„Coco“, schäbige Hotelzimmer, Dealer und andere dunkle Gestalten

Jörg Fausers Roman „Der Schneemann“ von 1981 in einer Neuausgabe

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jörg Fauser war einer der unkonventionellsten Schriftsteller in der Bundesrepublik der 1970er und 1980er Jahre. Er wurde 1944 in Bad Schwalbach bei Frankfurt geboren. Nach Abitur und abgebrochenem Studium hielt er sich für längere Zeit in London und Istanbul auf. In dieser Zeit wurde er drogenabhängig, später auch alkoholsüchtig. Aber er schaffte es, davon wieder loszukommen. Sein großes Ziel war es, als Schriftsteller Fuß zu fassen und die literarische Öffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen. Schreiben war seine eigentliche „Droge“.

Die Gewissheit, literarische Werke schaffen zu können, hat Fauser über Klippen und Schluchten seines unruhigen Lebens hinweggeholfen.Es ist ihm nicht leicht gemacht worden, zu dieser Selbsteinschätzung zu stehen. Zu sehr wurde er von den maßgeblichen Kulturschaffenden angefeindet und in den Feuilletons mancher Zeitungen und Rundfunkanstalten vorschnell als Außenseiter, der anstößt und aneckt, abgetan. Wegen seiner provokanten und weitgehend unbürgerlichen Lebensweise fiel er unbarmherzig durch das Akzeptanz-Raster der tonangebenden Kulturszene. Vor ihm lag ein steiniger literarischer Weg und es dauerte viele Jahre, bevor er mit seinen Veröffentlichungen die erhoffte Anerkennung fand.

Dass Fauser von seinem Schreiben leben konnte, änderte sich erst, als er das Krimi-Genre entdeckte und dafür einen eigenen Stil mit einer schnörkellosen, lapidaren Sprache entwickelte. Manche seiner Texte erinnern gerade darin an Veröffentlichungen amerikanischer Autoren wie James M. Cain oder W. R. Burnett, David Goodis oder Horace McCoy. 1981 erschien der Kriminalroman Der Schneemann, der 1984 auch mit Marius Müller-Westernhagen verfilmt wurde, und 1985 Das Schlangenmaul. Fauser bekam langsam festeren Boden unter die Füße. Er arbeitete als Redakteur bei der Berliner Stadtzeitschrift tip und bei der renommierten Zeitschrift Transatlantik. Für viele galt er als eine neue Stimme in der deutschsprachigen Literatur, die sich bei einer wachsenden Lesergruppe Gehör verschaffen konnte.

Ein herber literarischer Rückschlag waren für ihn die Art und Weise, wie er 1984 als einer der Teilnehmer der Bachmann-Literaturtage in Klagenfurt von den Kritikern, allen voran Marcel Reich-Ranicki, Walter Jens und Peter Härtling, abgekanzelt und mit Häme überzogen wurde. Ihr Verdikt „Dieser Autor hat hier nichts verloren“ war vorschnell, ungerecht und kurzsichtig und hat sich als falsch erwiesen.

Mittlerweile liegt das literarische Werk Fausers in verschiedenen Werkausgaben und Einzelveröffentlichungen vor. Gerade wird es wieder neu entdeckt, und zwar vom Diogenes-Verlag, der vor einiger Zeit begonnen hat, Fausers Werk in einer einnehmenden Edition vorzulegen, u. a. den großartigen Gedichtband Ich habe große Städte gesehen, den autobiographisch gefärbten Roman Rohstoff, die beiden Romane Das Schlangenmaul und Der Schneemann, Kriminalromane mit amerikanischem Flair, und die Biografie über den „versilberten Rebellen“ Marlon Brando, in dem Fauser einen „Bruder im Geiste“ sieht. Die Bücher sind lesefreudig gestaltet und ihr ansehnliches Äußeres in der Grundfarbe Weiß verspricht auch denen, die Fausers Bücher neu entdecken, Lesegenuss und Leseerlebnisse. Der Verlag aus Zürich setzt mit der Werkausgabe ein mutiges Zeichen: Fausers Bücher gehören nicht zum „alten Eisen“ der Literatur um 1970 und 1980, sondern gehen im Gegenteil auch die Leserinnen und Leser des 21. Jahrhunderts an.

Jörg Fauser, Junkie, Alkoholiker, Burroughs-Fan und wie sein Vorbild Jack Kerouac immer wieder „on the road“, war – das wird in der Diogenes-Edition deutlich – ein großer Schriftsteller, der von vielen zurecht auch nach über dreißig Jahren nach seinem Tod begeistert gelesen wird. Er hat in seinen Texten so genau und einprägsam wie wenig andere den Wunsch vieler seiner Generation nach größerer Unabhängigkeit und gleichzeitig ihr Gefühl der Desillusionierung und Beengtheit im Spießer-Alltag der Nach-Adenauer-Ära zur Sprache gebracht. In dem Gedicht „Krähen“ aus dem Jahr 1977 stehen die melancholischen, wenig tröstlichen Zeilen:

Eis klinkert im Glas
aber der Whisky
schmeckt nicht mehr
nach Jugend.
Auf den Bäumen am Platz
hockt meine Jugend
unter den Krähen.

Dauerhafte Glücksmomente waren in Fausers Leben – die Gedichte sprechen in vielen Zeilen davon – eher selten. Sein Unfalltod 1987 auf einer Autobahn am Rande Münchens in der Nacht nach seinem Geburtstag markiert das traurige Ende eines vielversprechenden, aber in holprigen, kurvenreichen Bahnen verlaufenden Lebens. Von den Lebensschlägen, die Fauser trafen, hat er sich allerdings nie ganz unterkriegen lassen. Eines blieb ihm immer, wenn er keinen Ausweg sah: das Schreiben. Es half ihm mehr als alles andere über graue Tage hinweg.

Das Buch Der Schneemann wird sicherlich von vielen als Kriminalroman gelesen, obwohl als Genre-Bezeichnung ausdrücklich von einem Roman die Rede ist. Aber tatsächlich enthält Der Schneemann alle Ingredienzen eines Krimis. Da ist der auf Malta gestrandete Kleinkriminelle Blum, etwa vierzig Jahre alt, ohne Geld, der vergeblich versucht, für seine Pornohefte einen Käufer zu finden, um damit ein paar Groschen zu verdienen. Da sind zwielichtige Gestalten wie der Italiener Rossi, der Mann aus Fernost, Mr. Haq, ein gewisser Mr. Hackensack, ein Amerikaner mit Geschäftsverbindungen nach Frankfurt, der Halbfreund Larry, ein Australier und ehemaliger Kämpfer in Vietnam, und ein Maltesischer Kommissar, der Blum vorlädt, ihn des Diebstahls von Kunstwerken aus einem Museum in Izmir beschuldigt und unmissverständlich auffordert, die Insel binnen dreier Tage zu verlassen. Und da eröffnet sich – das Krimi-Klischee schlechthin – dem in die Enge getriebenen Blum unverhofft eine Glückschance: Er findet in einem zerwühlten Hotelzimmer einen in einem Toupet versteckten Schein, der in der Gepäckaufbewahrung des Münchener Hauptbahnhofs eingelöst werden kann.

Damit ist der weitere Handlungsverlauf, den der Leser aus vielen Kriminalromanen und -filmen zur Genüge kennt, vorgezeichnet: Blum fliegt nach München und erhält für seinen Schein einen unauffälligen Koffer mit hochbrisantem Inhalt: fünf Pfund Kokain, Peruvian Flake mit einem besonders hohen Reinheitsgehalt. Der Kleinkriminelle Blum, „an dem schon viele Booms vorbeigerauscht waren“, kann der Versuchung, für den Stoff, das „Coco“, einen Käufer zu suchen, mit einem Schlag steinreich zu werden und sich endlich seinen Traum von einer eigenen Bar auf den Bahamas zu erfüllen, nicht widerstehen. „Alles was du brauchst“, sagt er sich, „ist endlich eine Chance, eine einzige wirkliche Chance, den dicken Fisch, den großen Heuler, und dann Schluss mit der billigen Tour, einmal die Knete richtig rollen, Herrgott, die großen Lappen an Land ziehen, den Kopf aus der Scheiße heben, die echte Sonne sehen.“

Und so beginnt seine Reise zu Dealern an ständig wechselnden Orten, in Frankfurt, in einem schicken Landhaus auf dem Land, in Wesel, in Amsterdam und schließlich in Ostende. Von Anfang an ist klar: Es ist keine Reise, sondern eine aufreibende Flucht vor denen, die hinter ihm und den Drogen her sind. Sie führt zu Begegnungen mit dunklen Gestalten und Glitzerdamen in schäbigen Bars und Hotels, macht Blum sehr schnell zum Gejagten, so dass er zunehmend unter Verfolgungswahn leidet, und nimmt natürlich nicht den von ihm ersehnten Ausgang.

Fausers Roman erschöpft sich allerdings keineswegs in diesen stereotypen Handlungsverläufen herkömmlicher Kriminalromane. Er ist viel mehr als das. Er handelt eigentlich von der Leere des Lebens, von seiner Vergeblichkeit und Hoffnungslosigkeit, davon, dass der kleine Dealer immer, und strenge er sich noch so an und hoffe er noch so sehr auf das große Glück, klein, erfolglos und unbedeutend bleibt und sich letztlich in allem, was er in seinem Leben unternimmt, in einem Teufelskreis dreht, dem er nicht entrinnen kann. Immer wieder läuft er ins Leere, immer wieder unternimmt er neue Anläufe, immer wieder fehlt ihm die richtige Einsicht, immer wieder trifft er die falschen Entscheidungen.

Das hautnah beim Lesen mitzuerleben, macht die eigentliche Spannung des Romans aus. Der Autor versteht es meisterhaft, durch seine unterkühlte, lapidare Sprache dichte atmosphärische Situationen zu schaffen, Figuren mit scharfen Profilen zu zeichnen und eine Gedanken- und Gefühlswelt des Protagonisten zu beschreiben, die manchmal gruseln macht, weil er so blindlings auf einen falschen Traum setzt, was er eigentlich erkennen könnte, aber dazu nicht willens ist.

Viele Passagen im Roman thematisieren diese Haltung eines uneinsichtigen Losers. So heißt es einmal: „Sie haben mich aufs Eis gelegt, dachte er, wenn er bei Tag in den schmutzigen Himmel starrte; und wenn er nachts schweißüberströmt aus Angstträumen erwachte […], dachte er, jetzt grillen sie mich. […] und lachte und drückte die halbgerauchte Zigarette aus und drehte sich zur Wand, in den neuen, ewig gleichen Alptraum, der immer an weißen Stränden begann und stets in zerfallenden Städten, unter dunklen Monden, unter Fröschen mit Killer Augen und Blondinen mit blutroten Lippen endete, auf der Flucht.“

Es kommt Blum nicht in den Sinn, klein beizugeben, den Koffer den wirklich großen Dealern zu überlassen, seinen Traum von den Bahamas aufzugeben und wieder zu den Kleingeschäften mit den Pornoheften zurückzukehren. Gern sieht er sich als eine „Ein-Mann-Firma“ und glaubt, mit diesem Begriff seine Unabhängigkeit in sein Leben hinüberzuretten und seine Cleverness gegenüber der Drogenmafia betonen zu können.

Als ihm am Ende der Koffer mit dem Kokain in einer unspektakulären Szene von den Großkriminellen mit den weißen Westen einfach weggenommen wird, gibt ihm einer der neuen „Coco“-Besitzer einen zynischen Rat: „Machen Sie Ihre [Ein-Mann-] Firma zu, und fahren Sie zur Hölle.“

Am Ende steht der betrogene Betrüger mit leeren Händen da; er schaut am Strand von Ostende auf das nächtliche Meer:

Der Regen lässt nach. Die Flut schlug auf den Strand und schäumte über die Bojen, das Geröll, den Sand mit dem Kot und den Abfällen. Der Himmel war neblig-grau, mit bleichen Löchern darin, ohne Sterne. Weit weg auf der See tanzten die Lichter eines Fischkutters. Hier war er also, am Strand, und die Möwen hockten auf den Dächern der Hotels, in denen die Lichter ausgingen. […] Alles weg, alles fort, was er gehabt hatte. Er steckte sich die letzte Zigarette an. Vielleicht sollte ich sie mir mit dem letzten Geldschein anmachen, dachte er, aber so frei wurde man doch nie. Man blieb, was man war, man hatte noch Glück dabei, man wurde, was jeder werden wollte, ein Sieger im Kleinen, auf der langen Strecke zwischen Sekt und Selters. Eine Möwe fing über ihm an zu schreien, dann folgten ihr andere, und sie jagten über die dunklen Wellen, die immer näher an Blum heranschlugen. Im Dock heulten die Sirenen der Fähre.

Die Trostlosigkeit, die über Blums Leben liegt, wird verstärkt durch die Beschreibungen der trüb-schmutzigen Wintertage in den Städten, der ungastlichen kleinen Hotels und Absteigen und der wintrig-öden Landschaften, durch die Blum fährt. Fauser gelingt es meisterhaft, mit wenigen Sätzen das triste Bild eines Stadtteils oder einer Gegend vor den Augen des Lesers erstehen zu lassen. So heißt es von München:

Der Himmel hing wie eine schmutzige Asphaltdecke über den Dächern, und das war auch so ziemlich alles, was man von hier oben aus dem Penthouse sah. […] Draußen fiel jetzt Schneeregen, und die Stadt sah aus  wie ihr eigener Friedhof. Krähenschwärme flatterten über das Olympiastadion.

An solchen Örtlichkeiten kann, das spürt der Leser, keiner Glück haben oder gar gewinnen, und schon gar nicht einer wie Blum. Das ist eine Landschaft für Verlierer, für solche, die, wie es oben einmal heißt, „auf der Strecke zwischen Sekt und Selters“ immer bei dem letzteren landen.

Und noch etwas ist typisch für das Loser-Leben Blums. Nicht nur der Bahamas-Traum entschwindet für ihn in weite Ferne. Er hätte, wenn er nur ein wenig über sich hinausgewachsen wäre, vielleicht eine kleine Liebesgeschichte erleben können. Sie heißt in dieser Geschichte Cora. Blum lernt sie in einer Frankfurter Bar kennen.

Gute Figur, fand Blum, fast üppig, und ein Mund, der an die Bardot erinnerte; aber verlottert. Sie trug einen synthetischen Pelz, vorn offen, darunter einen schwarzen Kittel, alte Jeans, Stiefel, von denen der silberne Lack abblätterten und eine Umhängetasche.

Blum und Cora kommen sich näher, verbringen die Nacht miteinander, er erzählt ihr von seinen Plänen mit dem Kokain. Sie wird für kurze Zeit so etwas wie eine Komplizin. Er bleibt allerdings misstrauisch. Als er einmal ein Gespräch zwischen Cora und einer anderen Frau überhört, glaubt er, sie wolle ihn hintergehen. Er verlässt sie sofort und flieht Hals über Kopf aus Frankfurt. Erst am Ende seiner Flucht trifft er sie wieder in Ostende. In der entscheidenden Szene zwischen ihnen beiden beteuert sie, ihn nicht verraten zu haben, und bittet ihn, bei ihm bleiben zu dürfen. Blum weiß nicht, ob sie es ehrlich meint oder ihm nur etwas vormacht. Er sieht sich nah am Ziel und will in dieser Situation kein Risiko eingehen. Er stößt Cora zurück. Sie weiß, dass sie ihn verloren hat. Ihr Abschiedssatz klingt resigniert: „Manche Leute macht der Stoff kaputt, wenn sie zu viel davon nehmen. Und andere macht er kaputt, auch wenn sie ihn nur verkaufen.“

Blum kann sich im entscheidenden Moment von seiner verbohrten Dealer-Mentalität, die auch eine Verlierermentatlität ist, nicht befreien.

Der eigentliche Schlusssatz des Romans enthüllt eine Mischung aus Trotz, Einsicht in das Unabwendbare und eine fast absurd-groteske Gelassenheit Blums. Auf die Frage seines alten Bekannten aus Malta-Tagen, – auch er übrigens einer, der ihn verraten und verlassen hat,– was er jetzt vorhabe, antwortet er: „Ich seh mir die Show in der Roxy-Bar an“. Vorher war er schon einmal dort und sah in dieser Bar „etwas gespenstisch Ödes […], das große Loch, das Nichts“, was ihm damals einen Schauer über den Rücken jagte. Blum ist am Ende des Romans dort, wo er am Anfang war, in dem „großen Loch, dem Nichts.“

Es ist das Ende seines falschen Traums von den Bahamas.

Der Schneemann ist ein eindrucksvolles Buch, mit dessen Neuedition sich der Diogenes Verlag ein Verdienst erworben hat.

Titelbild

Jörg Fauser: Der Schneemann.
Diogenes Verlag, Zürich 2020.
272 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783257071337

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch