Ein vielgelesener Chronist der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts

Neuerscheinungen zum 50. Todestag von Erich Maria Remarque

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Im Westen nichts Neues hat Erich Maria Remarque einen der wichtigsten Romane des. 20. Jahrhunderts geschrieben. Der desillusionierende Bericht über eine Generation, „die vom Krieg zerstört wurde“ (so der Autor), orientierte sich am Geist der „Neuen Sachlichkeit“, die auch den Erzählstil prägte und das Buch Millionen von Lesern zugänglich machte. Im Westen nichts Neues wurde so innerhalb weniger Monate zu einem internationalen Bestseller.

Am 22. Juni 1898 wurde Erich Paul Remark als Sohn des Buchbinders Peter Franz Remark (1867–1954) und seiner Ehefrau Anna Maria, geb. Stallknecht (1871–1917), in Osnabrück geboren. Es waren kleinbürgerliche, eher ärmliche Verhältnisse. Eine weiterführende Schule konnten die Eltern ihren drei Kindern (Erich, Erna (*1900) und Elfriede (*1903)) nicht bieten. Daher besuchte Erich die Volksschule und danach das katholische Lehrerseminar. Im Sommer 1916 wurde der Achtzehnjährige als Rekrut an die Westfront des Ersten Weltkrieges eingezogen. Aber bereits nach wenigen Wochen erlitt er eine schwere Verwundung durch Granatsplitter. Mit einem längeren Hospitalaufenthalt in Duisburg war sein Fronteinsatz beendet. Nach der Genesung arbeitete er in der Schreibstube des Hospitals, wo erste Entwürfe für einen Roman über den Krieg entstanden.

Nach Kriegsende kehrte Remark nach Osnabrück zurück und setzte zunächst seine Ausbildung zum katholischen Volksschullehrer fort. Nach einer kurzen Aushilfstätigkeit als Lehrer quittierte er bereits den Schuldienst und verdiente mit Gelegenheitsjobs (Buchhalter, Grabsteinverkäufer, Klavierlehrer oder Theaterkritiker) seinen Lebensunterhalt. In dieser Zeit entstand auch sein erster Roman Die Traumbude. Ein Künstlerroman (1920), der aber ein Misserfolg wurde. Trotzdem war diese Veröffentlichung für den werdenden Schriftsteller Anlass zur Änderung seines Namens: Erich Maria (nach dem Vornamen der Mutter) Remarque (nach dem Familiennamen des Urgroßvaters).

1922 verließ Remarque Osnabrück und ging nach Hannover, wo er als Werbetexter und verantwortlicher Redakteur für die Werkszeitung Echo Continental der Continental Gummiwerke AG tätig war. 1925 zog es ihn in die Hauptstadt Berlin. Hier verdiente er sein Geld als Redakteur der Zeitschrift Sport im Bild, für die er auch zahlreiche Reisen unternahm. Neben der Bürotätigkeit in Hannover und Berlin entstanden die Romane Gam (1923/24) und Station am Horizont (1927/28). Im Oktober heiratete er die Tänzerin Jutta Ilse Zambona zum ersten Mal. Ein zweites Mal folgte 1938.

Ein Jahrzehnt nach seinen Kriegs- und Lazaretterlebnissen entstand der Roman Im Westen nichts Neues, den Remarque zunächst dem S. Fischer Verlag anbot. Der lehnte das Manuskript jedoch ab; man hielt das Thema für nicht mehr aktuell. Wer interessierte sich zehn Jahre nach dem Ende des Krieges noch dafür? Schließlich druckte die Vossische Zeitung den Roman in Fortsetzungen vom 10. November bis zum 9. Dezember 1928 ab. Die leicht veränderte Buchausgabe erschien dann am 31. Januar 1929 im Prophyläen Verlag, Berlin. Die Geschichte des 19-jährigen Paul Bäumer und seiner Kameraden, die als ahnungslose Kriegsfreiwillige von der Schulbank an die Westfront kommen, wird zum bis dahin größten Erfolg der deutschen Literaturgeschichte. Nüchtern, reportageartig und mit schonungsloser Offenheit beschreibt Remarque das Frontleben zwischen Trommelfeuer, Kameradschaft und Verzweiflung. Es sind eindringliche und ungeschminkte Schilderungen ohne jegliches Pathos wie z.B. am Schluss des Buches:

Er fiel im Oktober 1918, an einem Tag, der so ruhig und still war an der ganzen Front, dass der Heeresbericht sich nur auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden.

Er war vornüber gesunken und lag wie schlafend an der Erde. Als man ihn umdrehte, sah man, dass er sich nicht lange gequält haben konnte – sein Gesicht hatte einen so gefassten Ausdruck, als wäre er beinahe zufrieden damit, dass es so gekommen war.

Neben Hemingways In einem andern Land, Ludwig Renns Krieg und Arnold Zweigs Der Streit um den Sergeanten Grischa wurde Im Westen nichts Neues zum Inbegriff für den desillusionistischen Kriegsroman. Schon im ersten Jahr wurde das Buch in 26 Sprachen übersetzt. Im Sommer 1930 war in Deutschland bereits eine Auflage von über einer Million verkauften Exemplaren erreicht (weltweit 3,5 Millionen). Der norwegische Dichter und Nobelpreisträger Bjørnstjerne Bjørnson (1903) schlug Remarque sogar für den Literatur-Nobelpreis vor. Den Nationalsozialisten, die gerade ihre Machtübernahme vorbereiteten, war dieser Erfolg ein Dorn im Auge. Sie überzogen Remarque mit einer beispiellosen Hetzkampagne und stellten ihn als Lügner dar. Immer wieder störten sie massiv Kinovorstellungen der US-Verfilmung des Romans (unter der Regie von Lewis Milestone), die am 4. Dezember 1930 in Berlin Premiere hatte.

Von dem finanziellen Erfolg erwarb Remarque 1931 die einstige Böcklin-Villa Casa Monte Tabor in Porto Ronco am Ufer des Lago Maggiore bei Ascona, die über viele Jahre zu seinem Rückzugsort werden sollte. Im selben Jahr erschien der Roman Der Weg zurück, der eine Fortführung von Im Westen nichts Neues ist. Die Handlung setzt auf dem Schlachtfeld ein, wo Paul Bäumer wenige Tage vor dem Waffenstillstand 1918 den Tod fand. Die Frontrückkehrer kehren heim, doch sie finden nicht zurück ins Zivilleben. Remarque thematisierte nicht nur die Entfremdung von der Heimat und der Familie, auch die physischen und psychischen Folgen der betrogenen, missbrauchten „noch Übriggebliebenen“ waren sein Anliegen.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden Remarques Romane verboten und im Mai 1933 als „literarischer Verrat am Soldaten des Ersten Weltkriegs“ den Flammen der Bücherverbrennung übergeben. Obwohl Remarque ein unpolitischer Mensch war, gewährte er deutschen Emigranten in seinem Haus in Porto Ronco Unterschlupf und unterstützte sie finanziell. Mitte der 1930er Jahre unternahm er längere Reisen, u.a. nach Paris, Salzburg, St. Moritz oder Venedig. Dazwischen entstand der Roman Drei Kameraden (1936), der in den 1920er Jahren in Berlin spielt, mit seinen politischen Unruhen, mit Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Not, aber auch mit der erwachten Lebensfreude nach dem verlorenen Krieg. Der Autor brachte hier seine Enttäuschung über die Weimarer Republik zum Ausdruck.

Nach der Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft 1938 emigrierte Remarque mit Ilse Jutta Zambona wenige Monate später in die USA. Den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erlebte er während der Überfahrt mit der „Queen Mary“. Nach seiner Ankunft hielt er sich vorwiegend in Hollywood/Los Angeles (bis 1942) auf, wo er Bekanntschaft mit zahlreichen anderen Emigranten hatte, mit Hans Sahl, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht oder Alma und Franz Werfel. Remarque, der durch die englischsprachigen Ausgaben seiner Werke in Amerika eine Berühmtheit war, genoss diese hohe Anerkennung und gab gern den Welt- und Lebemann – häufig in Gesellschaft schöner Hollywood-Stars wie Greta Garbo, Lupe Velez oder Paulette Goddard, seiner späteren Ehefrau (1958). Nach drei Jahren traf er auch seine große Liebe wieder: Marlene Dietrich. Die beiden waren sich 1937 in Venedig zum ersten Mal begegnet; es war der Beginn einer langen, aufwühlenden Fernbeziehung mit Hunderten von Briefen und Telegrammen über den Atlantik hinweg.

Das erste in Amerika geschriebene Buch war Flotsam (1941, dt. Liebe Deinen Nächsten 1953), in dem sich Remarque erstmals mit dem Thema Emigration beschäftigt. Der Roman erhielt zwar positive Kritiken, doch gemessen an den Auflagen der beiden vorhergehenden Romane war er kein großer Erfolg. Dennoch bewirkte er, dass US-Präsident Roosevelt und seine Frau den verfolgten Emigranten die Einreise nach Amerika erleichterten. 1943 zog Remarque schließlich nach New York um, wo auch sein Roman Arc de Triomphe (1945) entstand, mit dem er wieder an den Erfolg von Im Westen nichts Neues anknüpfen konnte. Geschildert wird das Exilschicksal des deutschen Chirurgen Dr. Ravic, der nach der geglückten Flucht aus einem KZ nach Paris emigriert ist und hier den Gestapo-Agenten Haake trifft, der seine Frau zu Tode gefoltert hat. Bereits 1946 wurde der Roman mit Ingrid Bergmann, Charles Boyer und Charles Laughton in den Hauptrollen verfilmt.

Ab 1948 lebte Remarque abwechselnd in Porto Ronco und New York. In den beiden nächsten Romanen Der Funke Leben (1952) und Zeit zu leben und Zeit zu sterben (1954) widmet er sich der deutschen Wirklichkeit während der Nazidiktatur. Dem Roman Der Funke Leben, der in einem Konzentrationslager in der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges spielt, gingen umfangreiche Recherchen des Autors voraus – u.a. befragte er zahleiche Augenzeugen. Zunächst erschien der Roman, der von Schuld und Versagen der Deutschen berichtet, in den USA; bei deutschen und Schweizer Verlagen stieß er jedoch auf großen Widerstand, sodass es schließlich nur eine zensierte und entschärfte Ausgabe gab. Für viele Deutsche war der Autor ein „Nestbeschmutzer“. Im Tagebuch notierte Remarque später: „Die Deutschen sind so großzügig darin, ihre Untaten zu vergessen …“. Bis in die 1960er Jahre war man in der Bundesrepublik nicht bereit, sich mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Erst seit 2018 liegt der vollständige Text als Buchausgabe vor. Dies ist sicher auch ein Grund, dass Der Funke Leben im Gegensatz zu den beiden anderen Romanen zum Thema Konzentrationslager Jakob der Lügner von Jurek Becker und Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz selbst bis heute relativ unbekannt geblieben ist.

In Zeit zu leben und Zeit zu sterben prangert Remarque ebenfalls das Unrecht und die Gewalt des Krieges an. Der junge Soldat Ernst Graeber erlebt den Rückzug an der Ostfront, wo er an den Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung beteiligt ist. Während eines unerwarteten Fronturlaubs in der von Bomben zerstörten Heimatstadt findet er in der Liebe zu Elisabeth eine Ablenkung von der Sinnlosigkeit des Krieges. Die Frage nach der persönlichen Schuld lässt ihn jedoch nicht los. Nach der Rückkehr an die Front wird er von einem russischen Gefangenen erschossen. Die deutsche „entschärfte“ Ausgabe des Romans unterschied sich wiederum in wesentlichen Punkten von den zeitgleich erschienenen fremdsprachigen Übersetzungen.

In seinem späten Roman Der schwarze Obelisk (1956) bewies Remarque noch einmal seine unverminderte Schaffenskraft. Der Roman mit dem Untertitel Geschichte einer verspäteten Jugend wird vielfach für sein künstlerisch reifstes Werk gehalten. Mit autobiografischem Bezug gestaltet Remarque hier die Geschichte einer verlorenen Generation zur Zeit der Inflation und des aufkeimenden Nationalsozialismus – exemplarisch an dem 25-jährigen Kriegsheimkehrer Ludwig Bodmer, der seinen Beruf als Lehrer aufgegeben hat und seinen Lebensunterhalt als Grabsteinverkäufer und als Organist in einer Irrenanstalt bestreiten muss. Das Grabdenkmal in Form eines schwarzen Obelisken, der seit den Gründungsjahren des Deutschen Reiches ein unverkäuflicher Ladenhüter ist, wird zum symbolhaften Ankläger eines Jahrhunderts deutscher Geschichte. Zugleich ist der Roman auch eine Auseinandersetzung mit den Ursachen des Nationalsozialismus und der mangelnden Aufarbeitung im Nachkriegs-Deutschland. Bereits im Prolog beklagt Remarque den Zerfall humanistischer Werte:

Den Frieden der Welt! Nie ist mehr darüber geredet und nie weniger dafür getan worden als in unserer Zeit; nie hat es mehr falsche Propheten gegeben, nie mehr Lügen, nie mehr Tod, nie mehr Zerstörung und nie mehr Tränen als in unserm Jahrhundert, dem zwanzigsten, dem des Fortschritts, der Technik, der Zivilisation, der Massenkultur und des Massenmordens.

Remarques Roman Der Himmel kennt keine Günstlinge (1961) ist eine Geschichte aus dem Rennfahrermilieu, eine bittersüße Romanze zwischen der lungenkranken Lilian und dem waghalsigen Rennfahrer Clerfayt. Die Literaturkritik urteilte jedoch heftig und z.T. hämisch; sie warf dem Autor vor allem Sentimentalität und Routine vor. In seinem letzten vollendeten Roman Die Nacht von Lissabon (1962) verarbeitet Remarque dann noch einmal ganz persönliche Erlebnisse aus der Zeit der Nazidiktatur. Zu Freiwild geworden, flüchten Menschen über die Schweiz nach Paris, nach Marseille, durch Spanien nach Lissabon. Von dort legen die Schiffe ab, die zum rettenden Kontinent Amerika übersetzen. An der Geschichte des Josef Schwarz werden die unmenschlichen Strapazen, die tödlichen Gefahren dieser Flucht geschildert, aber auch Menschlichkeit und gegenseitige Hilfe unter den Gleichgesinnten.

Thematisch an Die Nacht von Lissabon schließt der nachgelassene Roman Schatten im Paradies (Arbeitstitel New Yorker Intermezzo) an, den Remarque 1967/68 vorläufig abschloss und beiseite legte. 1971 erschien der Roman über die New Yorker Emigrantenszene dann in einer stark gekürzten Fassung. Erst 2018 konnte die Originalfassung rekonstruiert und veröffentlicht werden. In seinen letzten Lebensjahren hatte Remarque bereits mit einer Neufassung des Romans begonnen. Das Fragment Das gelobte Land erschien erstmals 1998 anlässlich seines 100. Geburtstages.

Erst in den 1960er Jahren wurde Remarque endlich die Anerkennung als Schriftsteller in der Bundesrepublik zuteil, die er bei seinen Lesern schon lange genoss. Seine Geburtsstadt Osnabrück verlieh ihm 1963 nach kontroverser Diskussion die Justus-Möser-Medaille als höchste Auszeichnung der Stadt für seine Verdienste um „Frieden, Freiheit und Menschenwürde“. 1967 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz und ein Jahr später wurde er als Mitglied in die „Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung“ aufgenommen – eine Ehrung, die den inzwischen 70-jährigen Schriftsteller sehr gefreut hat. Die deutsche Staatsbürgerschaft, die ihm 1938 aberkannt wurde, erhielt er jedoch nicht zurück. Die deutschen Behörden verlangten von ihm einen Antrag zur Wiedererlangung. Remarque lehnte jedoch ein „Bittschreiben“ ab: „Wie komme ich dazu? Ich habe mich doch nicht selber ausgebürgert!“

Wegen seiner angeschlagenen Gesundheit zog er sich immer mehr aus dem öffentlichen Leben zurück. Die Wintermonate verbrachte er zumeist im mediterranen Klima Roms. Am 25. September 1970 starb Erich Maria Remarque in einer Klinik in Locarno und wurde auf dem Friedhof in Ronco beigesetzt.

Unterhaltungsprosa und Trivialliteratur eines Vielschreibers und Boulevardautors – mit derartigen Urteilen wurde Remarques Werk häufig abgetan. Vorurteile, die bis heute in der Literaturkritik noch zu finden sind. Ja, es sind unterhaltsame, mitunter romantisierende Bücher, aber stets realistisch und wachrüttelnd. Obwohl sich Remarque – abgesehen von der Kritik in den 1950er und 1960er Jahren an der Verdrängung der begangenen Naziverbrechen – in der Öffentlichkeit nur selten politisch geäußert hat, stand er immer zwischen den Fronten der Kritik. Hasserfüllte Ablehnung von rechts, während ihm vor allem Linkskräfte poltische Inkonsequenz und fehlende gesellschaftliche Perspektiven vorwarfen. Obwohl Remarque nicht zu den im Kampf gegen den Faschismus engagierenden Schriftstellern gehörte, in seinen Werken trat er konsequent für Humanismus, Individualismus und Toleranz ein und er wollte das Gefühl für Verantwortung schärfen. „Mein Thema ist der Mensch dieses Jahrhunderts, die Frage der Humanität“, äußerte er 1962 in einem Interview. Mit dieser Haltung fand Remarque als deutschsprachiger Autor bis heute weltweite Anerkennung und hat Millionen Leser aufgewühlt und begeistert.

Zwischen Erich Maria Remarque und dem Verlag Kiepenheuer & Witsch begann 1951 eine Zusammenarbeit. In den folgenden Jahren erschienen hier seine neuen Romane – mitunter jedoch mit verlegerischen Eingriffen. Bereits in den 1980er Jahren gab es eine Gesamtausgabe seiner Werke. 2013 startete der Verlag eine neue, kommentierte Edition mit den Werken in der Originalfassung, jeweils ergänzt durch einen Anhang mit einem Nachwort des Herausgebers Thomas F. Schneider.

Pünktlich zum 50. Todestag fand diese KiWi-Edition mit der Neuausgabe seiner frühen Romane Die Traumbude, Gam und Station am Horizont ihren Abschluss. Sein Romandebüt Die Traumbude, das noch unter seinem Geburtsnamen Remark in dem kleinen Dresdner Verlag „Die Schönheit“ veröffentlicht wurde, entstand in einer „jugendlichen Orientierungsphase“. Zunächst geriet das Buch in Vergessenheit, doch nach dem Erfolg von Im Westen nichts Neues weckte es kurzzeitig verlegerisches Interesse, um danach wieder zu verschwinden. Erst 1998, anlässlich des 100. Geburtstages Remarques, erschien der Romanerstling in einer fünfbändigen Ausgabe Das unbekannte Werk (KiWi Verlag), in der auch Schriften aus dem Nachlass, Briefe, Tagebücher und Gedichte erstmals veröffentlicht wurden. Genau hundert Jahre nach der Erstausgabe liegt Die Traumbude nun wieder im Originaltext vor.

Remarque verarbeitet in dem Erstling seine Jugenderlebnisse, als er sich in Osnabrück dem sogenannten „Traumbudenkreis“ anschloss, einem Künstlerkreis um den Dichter und Kunstmaler Fritz Hörstemeier (1882–1918). In dessen kleinen Atelier traf man sich nahezu täglich und diskutierte über Kunst und Literatur (Rainer Maria Rilke, Friedrich Nietzsche), las Gedichte oder philosophierte über das Leben. Hörstemeier, ausgestattet mit einer Portion Sendungsbewusstsein, war als Bohemien stadtbekannt und schwärmte für Nacktkörperkultur. Für seine jugendlichen Zuhörer und Bewunderer war der Außenseiter so etwas wie eine geistige Vaterfigur. Hier konnte Remarque dem kleinbürgerlichen Elternhaus entfliehen. Als Hörstemeier im März 1918 starb, befand sich Remarque gerade im Duisburger Lazarett, wo er sich mit einem Roman über den Krieg beschäftigte. Als er die Todesnachricht erhielt, legte er die Arbeit beiseite und stürzte sich auf die Niederschrift zur Traumbude. Mit dem Buch wollte er seinem früh verstorbenen Vorbild in der Figur des Fritz Schramm ein literarisches Denkmal setzen. Für Remarque war eine Welt zusammengebrochen, denn ein Jahr zuvor hatte er auch seine Mutter verloren. Die Traumbude ist die Suche eines jungen Autors nach persönlicher Orientierung und künstlerischer Überzeugung. In späteren Romanen weisen viele Szenen von Kameradschaft und Abenteurertum zurück auf die beglückenden Stunden in der Osnabrücker Traumbude.

Sein zweiter Roman Gam, vermutlich zwischen 1923 und 1924 entstanden, blieb über viele Jahrzehnte unpubliziert. Im Frühjahr 1942 ließ Remarque während seines Aufenthalts in Hollywood das Manuskript abschreiben und korrigierte es wohl. In dieser Fassung erschien es dann erstmals 1998 im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Erzählt wird die abenteuerliche Reise der jungen und wohlhabenden Gam Norman, die der Autor über vier Kontinente schickt, wo sie in meist exotischen Regionen auf Männer mit unterschiedlichen Charaktereigenschaften trifft. Erst nach vielen Affären findet Gam – übrigens die einzige weibliche Protagonistin in Remarques Werk – am Ende zu sich selbst. Während der Arbeit an dem Roman verfasste Remarque auch einige Kurzgeschichten, die in der Münchner „Illustrierten Wochenschrift für Kunst und Leben“ Jugend veröffentlicht wurden. Da sie in direktem Zusammenhang zu Gam (von der exotischen Kulisse bis hin zu teilweise identischen Figuren) stehen, wurden sie in die Neuerscheinung aufgenommen.

Als Redakteur der Hugenberg-Illustrierten Sport im Bild konnte Remarque hier von November 1927 bis Februar 1928 seinen dritten Roman Station am Horizont in Fortsetzungen veröffentlichen. Vor dem Hintergrund einer mondänen Gesellschaft wird die Geschichte des 30-jährigen Rennfahrers Kai erzählt, der sich zwischen drei sehr unterschiedlichen Frauen nicht entscheiden kann. Station am Horizont ist jedoch weder ein ausgesprochener Rennfahrerroman noch eine Liebesromanze; vielmehr wird die Handlung immer wieder von Reflexionen des Haupthelden unterbrochen. Der Text der Neuerscheinung folgt dem Erstdruck in der Illustrierten Sport im Bild. Hier hatte Remarque zuvor auch die Kurzgeschichte Das Rennen Vanderveldes veröffentlicht, die bereits ein zentrales Motiv des Romans vorweg nahm. Im umfangreichen Anhang des Abschlussbandes der Remarque-Edition ist sie ebenfalls abgedruckt. Als Station im Horizont erschien, war Im Westen nichts Neues bereits abgeschlossen und erschien dann in der konkurrierenden Vossischen Zeitung, worauf Remarque fünf Tage nach Beginn des Vorabdruckes bei Sport im Bild fristlos gekündigt wurde.

Der Journalist und Schriftsteller Heinrich Thies hat zum 50. Todestag von Erich Maria Remarque eine eindringliche Doppelbiografie über den Schriftsteller und seine Schwester vorgelegt: Die verlorene Schwester Elfriede und Erich Maria Remarque. Auf der einen Seite steht der gefeierte Antikriegsautor, auf der anderen die Damenschneiderin Elfriede Scholz, die 1943 in Berlin-Plötzensee wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt wurde. In vierzig Kapiteln werden die beiden Lebenswege (teilweise parallel) verknüpft, die unterschiedlicher nicht verlaufen konnten. Zunächst beleuchtet der Autor kurz die gemeinsame Kindheit der drei Geschwister Erich, Erna und Elfriede in Osnabrück. Kurz nach dem Tod der Mutter (1917), Bruder Erich ist gerade im Lazarett, verlässt Elfriede ebenfalls das Elternhaus und nimmt in Duisburg eine Stellung als Dienstmädchen an. Nach zahlreichen Umzügen kehrt sie 1919 wieder ins Elternhaus zurück, wo inzwischen die zweite Ehefrau ihres Vaters das Regiment führt. Elfriede beginnt eine Lehre als Schneiderin. Nach dem frühen Tod ihrer unehelichen Tochter Ingeborg packt sie jedoch wieder ihren Koffer, geht nach Berlin und findet Arbeit in einer Putzmacherei. Mit Fleiß und Geschicklichkeit erwirbt sich Elfriede das Vertrauen der mitunter zahlungskräftigen Kundschaft. Trotzdem entschließt sie sich, 1926 nach Leipzig zu gehen. Mit ihrem Bruder in Berlin bleibt sie weiterhin in Verbindung. Ihre nächste Station ist Dresden, wo sie 1933 ihre Meisterprüfung als Damenschneiderin ablegt. Die Ehe mit dem Kaufmann Paul Wilke hält nur zwei Jahre; 1941 heiratet sie dann den Tanzmusiker Heinz Scholz, der aber bald die Scheidung einreicht.

Dann am 18. August 1943 steht die Gestapo vor ihrer Tür. Elfriede soll einer Kundin gegenüber wehrkraftzersetzende Äußerungen gemacht haben (u.a. „sie glaube nicht mehr an den Endsieg“ oder „der Führer habe die gefallenen Soldaten auf dem Gewissen“). Es folgen wochenlange Verhöre. Obwohl es keine eindeutigen Beweise für die Anschuldigungen gibt, verhängt der Volksgerichtshof unter Vorsitz des berüchtigten Roland Freisler („Ihr Bruder ist uns leider entwischt – Sie aber werden uns nicht entwischen“) am 29. Oktober die Todesstrafe und dauernden Ehrverlust. Zwei Gnadengesuche werden zurückgewiesen und Elfriede Scholz wird am 16. Dezember 1943durch das Fallbeil hingerichtet.

Ihr Bruder Erich lebt zu dieser Zeit in New York, dank seiner Tantiemen als Emigrant der Luxusklasse. Erst im Juni 1946 erfährt er von dem Schicksal seiner Schwester. Ihn quält der Gedanke, dass sie für ihren „geflüchteten gewissenlosen Bruder“ büßen musste. Entsetzt von der Nachricht rollt er sein KZ-Romanprojekt Der Funke Leben neu auf. Ein halbes Jahr nach der amerikanischen Ausgabe Spark of Life mit einer Widmung To the memory of my sister Elfriede erscheint der Roman im Juni 1952 bei Kiepenheuer & Witsch – allerdings ohne die vom Verlag monierte Widmung für seine Schwester. In den 1960er Jahren versucht Remarque mit Hilfe seines Anwalts, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Der Antrag einer strafrechtlichen Verfolgung wird allerdings von der Generalstaatsanwaltschaft abgelehnt – am 25. September 1970… es ist Remarques Sterbetag. Erst 1998 tritt das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege in Kraft.

Heinrich Thiel, der sich in seinen bisherigen, meist biografischen Büchern schon mehrfach mit der NS-Geschichte auseinandergesetzt hat, stützt sich in der Doppelbiografie auf zum Teil unveröffentlichte Dokumente wie Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und Gerichtsakten, ergänzt durch einige historische Fotos. Immer wieder konfrontiert die ausführlich recherchierte Geschichte von den ungleichen Geschwistern den Leser mit Fragen von Schuld und Verantwortung.

Titelbild

Erich Maria Remarque: Station am Horizont. Roman.
In der Fassung der Erstausgabe mit Materialien und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.
320 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783462054675

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Erich Maria Remarque: Gam. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.
352 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783462054699

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Titelbild

Erich Maria Remarque: Die Traumbude. Ein Künstlerroman.
In der Fassung der Erstausgabe mit Materialien und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.
320 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783462054682

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Titelbild

Heinrich Thies: Die verlorene Schwester – Elfriede und Erich Maria Remarque. Eine Doppelbiografie.
zu Klampen Verlag, Springe 2020.
370 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783866746183

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