Die „geistreichste Frau des Universums“

Zum 250. Geburtstag Rahel Varnhagens

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

1.

Rahel Levin, die 1814 Karl August Varnhagen heiratete und unter seinem Namen berühmt wurde, ist eine unverwechselbare Gestalt des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Im Unterschied zu manchen anderen Männern und Frauen ihrer Zeit, auch zu einigen, die damals bekannter waren als sie, ist ihr Glanz nicht verblasst. Schon zu Lebzeiten hatte sie berühmte Verehrer, nicht zuletzt Schriftsteller. Ludwig Börne und Heinrich Heine gehörten zu ihnen, Franz Grillparzer und Gottfried Keller. Auch Beethoven war von ihr so beeindruckt, dass er ihr einen Abend lang auf dem Fortepiano vorspielte. Goethe hat sie nicht verehrt, wohl aber geschätzt, ähnlich war es mit Fichte und Hegel.

Bis heute genießt sie hohes  Ansehen: als „große Denkerin“ (Barbara Hahn) oder  als „unvergleichlichste Schriftstellerin der Deutschen“ (Uwe Schweikert). Karl Jaspers hat sie, ihrer berühmten Biografin Hannah Arendt gegenüber, als „große Erscheinung“ gelobt und „das Unbedingte“ in ihr jenseits des „Soziologischen und Psychologischen“ hervorgehoben: „die Qualität ihrer persönlichen Wirkung, die Totalität ihrer Einsicht, das Wissen um die Dinge im Verborgenen, das Zeitlose im Zeitlichen“. Heine zollte ihr ein noch höheres Lob, als er von ihr als „der geistreichsten Frau des Universums“ sprach.

Dabei hat sie ein großes künstlerisches oder philosophisches Werk nicht vorzuweisen. Ihre vorderhand bekannteste Leistung war, als soziale, vergänglich. Mehr als drei Jahrzehnte lang prägte sie, allerdings mit Unterbrechungen, als große ‚Salonnière‘, die bekannt für ihren Geist und ihren Witz war, das gesellschaftliche Leben in Berlin mit. Unter den jüdischen Gastgerberinnen dieser Zeit ist sie die bedeutendste, noch vor der etwas älteren Henriette Herz. Bei ihr gingen, eine Zeit lang, Adelige und Bürger, Professoren und Politiker, Schauspieler und Künstler ein und aus – von den Brüdern Humboldt und den Brüdern Schlegel über Tieck und Kleist, Hegel und Leopold von Ranke bis zu Friedrich Gentz und dem preußischen Prinzen Louis Ferdinand. Fast alles, was damals in der Berliner Kultur Rang und Namen hatte, verkehrte bei ihr. Zeitlebens bewegte sie sich in der sogenannten guten Gesellschaft und begegnete zahlreichen Berühmtheiten. Nicht zuletzt durch den Umgang mit ihnen wurde sie selbst berühmt.

Viele sehen in Rahel Varnhagen auch eine Repräsentantin des deutschen Judentums ihrer Zeit, obwohl oder gerade: weil sie sich taufen ließ. Sie war die Tochter eines friederizianischen Schutzjuden und gehörte zur ersten Generation, die in den Genuß der preußischen Judenemanzipation kam. Ihr Leben und Erleben ist in vielem typisch für assimilierte Juden ihrer Zeit. Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass sie „eine Ausnahmeerscheinung“ in der Geschichte des Judentums, auch in der „der jüdischen Frau“ (Deborah Hertz) darstellt. Deren traditionelle Rolle hat sie für sich nicht angenommen.

Noch unverheiratet, hat sie versucht, als Salondame in der Berliner Gesellschaft eine Rolle zu spielen. Durch diesen Ehrgeiz und durch ihre Mißachtung religiöser Gebräuche wurde sie bald „eine Außenseiterin in der jüdischen Gemeinde“ (Deborah Hertz). Weil sie ein Teil der deutschen Gesellschaft und ihrer Kultur sein wollte, erfuhr sie noch nach ihrem Tod viel Ablehnung – nicht zuletzt von völkisch denkenden Deutschen. Dabei ist offensichtlich, welche Bereicherung für die deutsche Kultur Juden bedeuteten und bedeuten. Rahel war die erste Frau, an der das zu erkennen war, so wie später etwa noch an Rosa Luxemburg, Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs und Hannah Arendt.

2.

Schon als junge Frau wollte Rahel Levin zuallererst als Mensch angesehen werden. Am 1. April 1793 schrieb sie ihrem Freund David Veit in einiger Erregung: „kann ein Frauenzimmer dafür, wenn es  a u c h  ein Mensch ist? […] (und das Gedanken hat wie ein anderer Mensch)“. Ihrem Verehrer Jean Paul ließ sie sieben Jahre später wissen, wie wichtig es ihr sei, „ein weiblicher Mensch: mit einem Wort“ zu sein.

Von sich zu sagen, man sei ein Mensch, kann leicht banal oder sentimental klingen. Das ist es aber nicht, wenn einem oder einer verwehrt wird, sich als Mensch zu entfalten, ihm oder ihr Menschenrecht oder Menschenwürde verweigert wird. Rahel Levin empfand ihr Leben lange so. Immer wieder sah sie sich vor allem auf zwei Rollen verwiesen, die sie als Einschränkungen empfand.

Die eine Rolle war die der Frau, die dem Mann Kinder gebärt, den Haushalt führt und ein gesellschaftliches Leben nur an seiner Seite hat. Ihre Familie wartete lange ungeduldig darauf, dass sie endlich einen Mann finde. Sie aber hatte Vorbehalte, weniger gegen Männer als gegen die Ehe. Eine „Heirath“, schrieb sie 1793, gleiche ebenso sehr „einer Einschränkung“ wie „ein Amt oder Stand“. Erst spät, nach einigen Enttäuschungen und nach längerem Zögern, heiratete sie, nicht ohne sich vergewissert zu haben, dass sie ihre Freiheit nicht würde aufgeben müssen.

Die andere Rolle, auf die man sie verwies, war die der Jüdin – was sie zeitweise  noch entschiedener ablehnte. Als junge Frau wollte sie sich aus dem Judentum lösen; sie glaubte nicht an seinen Gott, dem Volk fühlte sie sich nicht tief verbunden. Später  heiratete sie einen Nicht-Juden und ließ sich dafür taufen. Dem Antisemitismus ist sie gleichwohl nicht entronnen, nicht einmal in ihrem Freundeskreis. Sie fand für ihn scharfe Worte, denn auch nach der Konversion blieb ihr Verhältnis zum Judentum respektvoll.

3.

Lange Zeit hatte sie, sei es als Mademoiselle Levin oder Frau Varnhagen, vor allem in Berlin einen Namen. Ihr gesellschaftlicher Erfolg beruhte wesentlich auf ihrem Verständnis von Geselligkeit. Nicht formelle Konversation wurde in ihrem Salon gepflegt, sondern das Gespräch – von dem sie zumindest immer hoffte, dass es offen und aufrichtig sei. 1824 schrieb sie dazu: „Am Ende kann man gar kein Gespräch mehr erdulden, was sich nur auf der Peripherie herum treibt; man muß aus dem Centrum sprechen“. Im Gespräch glaubte Rahel, als Mensch andere Menschen erreichen zu können. Und so, als Menschen, sollten sie sich auch im Gespräch zeigen. „Im Salon“, schreibt Hannah Arendt, „treffen sich die, welche gelernt haben, im Gespräch darzustellen, was sie sind“. Rahels Salons scheinen nicht zuletzt aus diesem Grund ein Höhepunkt in der Geschichte der Gesprächskultur gewesen zu sein.  

Weithin bekannt, ja berühmt wurde sie aber erst durch Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde, das ihr Mann noch im Jahr ihres Todes herausgab. Ursprünglich tatsächlich nur eine Freundesgabe, fand es begeisterte Leser und Leserinnen und wurde schließlich auf insgesamt drei umfangreiche Bände ergänzt. Durch ihre Korrespondenz vor allem ist Rahel der Nachwelt in Erinnerung geblieben. An Hunderte von Personen hat sie Tausende von Briefen geschrieben. Eine ähnlich umfangreiche Sammlung von schriftlichen Zeugnissen aus dem Leben einer Frau, zumal einer jüdischen hatte es zuvor nicht gegeben.

In den Briefen ist Rahel Varnhagen im ganzen Reichtum ihrer Persönlichkeit zu erkennen: als besorgte und fürsorgliche Schwester; als unglücklich Verliebte; als selbstbewußte und verständnisvolle Ehefrau; als kluge Selbstbeobachterin, die allerdings auch sehr von sich eingenommen sein konnte; als ungewöhnliche Menschenkennerin, deren Rat viele einholten; als kultivierte Dame, die musikalisch und literarisch, selbst philosophisch gebildet war und sich immer ihre eigenen Gedanken machte; als zunehmend wache Zeitgenossin von unbestechlichem Urteil; als Wohltäterin Verwundeter und Armer in Krieg und Frieden; als Freundin, die Menschen zusammenführen wollte; schließlich als eine bei allen Irrtümern unermüdlich Wahrheit und Wahrhaftigkeit suchende Frau. Das alles – und manches mehr – gehörte für sie dazu, ein ‚weiblicher Mensch‘ zu sein. Dabei bestand sie darauf, „keinen Titel, keine Pflicht, keinen Namen, kein Amt“ zu haben, die sie hätten einschränken können, und nur durch die Kraft ihrer Persönlichkeit zu wirken.

Das Buch des Andenkens, das am Ende ungefähr 1.800 Seiten umfaßte, zeigte schließlich auch, dass Rahel Varnhagen nicht nur in ihrem Salon Schriftsteller empfing, sondern selbst schrieb, neben Briefen vorzugsweise kurze, pointierte Aufzeichnungen zu den unterschiedlichsten Themen. Durch deren Publikation verschob sich nach ihrem Tod vollends das Bild, das von ihr in der Öffentlichkeit umging: von der vermeintlichen Muse zur heimlichen Autorin. Die Salondame wurde selbst als schreibende Frau kenntlich. Sie war nicht nur eine große Briefstellerin, sondern auch die erste bedeutende Aphoristikerin der deutschen Literatur.

4.

Rahel Varnhagen erscheint heute nah und fern, vertraut und fremd zugleich. Sie gehört nicht nur einer anderen Zeit an, unter deren Bedingungen sie lebte. Sie hatte auch ihre eigene Vorstellung davon, was es heißt, ein ‚Mensch‘ und ein ‚weiblicher Mensch‘ zu sein. Sie wußte, dass sie ihren eigenen Weg gehen mußte, und sie ging ihn so geradlinig sie konnte. Sie wollte vor allem frei sein: „Freiheit“, schrieb sie, „ist nur, nach seinen Prinzipien handeln zu dürfen“. 

Auch wenn zahlreiche Verbindungslinien von ihr zu uns verlaufen – anziehend an ihr ist noch immer das, was sie besonders und unverwechselbar macht: ihre sich unmittelbar mitteilende Lebendigkeit, ihre Originalität und die Tiefe ihrer Gedanken. Schon manche auch ihrer männlichen Zeitgenossen erkannten, dass sie in ihrer Intelligenz und Sensibilität etwas Genialisches hatte. Nach dem Humanitätsideal ihrer Zeit, das sie vor allem bei Goethe fand, bildete sie sich selber als Mensch und lebte wie wenige die Idee der Individualität. 

Dass Rahel dabei viele Eigenschaften in sich vereinigte und nicht unbedingt ohne Widersprüche, versteht sich fast von selber; „widersprechende Eigenschaften, in Harmonie gebracht,“ schrieb sie 1812, „machen den großen Mann“. Die große Frau auch: Das, unter anderem, macht ihren Reichtum aus. Rahel entstammte der Oberschicht, dachte jedoch in vielem nicht wie sie. Sie verkehrte mit Adeligen und sorgte sich immer wieder um Notleidende. Ohne finanziell unabhängig zu sein, war sie selbstständig. Sie war eigenwillig, aber keine Rebellin. Nicht nur einer Gruppe, welcher Art immer, wollte sie angehören, sondern bezog sich lieber „auf die  g a n z e  Menschheit“. Eine gute Freundin zu sein, Frauen wie Männern, bedeutete ihr viel – manchmal mehr als den Menschen, mit denen sie sich befreundet glaubte. Sie bemühte sich, von anderen gut zu denken und ihnen auch Gutes zu tun, selbst wenn ihr das nicht vergolten wurde. Sie wollte verstehen und verstanden werden, fand aber nicht viele, die sich für sie der gleichen Mühe unterzogen.

Dabei war sie kein ausbalancierter Mensch von gleichbleibendem Temperament. Sie war lebhaft und nachdenklich, nüchtern und leicht erregbar, zurückhaltend und überschwänglich, selbstbewußt und selbstlos, anspruchsvoll und hilfreich, hochmütig und bescheiden. Nur verstellen konnte sie sich offenbar schlecht, und lügen verabscheute sie. Was sie auch fühlte, dachte und tat – sie versuchte immer sie selbst zu sein.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Essay beruht wesentlich auf: Dieter Lamping: Rahel Varnhagen. Ich lasse das Leben auf mich regnen. Berlin: ebersbach und simon 2021 (blue notes 93). Eine Lesung und ein Gespräch mit Prof. Dr. Dieter Lamping und Dr. Peter Waldmann über Rahel Varnhagen ist ab dem 19.5.2021 auf der Seite https://www.ebersbach-simon.de/veranstaltungen/zum-250-geburtstag-von-rahel-varnhagen als Video abrufbar.