Ohne Mutter und Urvertrauen

Roberto Camurri schildert in „Der Name seiner Mutter“ in klangvoller Sprache das Schicksal einer zerrütteten Familie

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fabbrico ist eine norditalienische Gemeinde in der Emilia-Romagna, mitten in der Poebene. Dies ist die Heimat des Autors Roberto Camurri, hier spielte schon sein – nicht ins Deutsche übersetztes – Romandebüt A Misura d‘Uomo (2018). In einem Interview bekannte der Verfasser, für ihn und seine Freunde sei Fabbrico das Zentrum der Welt gewesen und er habe sich die Postleitzahl auf den Arm tätowieren lassen.

In jenem ersten Roman ging es um Freundschaften im Dorf. Zur Komplexität menschlicher Gefühle wollte der Autor nach eigenem Bekunden keine Antworten geben, sondern Fragen stellen. Dieses Herangehen prägt auch sein zweites Buch Der Name seiner Mutter. Camurri stellt bedrückende Fragen. Was wird aus Pietro, dessen Mutter davongegangen ist, als er noch kein Jahr alt war? Wie lebt sein Vater Ettore weiter, der sich das Verschwinden seiner Frau nicht erklären kann? Was macht der Verlust der Tochter aus ihren Eltern?

Der Autor erzählt von schweren Schicksalsschlägen und teils befremdlichem Verhalten, ohne Urteile zu fällen. Der Leser erfährt zumindest einen Grund für das Verschwinden der Mutter, die in ihrem Tagebuch notiert, es sei ein guter Tag gewesen, wenn Pietro nur 16 Stunden geschrien habe.

Die Flucht der Mutter ist „die Spitze des Eisbergs“. Den Protagonisten ist es nicht gegeben, sich über Gefühle klarzuwerden und über sie zu sprechen. Unmut und Verzweiflung brodeln unter der Oberfläche, es kommt zu Wutausbrüchen mit schmerzenden Worten oder körperlicher Gewalt. Verlassenheit und Lebensangst werden in einer melancholischen Sprache verdeutlicht, die ohne dramatische Effekte auskommt. Die Übersetzerin Maja Pflug hat dies klangvoll ins Deutsche gebracht.

Was den Romanfiguren untereinander an Empathie fehlt, wird zum Teil durch tiefe Bindung an die Heimat kompensiert. Wer seine Herkunft wie Roberto Camurri verinnerlicht hat, der kann als Autor die Farben und Düfte der vertrauten Landschaft eindringlich nahebringen. Hätten die Männer ihren Frauen ebenso viel Zuwendung schenken sollen wie der heimatlichen Umgebung? Begeistert sieht Ettore „das flüssige Flimmern des Sommers“, das gelbe Meer der von zärtlichem Wind gewiegten Maisfelder und später die Sterne, die an der Oberfläche des schwarzen Flusses schwimmen.

Camurri erzählt mit großen Zeitsprüngen. Vor dem ersten Kapitel blickt ein Prolog auf die Geburt von Pietro und auf die gescheiterte Ehe seiner Eltern, mit stummen Mahlzeiten und lustlosem Sex.

Im ersten Kapitel steht Ettore nachts auf, während das Weinen Pietros explodiert. Vater und Baby fahren in die Berge, wo der Kleine seinen Keuchhusten loswerden soll. Es kommt der schicksalhafte Tag. Die Frau vom Hotel passt auf Pietro auf, damit Ettore wandern gehen kann. In heftigem Regen steigt er bergan, sieht einen Wildbach, einen Wasserfall und eine Bärenfamilie. Er denkt an seine schöne Frau und ruft sie vom Hotel aus an. Niemand antwortet.

Pietros erster Geburtstag wird bei den Eltern seiner Mutter gefeiert. Pietro verschluckt eine Kirsche, die Großmutter rettet ihn mit raschem Zugriff. Im Gesicht seines Sohnes und in seinen braunen Augen sieht Ettore ein Leben lang seine Frau. Doch er spricht nicht über sie.

Als Ettore mit Freunden ausgeht, sieht er einen jungen Mann, mit dem seine Frau einmal gesprochen hat. Er will zuschlagen und „jede Spur von Glück und Schönheit aus diesen Gesichtszügen tilgen.“ Man hindert ihn. Eines Tages bekommt Pietro vom Großvater ein Foto gezeigt, auf dem seine Mutter ihn auf dem Arm hält. Da fragt er ihn, was das Wort ‚Hure‘ bedeute.

Pietro schläft mit Miriam. Die Jungen in der Schule meinen, sie habe schon Sex gehabt, doch sie sagt ihm, es sei ihr erstes Mal. Pietro findet das Provinznest Fabbrico nun noch schöner. Als er dem Vater die Zigaretten abliefern muss, die der bei ihm entdeckt hat, sagt er ihm: „Es wäre besser gewesen, wenn du mich verlassen hättest.“

Verlassen – das Leitmotiv des Buchs. Pietro fürchtet plötzlich, Miriam könne von ihm gehen, dann hätte er keine Wurzeln mehr. Er hat Angst, dass ihn niemand will, und fragt sich, ob das an der fehlenden Mutter liegt. Einem Freund antwortet er auf die Frage, ob er Miriam liebt: „Woher soll ich das wissen?“

Pietro hat auf dem Gymnasium ein Mädchen namens Gaia kennengelernt. Sie teilen Kokain und Sex. Dann gibt es Streit mit Miriam. Als sie ihn anbrüllt, seine Mutter habe recht getan, ihn zu verlassen, verfehlt seine Faust ihr Gesicht nur knapp.

Pietro wird Vater, und just an diesem Abend schläft er mit Gaia. Dem mutterlosen jungen Mann fehlt das Urvertrauen als Kompass auch für die Liebe. Der Autor fällt kein Urteil. Mit einem einfachen Bild wird geschildert, wie Ettore seine Verzweiflung überwindet. Lange behandelt er das Nachthemd seiner Frau als Reliquie. Schließlich aber verbrennt er es.

Auch Pietro möchte alles anzünden, alle Menschen verbrennen, die ihm Bindung und Wurzel sind. Die Großmutter zeigt ihm Ansichtskarten, die seine Mutter aus fremden Ländern geschickt hat. Weinend hebt er den Blick zu der alten Frau, die von der Last ihres Geheimnisses befreit ist. Unter dem Glückwunsch zum ersten Geburtstag seines Sohnes sieht er den Namen seiner Mutter: Anna.

Die Widmung des Buchs lautet: „Für meinen Vater und für sie, meine Mutter“. Mutmaßungen sind unangebracht.

Titelbild

Roberto Camurri: Der Name seiner Mutter.
Aus dem Italienischen von Maja Pflug.
Verlag Antje Kunstmann, München 2021.
192 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783956144325

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