Eine der herausragenden Künstlerpersönlichkeiten der Moderne

Zum 150. Geburtstag von Ernst Barlach

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Der vielseitige Künstler Ernst Barlach ist vor allem für sein bildhauerisches Werk bekannt. Sein umfangreiches und eindrucksvolles Lebenswerk lässt sich dem Expressionismus sowie dem Realismus zuordnen. Daneben ist Barlach auch ein Beispiel einer großen künstlerischen Doppelbegabung, denn bis in die frühen dreißiger Jahre war er auch als erfolgreicher Dramatiker tätig. Die Intensität und Vielschichtigkeit seines bildnerischen Werkes ist jedoch ohne sein literarisches Schaffen nicht denkbar und umgekehrt.

Ernst Barlach wurde am 2. Januar 1870 in Wedel unweit von Hamburg als ältester Sohn des späteren Landarztes Georg (Gottlieb) Barlach (1839-1884) und dessen Frau Johanna Louise (geb. Vollert, 1845-1920) geboren. Seine ersten Schuljahre verbrachte er in Ratzeburg. Nach dem frühen Tod seines Vaters lebte die Mutter mit den Kindern in Schönberg, wo der junge Ernst die Realschule abschloss. Danach begann er an der Hamburger Gewerbeschule eine Ausbildung als Zeichenlehrer, ging aber 1891 an die Dresdner Kunstakademie, wo er Meisterschüler des Bildhauers Robert Diez (1844-1922) war. Die noch vom Jugendstil beeinflusste Skulptur Krautpflückerin war 1895 seine Abschlussarbeit und seine erste bedeutende Plastik.

Mit seinem Freund und Studienkollegen Carl Garbers (1864-1943) folgte ein einjähriger Studienaufenthalt in Paris, wo sich Barlach allerdings mehr mit literarischen Plänen und mit Zeichnen als mit der Bildhauerei beschäftigte. So entstanden erste kurze Prosatexte und der fragmentarische Roman Reise des Humors und des Beobachtungsgeistes (1895). 1897 folgte eine zweite Reise nach Paris. Nach wechselnden Aufenthalten in Hamburg, Berlin (Beginn der Freundschaft mit dem späteren Verleger Reinhard Piper), Wedel und Höhr im Westerwald, wo Barlach als Lehrer an der Fachschule für Keramik arbeitete, ging er wieder nach Berlin.

Gemeinsam mit seinem Bruder Nikolaus brach Barlach 1906 zu einer Reise nach Russland auf, um den Bruder Hans, der in Charkow wohnte, zu besuchen. Hier gewann er viele neue Eindrücke für sein weiteres künstlerisches Schaffen, die er in unzähligen Skizzen festhielt. Die Impressionen dieser Reise hielt er in das Russische Tagebuch fest, das in Teilen unter dem Titel Eine Steppenfahrt, illustriert mit 13 Lithographien, 1912 erschien. Obwohl Barlach 1909 mehrere Monate als Gast in dem Künstlerhaus „Villa Romana“ in Florenz (Freundschaft mit Theodor Däubler) weilte („Italien hat mich nicht umgeworfen“), war der Russland-Aufenthalt prägend für seinen ästhetischen und thematischen Neubeginn (wo ihm „die Ferne als deutliche Vorstellung der Nie-Endlichkeit zum Inbegriff der Erfahrung geworden war“).

In Berlin knüpfte Barlach Kontakt mit den Kreisen der „Secession“ (u.a. Käthe Kollwitz). 1907/08 schuf er einige Bettler-Figuren, die von einer intensiver Beobachtung und einer neuen Formensprache zeugen. Mit den Terrakotten Blinder Bettler und Russische Bettlerin mit Schale nahm er an einer Ausstellung der „Berliner Secession“ teil; damit gelang ihm der künstlerische Durchbruch. Der Kunsthändler Paul Cassirer (1871-1926) wurde auf ihn aufmerksam und übernahm in der Folgezeit gegen ein festes Jahresgehalt alle entstehenden Arbeiten von Barlach, womit dessen Lebensunterhalt abgesichert war.

1910 ließ sich Barlach im mecklenburgischen Güstrow nieder, wohin seine Mutter verzogen war. („Hier im Norden lässt die Natur sich Zeit. Ich bin jetzt in meinem besten Alter.“) Er richtete sich eine kleine Werkstatt ein, wo zunächst vor allem Holzplastiken entstanden, deren Äußeres auf das Nötigste beschränkt war, die jedoch eine religiöse Innigkeit und Volksnähe ausstrahlten – „die äußere Darstellung eines inneren Vorgangs“.

Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs begrüßte er wie viele Künstler seiner Zeit zunächst euphorisch, wandelte sich doch später zum entschiedenen Kriegsgegner. Trotz seines Alters wurde Barlach 1915 eingezogen und in zwei Monaten zum Landsturmsoldaten ausgebildet, jedoch auf Petition der „Secession“ (u.a. Max Liebermann und Max Slevogt) vorzeitig entlassen. Die Eindrücke von den Auswirkungen des Krieges und seinen geistigen Wandel verarbeitete Barlach in zahlreichen Holzschnitten. Daneben widmete er sich intensiv dem Schreiben. In kurzer Folge entstanden zahlreiche Dramen: Der Tote Tag (1912), Der arme Vetter (1918), Die echten Sedemunds (1920), Der Findling (1922), Die Sündflut (1924) und Der blaue Boll (1926). Für sein dramatisches Schaffen erhielt Barlach 1924 den Kleist-Preis – speziell für sein religionsphilosophisches Stück Die Sündflut. Wie in allen seinen dramatischen Versuchen geht es auch hier um eine religiöse Botschaft, um die Suche nach Gott in seiner gottverlassenen Schöpfung. Erzählt wird die alte Legende von Noah und seiner Rettung vor der Flut, wobei Barlach der Frage nachgeht, wie das Böse in die Welt gekommen ist. („Verflucht ist der Gott, der die Guten gut und die Bösen böse gemacht hat!“ […] „Was hat Gott mit dem Bösen zu tun, nicht er ist der Schöpfer des Bösen – soll es besser werden, so mögen sie sehen, woher sie es bekommen haben.“)

Neben den regelmäßigen „Secession“-Ausstellungen kam es 1917 im „Kunstsalon Paul Cassirer“ zu einer ersten umfassenden Schau seiner Werke. 1919 wurde Barlach Ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie der Künste und 1925 Ehrenmitglied der Akademie der Künste in München. Trotz dieser Ehrungen blieb Barlach seiner niederdeutschen Heimat und der Kleinstadt Güstrow treu, wo er bis zu seinem Tod abseits des Kunstbetriebes lebte und arbeitete. In den 1920er Jahren schuf er bedeutende Ehren- und Mahnmale, u.a. Der schwebende Engel (1927) im Dom von Güstrow, Die Schmerzensmutter (1922, 1944 im Bombenkrieg zerstört) und Der Geistkämpfer (1927) in Kiel, das Anti-Kriegs-Denkmal (1929) im Magdeburger Dom sowie das Hamburger Ehrenmal (Barlach-Stele) Trauernde Mutter mit Kind (1931). Sie waren keine Heroisierung des Soldatentodes sondern eine Darstellung von Leid und Tod. Während dieser Jahre entstanden auch mehrere druckgraphische Mappenwerke und Buchillustrationen: zur Walpurgisnacht (1923) und zu ausgewählten Gedichten (1924) von Johann Wolfgang von Goethe, mit dessen Werk sich Barlach ein Leben lang beschäftigte. Mit neun Holzschnitten zu Schillers Lied an die Freude (1927) klang dann Barlachs Graphik aus.

In Güstrow lernte Barlach das Bildhauerehepaar Bernhard A. Böhmer (1892-1945) und Marga Böhmer (1887-1969) kennen. Zwischen Barlach und Marga entwickelte sich bald eine enge Beziehung und nach ihrer Scheidung lebten beide ab 1927 in wilder Ehe zusammen. Sie wurde Barlachs engste Mitarbeiterin, aber vor allem liebevolle Lebensgefährtin in seinen letzten, schweren Jahren. Freiwillig verzichtete Marga auf ihr eigenes bildhauerisches Wirken und stellte sich selbstlos in seinen Dienst; so war sie an den Vorarbeiten vieler seiner Werke beteiligt.

Gegen Ende 1920er und Anfang der 1930er Jahre musste sich Barlach gegen Angriffe des Kriegsveteranenbundes „Der Stahlhelm“ und anderer reaktionärer Kreise verteidigen, die ihn wegen seiner dem „soldatischen“ Ideal widersprechenden Ehrenmale anfeindeten. Obwohl er anfänglich mit der NS-Bewegung sympathisierte, nahmen mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten die öffentlichen Angriffe und völkischen Proteste gegen ihn zu. Einige Tage zuvor (am 23. Januar 1933) hatte er in seiner Rundfunkrede Künstler zur Zeit noch gegen den Zwangsausschluss von Käthe Kollwitz und Heinrich Mann aus der Preußischen Akademie der Künste protestiert (1937 wurde er selbst zum Austritt gezwungen). Im Zuge der Diffamierungen wurden seine Werke als „entartete Kunst“ gebrandmarkt und schrittweise aus dem öffentlichen Raum entfernt. Außerdem durften seine Theaterstücke nicht mehr aufgeführt werden. 1937 verhängte die Reichskammer der bildenden Künste zudem ein Ausstellungsverbot gegen ihn, womit ihm weitgehend die Existenzgrundlage entzogen wurde. Diese ausweglose Situation verschlimmerte seinen angeschlagenen Gesundheitszustand weiter. Am 24. Oktober 1938 starb Ernst Barlach in einer Rostocker Privatklinik. Seinem Wunsch entsprechend wurde er vier Tage später in Ratzeburg neben dem Grab seines Vaters beigesetzt. Marga Böhmer gelang es, in den schwierigen Nachkriegsjahren Barlachs Nachlass zusammenzuhalten und sein künstlerisches Erbe zu bewahren.

Posthum (vor allem nach 1945) erschienen noch einige literarische Werke – neben dem Güstrower Tagebuch 1914-1917 (1943) und dem Russischen Tagebuch (1958) auch die beiden Romanfragmente Seespeck und Der gestohlene Mond (beide 1948). In seinem letzten Werk, das unverkennbar autobiografische Züge trägt, setzte sich Barlach mit den Problemen menschlicher Mitschuld und des Versagens auseinander. Der gestohlene Mond ist dabei Symbol des dialektischen Prozesses von Gut und Böse, von Verzweiflung und Getrostheit.

Seit 2007 nennt sich die Stadt Güstrow offiziell „Barlachstadt“; 2010 wurde Barlach posthum die Ehrenbürgerschaft der Stadt verliehen. Die 1994 gegründete Ernst-Barlach-Stiftung präsentiert in verschiedenen Häusern in Güstrow – etwa in der Gertrudenkapelle, im Atelierhaus und im Graphikkabinett (dem ersten Museumsneubau der neuen Bundesländer) – den künstlerischen Nachlass des Bildhauers, Graphikers und Schriftstellers.

Pünktlich zum Barlach-Jubiläum sind zwei Neuerscheinungen herausgebracht worden. Der Schriftsteller Gunnar Decker legt mit Ernst Barlach – Der Schwebende eine bemerkenswerte, die erste umfassende Biografie über ihn vor. Decker versucht, ein vielschichtiges Porträt des Künstlers zu zeichnen. Neben den künstlerischen Facetten setzt er sich auch mit Barlachs Anpassung und Opposition in der NS-Zeit auseinander. Abschließend beleuchtet er, wie mit Barlachs Erbe und Nachlass in den beiden deutschen Staaten umgegangen wurde.

Barlach war außerdem ein eifriger und passionierter Briefschreiber. Seine umfangreiche Korrespondenz ist nun in einer vierbändigen Suhrkamp-Ausgabe erschienen. Sie versammelt rund 2200 Briefe, Postkarten und Telegramme aus 90 Archiven, Museen und privaten Sammlungen, davon werden ca. 500 Schriftstücke zum ersten Mal veröffentlicht. Zusätzlich enthält die Ausgabe neu aus den Originalen transkribierte Texte mit einem kontextbezogenen Kommentar. Initiiert wurde die Edition von der Ernst Barlach Stiftung Güstrow und dem Ernst Barlach Haus Hamburg, erarbeitet an der Universität Rostock. In seinen Briefen begegnet uns der Mensch und Zweifler Barlach, der sich selbstkritisch mit seiner Kunst und seinen persönlichen Verhältnissen auseinandersetzt, aber sich auch zu den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen seiner Zeit äußert. Die Edition ist ein bedeutendes Zeitdokument nicht nur eines bewegten Künstlerlebens sondern auch der ersten vier Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.

(Zitate teilweise aus Barlach im Gespräch, Insel-Bücherei Nr. 762, aufgezeichnet von Friedrich Schult, Insel-Verlag Frankfurt am Main 1964)