Marginalisierte in Metropolen

Der von Harbrecht, Struve, Tüing und Febel herausgegebene Sammelband „Die unsichtbare Stadt“ beleuchtet urbane Räume in der europäischen Literatur

Von Werner JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In dem vorliegenden Sammelband, der im Zusammenhang eines an der Universität Bremen angesiedelten Fokusprojekts unter dem Titel Entzauberte Städte. Urbaner Raum und Migration in der französischsprachigen Gegenwartsliteratur entstanden ist, geht es um die 

Erkundung all jener neuen Bewegungsmuster, Formen und Nutzungsweisen urbaner Räume in der europäischen Gegenwartsliteratur aus der Perspektive von marginalisierten Gruppen und Individuen, deren zunehmende Präsenz in den Metropolen im Zuge der Globalisierung und der Massenmigration zwar nicht mehr zu übersehen ist und die doch ihren Platz in der Metropole immer wieder suchen und besetzen müssen.

Tatsächlich stehen überwiegend Texte aus dem französisch-, spanisch- sowie portugiesischsprachigen Raum im Mittelpunkt der Analysen, die – wie es die HerausgeberINNen in ihrer umfangreichen Einführung formulieren – davon ausgehen, dass die ästhetischen Konstruktionen von Raum (mit Cassirer) keine (bloßen) Abbilder, sondern vielmehr Neuschöpfungen in dem Sinne sind, dass sie Dinge, Zusammenhänge, Konstellationen neu sehen lassen. Dabei betonen sie zugleich mit Foucault, dass seit jeher die „Stadt als Cité, als Gemeinwesen und agonaler Raum“ „stets ein politisches Dispositiv“ war. Die westliche Großstadt des 19. und 20. Jahrhundert sei „eine Bühne, ein Netzwerk, ein Geflecht von Verbindungen und Quergängen – […] von Durchgängen und Hauptstraßen, Kommunikationsorten wie Cafés und Parks“, wodurch „peu à peu ein metropolitaner urbaner Raum, der in großen strategischen Perspektiven neu aufgebaut und gestaltet wird […] und durch den Blick des Flaneurs in Besitz genommen wird“, entstehe. „Der Flaneur ist eine (späte) Figur des Widerstands gegen die industriell geforderte Beschleunigung der Zeit. Denn Bewegung in der Stadt impliziert auch Geschwindigkeiten und Zeitabläufe, die im historischen Wandel die urbane Lebenserfahrung verändern.“ Zugleich ist aber die Stadt im Sinne einer urbanen Metropole immer auch schon „der Raum der Begegnung mit dem Fremden; sie ist Allegorie der Zivilisation oder deren Niedergang, Ort der Gemeinschaft als Utopie oder deren Scheitern als Dystopie.“ Gemeint sind „die heutigen urbanen Erfahrungsräume“, die sich akkumulieren in „Non-lieux“, Labyrinthe(n), U-Bahn-Netze(n), Kanalsysteme(n) und andere(n) Untergrundstrukturen, Szenen, Bannmeilen, No-go-Areas, Flash-Mob-Meetings, neue(n) Ghettos, Containerisierung und Homelands, Gentrifizierung, ‚terrains vagues‘, Brachen etc.“ – kurz gefasst: die nicht zuletzt, worauf das Gesamtprojekt abzielt, von denjenigen Menschen bzw. Menschengruppen zuallererst wahrgenommen (und schließlich erfahren) werden, die als Marginalisierte, Wohnsitzlose, Geflüchtete, Durchziehende eine andere Perspektive als das saturierte Bürgertum einnehmen und entsprechend auch in ästhetischen Repräsentationen anders und anderes inszenieren – vielleicht im Sinne des „Fremden“, wie ihn Georg Simmel in seiner Soziologie treffend skizziert hat, als jemanden, der heute kommt und morgen bleibt und dabei immer die Rolle des Paria und Außenseiters einnimmt. 

Auf dem methodisch-methodologischen Hintergrund von migrations- und stadtsoziologischen Ansätzen sowie literatur- und kulturwissenschaftlichen Raumtheorien verbinden die HerausgeberINNen postkolonialistische Kritik und semiotische ‚close readings‘ in den verschiedenen Beiträgen des Bandes miteinander, der in drei große thematische Blöcke eingeteilt ist: Im ersten Teil werden sog. „Unsichtbare Orientierungen: Labyrinth – Netz – Ethnoscape – Terrain vague – Heterotopie – Non-lieux – Flanerie“ in fünf Texten vorgeführt, woraufhin im zweiten Teil „Unsichtbare Zeitgeschichte: Bahnhöfe – Randzonen – politische Chiffren“ in vier Essays „die Verbindung von Erinnerungen und aktuellem Erleben, Geschichte und aktueller Gegenwart der Räume“ hergestellt werden. Der dritte Teil schließlich mit fünf Texten behandelt „die spürbaren, aber oft nicht sichtbaren oder nur durch Hinweise zu erahnenden Energien, die Untergründe und unbewussten Schichten des urbanen Raums und die textuellen Bilder und Verfahren für deren Repräsentationen“. 

Insgesamt deckt dieser Sammelband (von durch die Bank jüngeren WissenschaftlerINNen), dessen einzelne Beiträge natürlich hier nicht einmal andeutungsweise thematisch beleuchtet werden können, historisch wie systematisch ein gewaltiges Spektrum ab, das vom Paris des 19. Jahrhunderts über das der aktuellen Gegenwart bis zum Buenos Aires eines Jorge Luis Borges oder von Ricardo Piglia (La ciudad ausente) reicht. Wohltuend  mutet an, dass die Mehrzahl  der BeiträgerINNen sich selten in (hyper-)theoretischen Diskursen verliert, sondern das ‚close reading‘ ihrer behandelten Texte (und Filme) betreibt und auf diese Weise durchaus zur (Re-)Lektüre dieser Texte einzuladen versteht.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Katia Harbrecht / Karen Struve / Elena Tüting / Gisela Febel: Die un-sichtbare Stadt. Urbane Perspektiven, alternative Räume und Randfiguren in Literatur und Film.
Transcript Verlag, Bielefeld 2020.
352 Seiten, 40 EUR.
ISBN-13: 9783837646580

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