Theodor Fontane im Umkreis von Romantik, Aufklärung, Goethe und Beckett

Ein Sammelband von Hanna Delf von Wolzogen und Richard Faber präsentiert den großen Realisten unter den verschiedensten Aspekten

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sammelbände, auch wenn sie speziell einen Schriftsteller zum Thema haben, sind oft bunt zusammengesetzt. Die Beiträge analysieren auf unterschiedliche Weise die unterschiedlichsten Seiten. Der Leser des Buches muss sich durch die Heterogenität des Buches hindurchkämpfen. All dies gilt in besonderem Maße für den hier zu besprechenden Band, wobei ein Manko noch hinzukommt: Sein Titel ist irreführend. Er ist auf dem Umschlag so gedruckt, dass man meinen muss, „Rezeption im 20. und 21. Jahrhundert“ sei der Untertitel und der Band sei also ganz der Rezeption Fontanes gewidmet. Tatsächlich behandeln nur wenige Beiträge die Rezeption. Das Vorwort der beiden Herausgeber kündigt an, dass der Band (und ebenso die ihm zugrunde liegende Potsdamer Ringvorlesung) Fontane „in soziokultureller Perspektive“ darstelle, aber dies ist eine unpräzise Formulierung, die die Heterogenität des Ganzen noch unterstreicht.

Doch die Lektüre des Bandes lohnt sich. Die einzelnen Beiträge, das sei schon jetzt als Resümee ausgesprochen, sind von hohem Niveau und bestechen fast alle durch ihre sorgfältige Argumentation. Das Ganze ist äußerst anregend. Die interessanteste Frage, die dieser Band aufwirft, ist die: War Fontane ein Aufklärer? Wir werden darauf zurückkommen.

Eine literaturgeschichtlich-übergeordnete Position nehmen die Arbeiten über Fontanes Realismus (von Madleen Podewski) und über sein „balladeskes Weltbild“ (von Rüdiger Görner) ein. Im ersten Fall wird gezeigt, dass Fontanes Erzählen beziehungsreich zwischen zwei literarischen Schulen steht, und zwar der Romantik mit ihren vormodernen Zügen und der klassischen Moderne. Daher sei Fontanes Realismus sogar selbstreflexiv, und seine „wirkliche Welt“ existiere nur als eine versprachlichte. Im anderen Fall wird dargelegt, dass Fontanes Balladen aus dem historischen Stoff „die Lebenssubstanz“ herausgreifen, so dass sie eigene „Bildwirklichkeiten“ seien. Eine Fontane’sche Ballade bedeutet nicht etwas, sondern sie „ist“ etwas; die Ballade John Maynard ist „die Identität“ eines vorher geschichtslosen Mannes.

Eine komparatistische Deutung (von Achim Geisenhanslüke) erfasst Fontanes späten Roman Der Stechlin unter dem Vorzeichen der Goethe’schen Vorstellung von „Wahlverwandtschaften“. Solche sich anbahnenden tiefgründigen Verbindungen gebe es zwischen Woldemar und Armgard (die tatsächlich heiraten), zwischen der reifen Frau Melusine und dem pädagogisch aktiven Pastor Lorenzen sowie zwischen dem greisen Schlossherrn und dem klugen, erotisch auftretenden Mädchen Agnes. Es überlagern sich – eine sehr anregende Beobachtung! – „Tradition und Innovation“, ohne dass das eine gegen das andere ausgespielt wird. Ebenfalls den späten Fontane behandeln eine Erörterung von Elmar Locher über die Frage des Geldes im Stechlin (Banknoten bekommen ihren Wert zugesprochen, und ähnlich werden Werte überhaupt, auch in Kunstfragen, zu „subjektiven Relationsgrößen“) und eine Studie von Barbara Naumann über Fontanes Gesprächskunst im Roman Die Poggenpuhls. In dieser verarmten Adelsfamilie stehen die „sozialen Erschöpfungssymptome“ und die „körperliche und seelische Auszehrung“ im Einklang mit einem Sprechen, das ein „redseliges Verströmen“ ist, nur noch Unwichtiges vorträgt und schon an Samuel Becketts „monologische, ereignisarme Texte“ denken lässt.

Lothar Müllers Essay über das Todesmotiv arbeitet überzeugend heraus, wie in Fontanes gesamtem Erzählwerk der Tod präsent ist: Nicht als grauenhaftes Sterben des Einzelnen, sondern als der „symbolische Tod“, der sich in Friedhofsszenen, Momenten der Gräberpflege und einer Fülle von Todesanspielungen und –vorausdeutungen zeigt. Fontane stelle den Tod als die „Großmacht in der kulturellen Ordnung der Lebenden“ dar. Schon die erste Seite von Effi Briest erwähnt das Rondell (hier wird Effis Sarg hinkommen) und den Kirchhof, der gesamte Roman handele eigentlich von der „Abstandsverringerung zwischen Rondell und Kirchhof“.

Den zweiten Teil der Erzählung Quitt, also Fontanes Wildwest-Welt, behandelt ein faktenreicher Beitrag von James N. Bade, der Fotos und Landkarten vorlegt und beweist, wie sorgfältig Fontane für diesen Schauplatz recherchiert hat. Die Bahnstation Darlington in Oklahoma, die Mennonitensiedlung in der Nähe, das Fort mit seinen Palisadenkonstruktionen, den Häuptling Powder Face (Fontane sagt „Gunpowder Face“) – dieses und vieles andere aus Quitt gab es wirklich. Viele Kritiker haben das Amerika von Quitt irrigerweise als Phantasiegebilde abgetan und die eigentlichen Qualitäten dieses Romans übersehen: seine „Kritik am Militarismus“ und seine Lobpreisung einer „funktionierenden multikulturellen Gemeinschaft“; nur von ganz wenigen klarsichtigen Interpreten seien sie bemerkt worden. Wir müssen freilich dagegenhalten: Ganz so wenige Klarsichtige sind es gar nicht. Sogar der Beitrag selbst zitiert einige von ihnen, aber leider nicht Hans-Heinrich Reuters großes Wort von Quitt als „dem ersten Exilroman der modernen deutschen Literatur“ (in Sinn und Form 1971). Seither kann man Quitt nicht mehr, wie es Bades Aufsatz tut, als Fontanes „verkanntesten Roman“ bezeichnen.

Der eben genannte Beitrag sagt einiges aus über die Rezeption Fontanes. Mit der Rezeption befassen sich auch Manuel Köppens Untersuchung der Effi-Briest-Verfilmungen, Maria Brosigs Analyse der Neubearbeitungen des Stoffes von Irrungen, Wirrungen bei Manfred Bieler und Günter de Bruyn und ein bebilderter Reisebericht von Wolf von Wolzogen aus dem Jahre 2013 über die Regionen Frankreichs, die Fontane im Deutsch-französischen Krieg erlebt hat.

Ralf Georg Czaplas Deutung der Ballade Herr von Ribbeck legt dar, sie sei kein leichthin erfundenes Denkmal für diesen Adeligen, sondern sei bedeutungsvoll selbst in den konkreten Einzelheiten. Etwa die Worte „So spendet Segen noch immer die Hand“ seien zu lesen als ein Gegenbild zu der „raschen Hand“, nämlich der prügelnden Hand, unter der nach eigenem Bekenntnis das Kind Fontane und viele Kindergenerationen gelitten haben. Fontane vertritt hiernach die Reformpädagogik. Zu diesem Blick auf den „emanzipatorischen Fontane“ passt der letzte und kürzeste Beitrag von Richard Faber. Er betont, Fontane sei als ein Vertreter der Aufklärung anzusehen, und belegt dies mit einer Stelle, an der der Autor aus dem Buch Sacharja des Alten Testamentes den Appell zitiert „tuet nicht Unrecht den Fremdlingen“. So bewundernswert es ist, dass Fontane, der gelegentliche Antisemit, das Alte Testament heranzieht, so müssen wir doch kritisch ergänzen: Betrachtet man diesen Aufruf gegen Fremdenhass bei Fontane genau, so zeigt sich eine bittere Pointe: Fontane lässt ihn (in Unterm Birnbaum) von einem Pastor aussprechen, der nicht ahnt, dass der Fremde, für den er gute Stimmung machen will, ein Raubmörder ist. Ein edler Aufruf hat eine verfehlte Zielrichtung – so kompliziert ist der Erzähler Fontane! Jedenfalls ist fraglich, ob Fontane der große Aufklärer ist, als den ihn der Autor dieses Beitrages und überhaupt viele Leser wahrnehmen. Dem Anregungspotenzial des Bandes tut dieser Befund freilich keinen Abbruch.

Titelbild

Hanna Delf von Wolzogen / Richard Faber (Hg.): Theodor Fontane: Dichter und Romancier. Seine Rezeption im 20. und 21. Jahrhundert.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2015.
303 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783826053535

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