Unter Freundfeinden

In seinem Roman „Metropol“ erzählt Eugen Ruge ein weiteres Kapitel aus der Geschichte seiner Familie

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2011 erschien der im gleichen Jahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Roman In Zeiten des abnehmenden Lichts. Der Berliner Autor Eugen Ruge erzählte darin – mit starken autobiografischen Bezügen – die Geschichte einer Familie über vier Generationen hinweg als exemplarische Geschichte des Niedergangs der sozialistischen Utopie. War die aus dem Exil zurückgekehrte Generation noch voller Optimismus angetreten, um sich im östlichen Deutschland am Aufbau des Sozialismus zu beteiligen, geriet ihr das Ideal einer klassenlosen, freien Gesellschaft nur allzu bald aus dem Blick. Die Kinder und Kindeskinder dieser Männer und Frauen mussten schließlich erkennen, dass die hinter dem Versuch steckende Utopie, das gesellschaftliche Zusammenleben von Menschen in noch nie dagewesener Weise zu revolutionieren, zwar von einem großen Glücksversprechen getragen war, die konkrete Umsetzung von Theorie in Praxis allerdings in einer Welt, wie sie der zweite große Krieg des 20. Jahrhunderts hinterlassen hatte, nicht funktionierte.

Mit Metropol greift Ruge nach acht Jahren und zwei weiteren Romanen – Cabo de Gata (2013) und Follower. Vierzehn Sätze über einen fiktiven Enkel (2016) – nun erneut auf seine Familienhistorie zurück. Die hinter dem Roman über zwei deutsche Kommunisten in der Sowjetunion der 1930er Jahre steckende Geschichte hat er selbst in einem das Erzählte historisch und biografisch einordnenden Epilog zu seinem Buch als „eine Geschichte darüber […],was Menschen zu glauben bereit, zu glauben imstande sind“, bezeichnet.

Als Teil seines ersten Familienromans – die beiden Hauptfiguren, Charlotte und Wilhelm, firmieren darin als Wilhelm und Charlotte Powileit – hätte die Episode um Ruges Großmutter und seinen Stiefgroßvater, die durch eine Denunziation von dessen erster Frau in die Mühlen der stalinistischen Säuberungen geraten, den thematischen Rahmen dieses Buches einerseits zwar um eine wesentliche historische Komponente erweitert, ihn andererseits aber auch gesprengt. Aus der nach ersten Recherchen als Seitenstück zu In Zeiten des abnehmenden Lichts geplanten Novelle über die Moskauer Zeit der beiden Germaines, wie sie sich im Exil nannten, ist dann, auf Drängen seines Verlegers und als der Erfolg seines ersten Romans Ruge auch finanziell in die Lage setzte, genauere Vor-Ort-Recherchen in Moskauer Archiven und an jenen Orten durchzuführen, die mit der Geschichte seiner beiden Vorfahren in Verbindung standen, der vorliegende Roman geworden.

Sein Titel, Metropol, spielt auf jenes legendäre, im Jahre 1905 erbaute Moskauer Hotel an, in dem das Ehepaar Germaine von Oktober 1936 bis Februar 1938 insgesamt 477 Tage und Nächte verbrachte. Als Mitarbeiter des Nachrichtendienstes OMS der Kommunistischen Internationale waren sie eines Tages ohne Angabe vom Gründen vom Dienst suspendiert worden und mussten aus ihrer etwas außerhalb Moskaus und innerhalb eines OMS-Stützpunkts gelegenen Wohnung in das Zimmer 479 des großen Jugendstilbaus schräg gegenüber dem Bolschoi-Theater umziehen.

Charlotte und Wilhelm ahnen, dass sich ihre neue Situation der Bekanntschaft mit der Familie eines staatsfeindlicher Umtriebe angeklagten, in einem öffentlichen Prozess zum Tode verurteilten und anschließend sofort hingerichteten Mannes verdankt und sie aufgrund dieser Bekanntschaft mit hineingezogen werden könnten in die von Stalin inszenierte „Große Säuberung“ des kommunistischen Parteiapparats. In einem Brief an ihren unmittelbaren Vorgesetzten spielt Charlotte die Beziehung deshalb herunter, versichert ihre Treue zur Bolschewistischen Partei und verspricht, ihre „Klassenwachsamkeit auf ein höheres Niveau zu heben“. Was sie zu diesem Zeitpunkt nicht weiß, ist, dass Wilhelms erste Frau, Hilde Tal, eine lettische Kommunistin, das Ehepaar Germaine bereits einen Monat vorher wegen deren Bekanntschaft mit eben jenem „trotzkistischen Banditen“ und dessen Ehefrau denunziert hatte.

Als „Gast“ im Metropol verbringt man seine Tage damit, Lesesäle aufzusuchen, sich in Menschenschlangen nach knappen Waren anzustellen und die plötzlich zur Verfügung stehende viele Zeit irgendwie sinnvoll zu nutzen, während man sich in schlaflosen Nächten mehr und mehr sorgt, eines Tages abgeholt und des Verrats an seinen kommunistischen Idealen bezichtigt zu werden. Die Germaines sitzen an den für Gäste zweiten Ranges eingedeckten Tischen im hintersten Winkel des großen Speisesaals und erleben täglich, wie beargwöhnte Männer und Frauen wie sie selbst kommen und gehen. Auch dass das Gehen meist kein freiwilliges ist und gewöhnlich in einer Zeitungsmeldung kulminiert, die von der Hinrichtung weiterer gefährlicher Staatsfeinde berichtet, bleibt dem Ehepaar nicht verborgen.

Dass Charlotte und Wilhelm – er nach wie vor standfest zu seinen Überzeugungen stehend, sie mit leichten Zweifeln an der Richtigkeit des immer schlimmer werdenden Terrors als Methode des Machterhalts um jeden Preis, Zweifeln, die sich auch auf das Verhältnis zu ihrem Mann auswirken – letzten Endes mit dem Leben davonkommen und über eine Zwischenstation in Paris den Zweiten Weltkrieg im mexikanischen Exil überleben, muss bei den Verhältnissen, wie sie im Moskau der Jahre 1936 bis 1938 herrschten, als glücklicher Zufall bezeichnet werden. Denn ebenso wie sie das Hotel „Metropol“ und ihr Exilland nach knapp 17 Monaten der Ungewissheit und Angst schließlich verlassen dürfen, hätte es für sie auch zur Durchgangsstation in den Tod werden können.

Eugen Ruge hat in Metropol drei personale Erzählstimmen miteinander verwoben. Der Innenperspektive von Charlotte Germaine fällt dabei der größte Anteil zu. Ihre Sicht auf die Dinge – es ist die Sicht des Opfers, als das sich Ruges Großmutter später nicht mehr gern sah, war sie doch nach dem Krieg damit beschäftigt, ihren Anteil zum Aufbau eines neuen Deutschlands zu leisten – dominiert, während die ihres zweiten Mannes Wilhelm nur aus dem Fokus seiner Partnerin referiert wird. Dafür bekommt Wilhelms erste Frau, die unter dem Decknamen Hilde Tal als Sekretärin für das OMS arbeitete und selbst den stalinistischen Terror nicht überlebte, die Stimme eines der vielen Menschen beiderlei Geschlechts zugeteilt, die durch Denunziation anderer glaubten, sich selbst retten zu können, und ohne die das stalinistische Terrorsystem vielleicht nicht ganz so perfekt funktioniert hätte. Die Erzählung erweckt hier den Anschein, es würden auch persönliche Motive mitspielen, wenn Hilde ihren Vorgesetzten ebenso kurz wie lapidar mitteilt, mit welch gefährlichen Staatsfeinden die beiden Germaines bereits in Berlin fraternisiert hätten.

Aber auch in die Seele der Täter lässt Ruge seine Leser blicken. Denn im selben Hotel „Metropol“, aus dem der Weg vieler Unschuldiger erst in die Gerichtssäle und später auf die Richtstätten führte, wohnt, nur ein paar Türen von den Germaines entfernt, Wassili Wassiljewitsch Ulrich, der Mann, der als oberster Militärrichter der Sowjetunion mehr als 30.000 Todesurteile unterschrieb, die meisten davon zustande gekommen ohne öffentlichen Prozess, viele sogar ohne Anhörung der Beschuldigten. Ruge lässt diesen gewissenlosen Mann Schmetterlinge und Käfer für seine Sammlung aufspießen und gleichzeitig zynisch darüber sinnieren, dass es die Dummheit und Glaubensbereitschaft der Menschen ist, die es dem herrschenden System ermöglicht, gestern noch Hochverehrte heute als verabscheuungswürdige Verbrecher zu brandmarken: „Dass die Menschen glauben, was sie glauben wollen – das ist doch wirklich kein großes Geheimnis. Oder doch? Wie dumm sind die Menschen? Wie dumm sind die, die an irgendwas glauben? Und wie dumm sind die, die nicht einmal merken, dass sie es tun?“

Metropol beginnt mit einem Urlaubsaufenthalt der beiden Germaines am Schwarzen Meer. Es sind die letzten unbeschwerten Tage der beiden deutschen Kommunisten in der Sowjetunion. Man schreibt die Nacht vom 20. auf den 21. August 1936 und das Paar befindet sich gemeinsam mit einer mitreisenden Arbeitskollegin an Bord des in Batumi noch am Kai liegenden Schwarzmeerdampfers Grusia, als Charlotte in einer Zeitung die Mitteilung entdeckt, dass ein gemeinsamer Bekannter zusammen mit 15 anderen der Vorbereitung von „Anschlägen auf Stalin, Molotow, Woroschilow …“ angeklagt und zum Tode verurteilt worden ist. Der Schock über die Nachricht vermischt sich nur allzu schnell mit der Angst, von nun an immerzu fürchten zu müssen, als Bekannte des Hingerichteten mit hineingezogen zu werden in die immer schneller laufende Maschinerie des Terrors. Charlottes Reiselektüre ist das von Sergej Tretjakow 1934 herausgegebene Buch Tscheljuskin, ein Bericht über die Rettung der Besatzung des Ende 1933 vom Nordpolareis eingeschlossenen gleichnamigen sowjetischen Expeditionsschiffes. Sie nimmt sich den Band auch während der nach ihrer Rückkehr folgenden Monate im Hotel Metropol immer wieder vor. Und mit der Zeit wird das, was sie mit zunehmender Ergriffenheit liest, zum Sinnbild für ihre eigene und die Situation all jener Menschen, die schuld- und wehrlos mit einem System in Konflikt gerieten, dessen anfängliche große Versprechen sich in Millionen Opfer kostende Verbrechen verwandelten.

Das schriftstellerische Interesse – vor allem von Autorinnen und Autoren, die ihre Sozialisation im Osten Deutschlands erlebten – scheint sich im Moment verstärkt auf die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts zu richten. In zwei berührenden Büchern – Sie kam aus Mariupol (2017) und Irgendwo in diesem Dunkel (2018) – hat Natascha Wodin die tragische Geschichte ihrer Familie erforscht. In Trutz (2017) ließ Christoph Hein zwei Familien an den Widersprüchen des Jahrhunderts der einander ablösenden Ismen samt deren verheerenden Folgen scheitern. Und fast zeitgleich mit Metropol macht sich auch der neue Roman von Alexander Osang, Die Leben der Elena Silber, auf den Weg in die Vorgeschichte des Sozialismus auf deutschem Boden. Osang wie Ruge haben sich vorher literarisch und publizistisch intensiv mit dem Leben in der DDR auseinandergesetzt. Aus ihren aktuellen Werken darauf zu schließen, es interessiere die Literatur 30 Jahre nach dem Mauerfall inzwischen weniger das – inzwischen wohl auch weitgehend auserzählte – Thema „DDR“ als die Frage, ob das gescheiterte Sozialismus-Experiment nicht noch tiefere Wurzeln besitzt, dürfte so falsch nicht sein.

Titelbild

Eugen Ruge: Metropol.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019.
431 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783498001230

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