministerpräsident von einer Rückkehr zum Königtum der Vorkriegszeit nichts hält. Stattdessen übernahmen die Kommunisten rasch die Herrschaft, doch überwarf sich der selbstbewusste Staatsführer schnell mit Stalin, den er kritisch betrachtete. Die These von einem „Titoismus“ verwirft Calic, sie führt den Bruch zwischen Moskau und Belgrad vielmehr auf Titos im Krieg erwachsenes Selbstbewusstsein, dessen eigenständige Außenpolitik und seinen Wunsch, die Wirtschaft des Landes nicht in allen Fragen den sowjetischen Forderungen unterzuordnen, zurück. Titos Herrschaft bis 1953 charakterisiert Calic als die eines „stalinistischen Autokraten“ bzw. „totalitär“. Die Willkür dieser Zeit, die Morde und den Terror müssen auch Tito bekannt gewesen sein, unterstreicht sie.

Nach Stalins Tod gefiel sich Tito schließlich in der Rolle eines Reformkommunisten und eines Vermittlers zwischen den Blöcken. Anschaulich schildert Calic die Reisediplomatie Titos, seine Bemühungen um eine Leitungsposition in der Gruppe der blockfreien Staaten, seine Eitelkeiten und seine beinahe feudalistische Hofführung. Neben dem Politiker widmet sie ihr Augenmerk auch dem Privatmenschen, dessen dritter Ehe mit Jovanka Tito und den privaten Interessen und Zusammenkünften insbesondere mit den Stars der internationalen Filmbranche. Immer wieder bricht dabei in der Darstellung durch, wie fragil das Gebilde des zweiten jugoslawischen Staates war: Er stand weder ökonomisch auf stabilen eigenen Füßen (und war vielmehr vom erfolgreichen Lavieren und dem Einwerben von westlichen und sowjetischen Krediten abhängig), noch war er ideologisch gefestigt (und somit erwies sich der jugoslawische Weg zum Sozialismus als schlecht ausgebaut) und auch ethnisch-national war der Staat in einer prekären Lage. So musste Tito stets um die Zurückdrängung des kroatischen und serbischen Nationalismus kämpfen (von Calic näher beleuchtet werden hierbei die Phasen Anfang der 1970er Jahre) und die anderen Nationalitäten (Albaner im Kosovo) meldeten ebenfalls stets nationale Ansprüche auf Gleichberechtigung im multinationalen Staat an. Titos Autorität und Charisma waren somit wesentliche Eckpfeiler für die Stabilität des Landes.

Hinzu kamen noch, so Calic, die kommunistische Einheitspartei, die konsumorientierte Gesellschaftsordnung, der Gewaltapparat (Polizei, Armee, Geheimdienst) und die Außenpolitik. Sie sicherten die Zustimmung der Bevölkerung – eine Zustimmung aber, die bröckelte, sobald die Pfeiler einer nach dem anderen wegbrachen. Die Reformversuche, u.a. die politische Dezentralisierung seit den 1960er und 1970er Jahren, trugen nämlich nicht die erwarteten Früchte und indem die Säulen des Regimes allmählich in eine Krise gerieten, konnten sie das langsame Ende des Staates nicht mehr aufhalten. Spätestens seit der Reformpolitik Michail Gorbatschows waren die beiden Blöcke nicht auf ein neutrales Jugoslawien angewiesen, was das Ende Jugoslawiens besiegelte. Das war allerdings bereits nach dem 1980 erfolgten Tod des Staatsgründers.

War an der Entwicklungsdiktatur Titos etwas Positives? Die in den 1960er Jahren auch in Deutschland viel gepriesenen Arbeiterselbstverwaltungen erwiesen sich als defizitär und Hort von Korruption. Titos Jugoslawien katapultierte den Großteil der armen, rückständigen Landbevölkerung zweifellos durch umfangreiche Alphabetisierungs- und Wirtschaftsmaßnahmen zeitweilig in die Nähe westeuropäischer Standards. Doch waren diese kurzfristigen Erfolge durch teure Kredite erkauft und bauten auf die Person des charismatischen Staatsführers auf, weniger auf Eigenleistungen. Seit den 1960er Jahren waren zudem stets Hunderttausende Jugoslawen als Gastarbeiter in Westeuropa und stützten mit ihren Überweisungen den Staat.

Heute liegen der Lebensstandard und die Einkommen in den Nachfolgestaaten weit unter den europäischen Durchschnittswerten. Die zeitweilige Befriedung der nationalen Gegensätze entpuppte sich aus der Rückschau als oberflächlich und nicht authentisch. Titos Werk ist somit mit seinem Tod zerfallen und lebt nur noch in einer „Titostalgie“ fort, die die Vergangenheit verklärt, um die Gegenwart nicht sehen zu müssen. Marie-Janine Calics hervorragende Biographie zeichnet ein spannendes Leben fesselnd nach, so dass der Leser zugleich unterhalten und vielseitig informiert wird. Auch wenn manche ihrer Urteile (etwa bezüglich des Titokritikers Milovan Djilas) einseitig sind, hat sie eine ausgewogene Darstellung vorgelegt, die jedem an Geschichte Interessierten uneingeschränkt empfohlen werden kann.

Titelbild

Marie-Janine Calic: Tito. Der ewige Partisan.
Verlag C.H.Beck, München 2020.
400 Seiten , 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406755484

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