Wortstark, aber charakterschwach

In Fabian Finkwalds Debütroman „Fluten“ scheitert der Ich-Erzähler lange an sich selbst

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Ich-Erzähler Jan Schmidt erinnert sich als Erwachsener an schuldhaftes Schweigen in der Kinderzeit. Im Umschlagtext heißt es, Jan habe seine Freundin „ungewollt und ohne jede böse Absicht“ ins Verderben gestürzt. Das ist nur die halbe Wahrheit – mit wenigen Worten hätte er seine Klassenkameradin Lisa von einer bösen Verdächtigung befreien können.

Was war geschehen? Knapp zwölf Jahre war Jan alt, als er einen Zierfisch der Art Löwenkopf aus dem Aquarium im Klassenzimmer in ein Honigglas praktizierte, das er in Lisas Tornister stellte. Wie würde er dem angebeteten Mädchen damit imponieren! Doch das Glas lief aus, der Fisch wurde entdeckt. Schnell war man sich über Lisas Schuld einig: Der Löwenkopf war ihr Lieblingsfisch, nun hatte sie ihn gestohlen. Lisa schwieg, Jan ebenfalls, und der wortstarke Ich-Erzähler ist noch nach Jahren zu charakterschwach, die Feigheit von damals einfach zuzugeben. Stattdessen redet er von einem seltsam fremden Wesen, „das mir selber glich und in einem Sumpf von Trägheit watete.“ Keine Woche nach dem Vorfall vertraute Jan sich der Mutter seines Freundes Max an. Lisa reagierte traurig und ohne Vorwurf.

Von Lisa war Jan seit dem ersten Schultag fasziniert. Sie wurde ihm zur inneren Heimat, die er im zerrütteten Elternhaus nicht fand. Um sie zum Lachen zu bringen, schnitt er Wörter aus Zeitungen aus und setzte sie neu zusammen. So nannte er Lisa „die Regenbogenblume meiner Schlittschuhgirlande“ und vieles mehr. Zu vieles – die hübsche Idee wird durch unzählige Wiederholungen totgeritten.

Außer Lisa, die nach den Sommerferien nicht in die Klasse zurückkehrte, war für Jan sein gelassener und dennoch begeisterungsfähiger Freund Max wichtig. Zu ihm fühlte er sich auch erotisch hingezogen, kämpfte jedoch gegen diese Neigung an. Traumbilder über einen gemeinsamen Gleitflug entfalten Poesie, während der mehrfache Hinweis auf „das große Geschlecht“ von Max eher prosaisch klingt. Jan fühlte sich mitschuldig, als Max nach einem Bad in einem bei der Hitze „umgekippten“ See schwer erkrankte. Er hatte die Gefahr erkannt, den Freund aber nicht gewarnt.

Schuldlos war Jan, als er Max nach der Klassenfahrt von Saalfeld nach Berlin seinen Platz im Bus nach Weimar überließ. Max und sieben andere verunglückten tödlich. Auf die Fahrt verzichtete Jan aus Geldmangel. Er hatte Sonja, mit der er auch schlief, bei der Matheprüfung verbotenerweise geholfen und war seine Ersparnisse an einen Erpresser losgeworden: Lisas Bruder.

Jahre vergingen. Jan studierte Psychologie in Lüneburg, hatte Geschichten mit Frauen, die er als „Fassaden mit Masken“ betrachtete, und empfand das Studium als „trostlose Fließbandarbeit“, was sich erst durch ein Seminar in Biopsychologie änderte. Beim Tod seines Vaters kehrte er kurz ins heimatliche Saalfeld zurück und schlief noch einmal mit Sonja. Danach hasste er sich selbst und Sonja, weil sie Lisa Unrecht getan hatten: er durch sein Schweigen und sie durch abfällige Bemerkungen. Sonja, von Beruf Steuerberaterin, wurde mit Zwillingen schwanger, und Jan, ohne Boden unter den Füßen, heiratete sie. Doch die Ehe hatte keinen langen Bestand.

Jan lernte den Studenten Julian kennen, dessen Anblick ihn in Unruhe versetzte. Julian lud ihn zu seiner Hochzeit nach Marburg ein. Dort gibt es für Jan ein unerwartetes Wiedersehen mit Lea, die er einst geliebt und dann in Berlin versetzt hatte, wodurch sie Max kennenlernte. Auf die Frage, ob sie Julians Lehrerin gewesen sei, antwortete Lea: „Seine Lehrerin, seine Erzieherin, seine Kinderfrau – und vor allem seine Mutter!“ Julians Vater war Max – Julian wurde damals in Berlin gezeugt.

Der Debütant Fabian Finkwald fasziniert über weite Strecken mit einer intensiven und bildreichen Sprache. Selten wirken die Bilder abgenutzt („Am Himmel meiner Kindheit zogen dunkle Wolken auf.“), oft kühn erfunden („Die Schatten türmten sich zu hässlichen Gestalten auf, die aus dem Schlund des Abgrunds schöpften und ihre moderige Flut kübelweise über mich ergossen.“). Pubertäre und homoerotische Bedrängnisse werden mit voller Wucht dargestellt. Das verträgt sich schlecht mit so albernen Bezeichnungen wie „Stehaufmännchen in meiner unteren Etage“ oder „Schaukelpferdchen unter mir“.

Im Epilog übersendet Julian das Tagebuch von Max an Jan. Nun würde er erfahren, was der Freund von ihm gehalten hatte. Zu seiner Enttäuschung hat Max seinen Namen falsch geschrieben: Jann. Dann ist von Lisa die Rede. Bei einer zufälligen Begegnung mit Max hatte sie sich nach Jan erkundigt. Von der Erpressung durch ihren Bruder wusste sie nichts, und Max meinte, dass sie Jan noch immer liebe.

Selbst nach so langer Zeit spürt Jan, es sei nie zu spät, sich auf den Weg zu machen, zur „Wellenkönigin meines Mitternachtstempels“ – hier wirkt die Wortspielerei aus der Kinderzeit ergreifend.

Titelbild

Fabian Finkwald: Fluten.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2022.
204 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783826076282

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