Eine Kriegsgeburt

Eckart Conze erinnert an die Reichsgründung vor 150 Jahren – „in weiter Ferne, so nah“

Von Karl BachsleitnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl Bachsleitner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rechtzeitig zum 150. Jahrestag der Gründung des Deutschen Reichs hat Eckart Conze, Historiker an der Philipps-Universität Marburg, unter dem Titel Schatten des Kaiserreichs  einen Band vorgelegt, der sich mit der Reichsgründung von 1871 und ihrem schwierigen Erbe befasst. Das Buch soll, so der Autor, „historische Analyse und geschichtspolitische Intervention“ sein.

Die historische Analyse des 1871 gegründeten deutschen Nationalstaats umfasst den größten Teil. Dabei geht es zum einen um die Vorgeschichte von 1871 („Der Weg zum Nationalstaat“), zum anderen um das Kaiserreich selbst („Der autoritäre Nationalstaat“). Conze legt keine neue Sicht auf das Kaiserreich vor, vielmehr folgt seine Darstellung im Wesentlichen der kritischen Interpretation des Kaiserreichs, wie sie mit Fritz Fischers Griff nach der Weltmacht 1961 begann und dann vor allem durch Hans-Ulrich Wehler seit 1973 gesellschaftsgeschichtlich weiter entwickelt wurde. Allerdings beschränkt sich Conze weitgehend auf die politikgeschichtliche Seite. Dies mag man als Manko betrachten, doch gelingt es ihm, die Grundzüge der politischen Entwicklung strukturiert und verständlich darzulegen.

Deshalb kann der Text auch als Grundriss der politischen Geschichte des Kaiserreichs und seiner Wurzeln gelesen werden, der sich aber nicht mit der Wiedergabe und Analyse historischer Entwicklungen begnügt, sondern deren Nachwirkungen („Begann 1871, was zwischen 1933 und 1945 so katastrophal endete?“) und Bedeutung für die Gegenwart (Renationalisierung nach 1990 in der „Berliner Republik“) im Auge behält. Bedauerlicherweise fehlt aber ein Personen- und Sachregister, das die Arbeit mit dem Buch erleichterte.

Als zentrale Aspekte der Darstellung des Wegs zur Reichsgründung sind zu nennen: die Ambivalenz des Nationalismus nach 1815, die gescheiterte Reichsgründung „von unten“ in der Revolution von 1848, das Verhältnis von Einheit und Freiheit, der preußische Verfassungskonflikt und die „Tragödie des deutschen Liberalismus“ (Friedrich Sell), Bismarcks Konzept der Reichsgründung „von oben“ und der im Wesentlichen militärischen Lösung der nationalen Frage durch die Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 mit dem Kaiserreich als „Kriegsgeburt“ im Spiegelsaal von Versailles.

Abgeordnete des Reichstags des Norddeutschen Bundes als Vertreter des Volkes spielten bei dieser Veranstaltung keine Rolle. Dafür war sie für Frankreich eine Demütigung und Provokation sondergleichen und ihr Schatten war als Ruf nach Revanche für diese Niederlage und die territorialen (Annexion Elsass-Lothringens) und materiellen (Reparationen) Verluste wirksam bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und zum Versailler Vertrag von 1919.

Der Schatten der Kriegsgeburt lag aber auch über dem Staat des Kaiserreichs, den Conze als autoritären Nationalstaat charakterisiert. Drei Schattenseiten beleuchtet Conze genauer: die Verfassung, den Nationalismus und den imperialen Machtstaat. So habe die „Polykratie miteinander rivalisierender Machtzentren“ (Wehler) vor allem nach 1890 eine konstruktive politische Willensbildung erschwert. Zwar habe das allgemeine Wahlrecht der Männer über die regelmäßigen Wahlkämpfe und den Reichstag als Ort politischer Debatten und Auseinandersetzungen zu einer fundamentalen Politisierung der deutschen Gesellschaft beigetragen. Angesichts der Machtlosigkeit des Reichstags, der fehlenden Parlamentarisierung und angesichts erheblicher antidemokratischer Komponenten des Wahlrechts könne aber nicht von einer beginnenden Demokratisierung gesprochen werden.

Conze setzt sich deutlich von Historiker*innen ab, die im Kaiserreich demokratisches Potential zu erkennen meinen. Er verweist dabei auch auf die gravierenden Ungerechtigkeiten des Dreiklassenwahlrechts bei der Wahl des preußischen Abgeordnetenhauses, wo 1913 die Deutschkonservativen, die Partei der ostelbischen Großgrundbesitzer, mit einem Stimmenanteil von 14,8% ein Drittel der Sitze erhielt, während die SPD, die es auf 28,4% der Stimmen brachte, lediglich 2,6% der Sitze – zehn von insgesamt 443 – gewann. Die massive Benachteiligung der sozialdemokratischen Partei wird auch bei den – nur auf den ersten Blick gleichen – Reichstagswahlen erkennbar und hätte zum Beispiel durch folgende Diskrepanz noch verdeutlicht werden können: Brauchte die SPD bei den Wahlen von 1898 27,2% der Stimmen, um 56 (von 397) Sitze zu erhalten, so benötigten die Deutschkonservativen für die gleiche Zahl von Sitzen lediglich 11,1% der Stimmen.

Conze hebt auch hervor, dass ursprüngliche demokratische Elemente des Nationalismus im Kaiserreich kaum mehr von Bedeutung waren, dafür der exklusive Charakter eines „Reichsnationalismus“ dominierte, der sich über die „Reichsfeinde“ definierte: die äußeren, allen voran Frankreich und die inneren, die den autoritären kleindeutsch-preußischen und protestantischen Nationalstaat ablehnten. Das betraf den politischen Katholizismus (Kulturkampf der 70er Jahre), die Sozialdemokratie (Sozialistengesetz 1878-1890), die nationalen Minderheiten und bald auch schon die deutschen Juden. Die Stiftung nationaler Identität durch Abgrenzung und Ausgrenzung, durch nationale Feindbilder, gehört zu den besonders dunklen und wirkmächtigen Schatten des Kaiserreichs.

Was den Weg in den Ersten Weltkrieg betrifft, so sieht Conze auch hier die Schatten von 1871. Denn die vermeintlich positiven Erfahrungen der erfolgreichen Kriegsgeburt schürten in Verbindung mit inneren Konflikten (Sozialimperialismusthese Wehlers) und außenpolitischen Spannungen, vor allem auf dem Balkan, die Kriegsbereitschaft im Kaiserreich. Ein schneller Sieg würde es endgültig zur Weltmacht machen und im Inneren den autoritären Nationalstaat stabilisieren. „Nach jedem Krieg wird es besser!“, so ein Zwischenrufer der Rechten im Reichstag bei einer Rede des SPD-Vorsitzenden August Bebel, der 1911 angesichts der Marokkokrise vor einem Krieg warnte.

Hervorzuheben ist auch, dass Conze in diesem Zusammenhang auf die deutschen Kolonialkriege eingeht, kurz auf den Maji-Maji-Krieg in Ostafrika von 1905 bis 1907 und intensiver auf den Völkermord an den Herero und Nama in den Jahren von 1904 bis 1908, und den deutschen Vernichtungskrieg der Jahre 1939 bzw. 1941 bis 1945 in eine historische Linie kolonialer Gewalt und genozidaler Vernichtung stellt, ohne durch eine einfache Gleichsetzung die Bedeutung des Holocaust zu relativieren.

„Ein vergangenes Reich?“, so lautet die Überschrift der „geschichtspolitischen Intervention“, die Conze im dritten Kapitel vornimmt. Er registriert die Erosion eines geschichtspolitischen Konsenses, der seit den 1960er Jahren bestanden habe, in kritischer Distanz auf die Geschichte des Kaiserreich zu blicken und auch auf Kontinuitäten, die für den Nationalsozialismus ursächlich waren. Als Beleg gelten ihm vor allem zwei Phänomene. Zum einen ist das die enorme öffentliche Aufmerksamkeit von Christopher Clarks 2013 erschienem Buch Die Schlafwandler. Es gab der seit der Fischer-Kontroverse überwunden geglaubten Erzählung neue Nahrung, dass die europäischen Mächte 1914 in den Krieg „hineingeschlittert“ seien (so der ehemalige britische Premierminister Lloyd George 1933) und es keine besondere Verantwortung des Kaiserreichs für den Ausbruch des Krieges gegeben habe.

Zum anderen greift Conze die seit 2019 geführte Debatte über die Entschädigungsansprüche der Familie Hohenzollern, der Nachkommen des letzten deutschen Kaisers, auf. Auch hier bröckele der Konsens, dass Hitler ohne die Unterstützung der konservativen Eliten, zu denen auch Kronprinz Wilhelm zählte, nicht an die Macht gekommen wäre und seine Herrschaft hätte stabilisieren können. So werde der Kronprinz im Gutachten eines Historikerkollegen gar als Widerständler dargestellt.

Conze befürchtet, dass hier zwei Tendenzen zusammentreffen und sich – sicher nicht in jedem Fall beabsichtigt – verstärken könnten: die Versuche von Historiker*innen, das Bild des Kaiserreichs als „normaler Nation“ weichzuzeichnen und die Forderungen von populistischen Rechten und Rechtsextremen nach einer „erinnerungspolitischen Kehrtwende“ (so Björn Höcke), nach der Propagierung einer „ruhmreichen Geschichte“ Deutschlands, in der der Nationalsozialismus nur ein „Vogelschiss“ (Alexander Gauland) gewesen sei.

Eine lehrreiche Lektüre in Zeiten, in denen auf deutschen Straßen und Plätzen des Öfteren wieder schwarz-weiß-rote Fahnen geschwungen werden.

Titelbild

Eckart Conze: Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe.
dtv Verlag, München 2020.
288 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783423282567

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