Spektakuläre Neu-Vermessung der Welt

Dietmar Dath legt mit „Gentzen oder: Betrunken aufräumen“ ein intellektuell und literarisch spektakuläres Werk vor, mit dem er unsere durch Algorithmen bestimmte digitale Welt vermisst und nach unserer Zukunft fragt

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dietmar Dath ist sicherlich einer der spannendsten deutschen Gegenwartsschriftsteller und bewegt sich immer wieder an der Schnittstelle zwischen Philosophie, Naturwissenschaft, Informatik und Science Fiction. 15 Romane, Lyrik- und Dramawerke sowie zahlreiche Sachbücher und Essays hat der 1970 geborene und frühere Chefredakteur der Spex sowie Feuilleton-Redakteur der FAZ schon veröffentlicht und dabei immer wieder die Genre-Grenzen gesprengt.

Ausgangspunkt seines neuen, sogenannten „Kalkülromans“ ist der deutsche Mathematiker und Logiker Gerhard Gentzen, der Grundlagen für unsere heutigen digitalen Codes und Algorithmen geschaffen hat. Seit zehn Jahren schreibt die autobiographisch angelegte Romanfigur Dietmar an einer Biografie über ihn, der mit dem NS-Regime kollaborierte und 1945 langsam in einem Prager Gefängnis verhungerte.

Von diesem Punkt aus knüpft Dietmar Dath ein verzweigtes Netzwerk aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit einer unübersehbaren Anzahl von Protagonisten aus Alltag, Kunst und Wissenschaft. Im Grundsatz geht es in diesem kaleidoskopischen und den Leser mit seiner Komplexität herausfordernden Roman immer wieder um die Frage, wie unsere digitale Welt funktioniert, was logisch beweisbar und ableitbar ist. So diskutiert Gerhard Gentzen in herrlich absurder Manier mit Lady Gaga über den Widerspruchsbeweis bei Primzahlen. Und unter Referenz auf weitere Mathematiker und Logiker wie Felix Hausdorff oder Albert Lautmann wird klar, „dass jedes formale Schlusssystem nur entweder vollständig oder widerspruchsfrei sein kann, also immer Löcher hat.“ Löcher, aus denen dann in der heutigen Welt immer wieder fatale Programmierfehler und Bugs resultieren.

Dies führt auch zum dystopischen Strang in diesem Roman, denn im Jahr 2030 ist Europa von einer mysteriösen tödlichen Seuche befallen. Ein kleiner Trupp von Spezialisten unter der Führung der ehemaligen Bäckereiverkäuferin Rima Abadi macht sich auf den Weg, um in Prag den Menschen zu finden, der diese Seuche mit einer von ihm programmierten „Maschine“ bekämpfen kann. Und dann ist da auch noch das Wesen ohne Namen und Gedächtnis, das verzweifelt nach seiner Identität sucht und ein Replikant zu sein scheint: „Anders bin ich, eigen bin ich noch nicht.“

Dietmar Dath erzählt all dies in kurzen Szenen und Sequenzen, die immer wieder an den ganz normalen Alltag und die Diskussionen von Dietmar und seinen Freunden anknüpfen. Sie stellen dabei auch die Frage nach der Zukunft unserer Gesellschaft zwischen Kapitalismus und Sozialismus, zwischen Rassismus und einer Anerkennung der Welt in all ihrer Vielfalt. Und es geht hier um eine Kunst und Literatur, die adäquat zu unserer gegenwärtigen Welt ist: „Kunst, die blind ist für die wahre Landschaft, die wir bewohnen – die physische Wirklichkeit im weitesten Sinne –, ist nichts als auf absurde, erbärmliche Weise scheuklappenbelastet und kurzsichtig.“

In diesem Sinne führt Dietmar Dath den Leser in Landschaften, die für die meisten ganz gehörig fremd sein dürften. Ihm gelingt es aber sowohl literarisch wie philosophisch den Leser zu bannen. Nach und nach verknüpfen sich in seinem avanciert arrangierten Erzählkosmos aus Wissenschaft, Fiktion und Alltagsdokumentation die vielen einzelnen Personen sowie die inhaltlichen Stränge und Splitter. Dem Leser eröffnen sich dabei immer wieder neue verblüffende Einsichten und Zusammenhänge, aber es bleiben vor allen Dingen viele offene Fragen und die letztliche Erkenntnis: „Selbst die ganze Wahrheit ist allenfalls ein Teil der ganzen Wahrheit.“

Titelbild

Dietmar Dath: Gentzen oder: Betrunken aufräumen. Ein Kalkülroman.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021.
500 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783751800358

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