Man ist, was man isst
Die italienische Küche ist für ihre regionalen Spezialitäten berühmt – alles Erfindung behauptet der italienische Historiker Alberto Grandi
Von Walter Delabar
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSpaghetti Bolognese? Pesto alla Genovese? Osso buco alla Milanese? Selbst der berühmte Parmesan, von anderen italienischen Spezialitäten einmal abgesehen bis hin zu den aromatischen Tomaten, die aus dem Süden dieses herrlich verrückten Landes stammen – alles Lüge? Kommt darauf an, denn es gibt diese Speisen und Spezialitäten ja durchaus, nur ihre Engschließung mit der nationalen italienischen Identität wird schwierig.
Alberto Grandi – seines Zeichen Historiker, und das auch noch an der Universität von Parma – isst vieles von dem anscheinend sehr gern, was das Resultat des kulinarischen Regionalschwenks Italiens war. Aber er hat sich davon verabschiedet, in all diesen berühmten italienischen Spezialitäten, die eng mit den Regionen Italiens verbunden werden, originäre, ja historisch tief verankerte Speisen zu sehen, die teilweise bis auf die Antike zurückgehen. Denn genau das, die historische Absicherung der Kochkunst der italienischen Regionen ist das Resultat einer mehr oder weniger konzertierten Kampagne italienischer Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die die teils reale teils nur imaginierte regionale Küche zu Hilfe nahm, um den Verlust an Identität, den die Nachkriegsmoderne mit sich bringt, in der Krise der 1970er Jahre zu kompensieren und als identitäres Erfolgsmodell zu etablieren. Mit anderen Worten, was das „Volk“ auf je verschiedene Weise der extremen Rechten und Linken, die Heimat (vor allem neuerdings) den Deutschen, die Insel den Briten ist die Regionalküche den Italienern, etwas was zum Quellcode ihrer Existenz gehört und das zu zerstören als Angriff auf die zentralen Elemente der in diesem Fall mal wieder nationalen Identität verstanden werden muss. Grandi hat, wie man sehen kann, deshalb auch schon recht viel Ärger bekommen.
Nun wird man angesichts der zahlreichen lieblos zusammengekochten italienischen Speisen, die einem auch innerhalb Italiens vorgesetzt werden, bereits eigene Zweifel am generellen Qualitätsbewusstsein der italienischen Gastronomie haben, aber darauf kommt es nicht an. Schlechte Köche gibt’s in jeder Küche. An der Beliebtheit der italienischen Küche, der typischen Gemüse- und Obstsorten, aber auch der Weine hat sich dadurch nichts geändert. Muss und soll auch nicht.
Jeder, der einigermaßen etwas auf sich hält, hat ein gediegenes italienisches Kochbuch, am besten gleich mehrere im Regal stehen – die Kaltenbach, den Silbernen Löffel, den GU-Band zu italienischen Küche, vielleicht sogar den Artusi, bis hin zu den wunderbaren Ausgaben des Kochbuchs des Londoner River Cafes, das einem schon beim Durchblättern Lust auf mehr, vor allem auf mehr Essen macht. Als exemplarisch für diese Ausdifferenzierung und Aufwertung der regionalen Küche Italiens und ihrer Implementierung ins kollektive, in diesem Fall deutsche Gedächtnis kann etwa Alice Vollenweiders kleiner Band Italiens Provinzen und ihre Küche, der erstmals 1990 bei Wagenbach erschien und zu einem der beliebtesten Begleiter auf Italienreisen wurde (zumindest in der Blase des Verfassers dieser Zeilen). Aber dass die beiden Begründerinnen des River Cafes aus der Werbebranche stammen, hätte misstrauisch machen können.
Dabei, so Grandi, musste selbst die italienische Küche überhaupt erst einmal als nationales Gut entworfen und implementiert werden. Die Ausdifferenzierung in die regionalen Küchen, die dezidiert eigenständig und doch zugleich als verbindendes nationales Element fungieren, kommt hinzu – Einheit in Vielfalt, quasi die Europäische Union im Nationalformat. Denn eine italienische Küche hat es bis zur Gründung des italienischen Nationalstaates nicht wirklich gegeben. Die höfische und großbürgerliche Küche war – wie überall in Europa – von Frankreich her bestimmt. Das Gros der Bevölkerung aß im übrigen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein das, was halbwegs zur Verfügung stand und den Hunger stillte. Brei, Brot, Öl, Wasser und vielleicht noch den Wein, der zu bekommen war. Fleisch und Käse waren deshalb noch sehr lange Luxusprodukte, die es nur für eine kleine soziale Schicht gab. In den nur gering entwickelten Ökonomien der Neuzeit bis in die Industrialisierung waren Spezialitäten Mangelware. Anders als der Hunger, den gab‘s reichlich.
Das begann sich mit der Gründung des italienischen Nationalstaats und der Industrialisierung zu ändern, aber eben mit einem anderen Fokus als heute: Im Vordergrund stand die Konstituierung einer mit der neuen nationalen Identität korrelierenden Küche, die dem sich entwickelnden Wohlstand des Bürgertums entsprach. Das ist in Deutschland nicht viel anders – was die Konjunkturen der Kochbücher am Ende des 19. und im frühen 20. Jahrhundert erklärt: Hier ging es nicht darum, konsolidiertes Wissen zu verbreiten, sondern vor allem darum, überhaupt erst einmal (Koch-) Wissen zu konsolidieren und einer bestimmten sozialen Gruppe zur Verfügung zu stellen. Als Arbeit an der Basis der nationalen Identität. In diesem Kontext liefern die Regionen nur, was dem Projekt Nation dient, anscheinend gehört dazu vor allem die typische italienische Speisenfolge, die wohl überall Gültigkeit besitzt. In diesem Zusammenhang veränderten sich allerdings auch die Produkte selbst, da sich Zutaten, Hygienestandards, Verarbeitungs-, Speicher- und vor allem Kühlmöglichkeiten veränderten. Soll heißen, ein Parmigiano des 18. Jahrhunderts hat wenig mit dem des frühen 21. Jahrhunderts zu tun. Dasselbe gilt für Weine und sogar für Olivenöl. Hinzu kommt, dass es Spezialitäten gibt, die sich überhaupt erst in dieser Zeit entwickelten, wozu eben auch die italienische Kernspeisen, Pasta und Pizza, gehören. Oder auch der Panetone, der erst mit der industriellen Fertigung zu dem wurde, was heute kleine, handwerkliche Betriebe produzieren. Keine Frage, es gab auch in den Jahrhunderten zuvor Nudelspeisen und eben Fladenbrote in Italien, aber sie begründen bis dahin keineswegs das Kernparadigma der italienischen Identität, weil sie im gesamten Mittelmeerraum verbreitet waren. Das ist das Ergebnis einer späteren Entwicklung und Entscheidung.
Denn, so Grandi, nach dem Zweiten Weltkrieg hatten Italiener und mit ihnen die italienische Politik vor allem die Überwindung des Hungers und der Armut und den Anschluss an die westliche Moderne im Blick, die beide Probleme zu lösen versprachen und lange Zeit auch (in welchem Maß auch immer) einlösten. Das hatte allerdings den Nachteil, dass das, was es bis dahin an nationaler Identität in Italien gab, zu Gunsten einer übergreifenden westlich und modern geprägten Kultur vernachlässigt wurde.
Dieser Kurs kam mit der Wirtschaftskrise in den 1970ern an seine Grenzen, was, so Grandi, eine Neuausrichtung der italienischen Ökonomie und Politik provozierte, nämlich die, verstärkt auf rurale Produkte und kulinarische Spezialitäten zu setzen und dies in den Mittelpunkt der Produktion von nationaler Identität zu stellen, was eben auch die Förderung der touristischen Entwicklung des Landes nach sich zog. Die Engführung Italiens mit seinen Spezialitäten und touristischen Attraktionen, ist, wenn man Grandi folgt, damit ein sehr junges Phänomen. Im Rahmen dieser Kampagne wurden zahlreiche regionale Siegel entwickelt und vergeben, mit denen die Authentizität einer Spezialität wenn nicht gewährleistet, so doch wenigsten versichert wurde. Dabei wurden diese Spezialitäten teilweise überhaupt erst in jüngerer Zeit entwickelt oder zeigten erst seit kurzem jene Merkmale, mit denen sie heute verbunden werden. Wer erinnert sich denn heute noch an den leicht moussierenden Chianti in den Korbflaschen, der noch in den 1980ern zu bekommen war? Heute erfüllt jeder Wein genau die Anforderungen, die ein internationales Publikum an ihn stellt und die seine Vermarktung überhaupt erst ermöglicht. Zudem wurde in diesem Prozess der Rücktransfer italienischer Speisen aus Migrantenkreisen vor allem der USA vorangetrieben: Die italienischen Auswanderer des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bildeten in ihren Zielländern und nicht zuletzt in den USA noch lange Zeit eine Art Subproletariat mit wenig Ansehen, das – derart bedrängt – nach Möglichkeiten suchte, eine eigene Identität überhaupt erst einmal zu bestimmen. Speisen und Spezialitäten waren da das Naheliegende – wie auch, dass in diesem Prozess die identitätsstiftenden Produkte nicht einfach nur übernommen, sondern angepasst, weiterentwickelt und teils überhaupt erst erfunden wurden. Um sie dann später wieder in das Kulturkonzept des neuen Italiens einzuspeisen. Was dazu führt, dass so manche heute genuin italienische Speise zuerst in New York gekocht worden ist. Zum Beispiel.
Das alles ist bereits seit längerem halbwegs bekannt, wird aber gern ausgeklammert und ignoriert – was dazu geführt hat, dass der Skandal um Grandis kleine entmythologisierende Schrift große Wellen geschlagen hat (wahrscheinlich gibt es deshalb auch endlich eine Übersetzung ins Deutsche, wer wills beklagen). Dem gegenüber lässt sich aber tunlich und mit Grund behaupten: Die italienische Küche ist gerade deshalb so gut, weil sie verschiedene Einflüsse eingebunden hat, und das auf ihre spezifische Weise. Identität ist halt ein fragiles Ding, und konstruiert allemal.
|
||