„Give ʹem Rabies!“ – Tollwut und Literatur

Nikolaus Stingls Erstübersetzung von Tom Franklins Southern-Noir-Groteske „Smonk“ ist ein veritabler Glücksgriff

Von Leon DoorlagRSS-Newsfeed neuer Artikel von Leon Doorlag

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So etwas wie Smonk habe ich noch nie gelesen und ich frage mich, ob man so etwas, hierzulande oder anderswo, überhaupt schon gelesen hat. Smonk ist ein echtes Scheusal von einem (nicht besonders langen) Roman, ein groteskes Fest der Körperflüssigkeiten, voll abstoßender Verkommenheit, menschlicher Notdurft und widerlicher Gewaltexzesse. Aber Smonk ist auch ziemlich witzig, mit originellen Querschüssen, bescheuerten Dialogen und einer geradezu lächerlichen Bildhaftigkeit. Das Buch lässt seinen Leser schon in den ersten Kapiteln mit einer Häufigkeit nach Luft schnappen, rote Ohren bekommen, albern kichern und finster-dreckig in die Breite schmunzeln, dass es ein Glücksfall zu nennen ist, dass der Berliner Indie-Verlag Pulp Master und Haus-und-Pynchon-Übersetzer Nikolaus Stingl endlich (das amerikanische Original erschien bereits 2006) ihre Hände an dieses schmutzige Juwel legen durften.

Pulp Master, das ist Frank Nowatzki plus treue Mitstreiter, seit circa 30 Jahren ein kleiner aber feiner Spartenverlag von Crime, Pulp und Noir „wider den Zeitgeist“, wie es auf der Homepage heißt. Im Programm sind vor allem in Deutschland kaum bekannte Autoren von Short Stories und Romanen, für die die Bezeichnung „Krimi“ eine ernste Hilflosigkeit gegenüber soviel Schmutz, Gore, Ideenreichtum und frischem Genremix bedeutet. Nowatzkis Herzblutprojekt in Eigenregie wirft meist nicht mehr als drei oder vier neue Publikationen im Jahr ab, ist aber in Fan- und Kennerkreisen düsterer und unorthodoxer Kriminalliteratur zu beachtlichem Kultstatus avanciert, nicht zuletzt wegen der konsequent punkig-expressiven Cover-Gestaltung aller erschienenen Bände durch den Hamburger Künstler 4000.

Tom Franklin ist ein schon längst aufstrebender Stern am Literaturhimmel der USA. Smonk ist sein zweiter Roman und viel zu früh veröffentlicht für ein Werk solcher Drastik und Rohheit, wie ihm sein Agent sorgenvoll beschied. Tatsächlich blieb der Erfolg des Buches weit hinter dem seines Vorgängers Hell at the Breech (2003) und vor allem des Nachfolgers Crooked Letter, Crooked Letter (2010) zurück, was aber den Autor nicht weiter überraschte. Bei Franklin regten sich bereits während des Schreibprozesses Scham und schlechtes Gewissen: „ Das Schreiben war wie Masturbieren – es fühlt sich großartig an, aber gleichzeitig fühlt man sich schuldig – es war zu gewalttätig, es war zu schräg, es wurde zuviel gefurzt und es gab zuviel Sex.“ Das Schreiben ging fast von selbst. Es war wie eine Entladung, ein Urgeschehen, wie Nowatzki im Vorwort von Smonk erklärt. Nach der Mühsal mit dem Vorgänger war das für Franklin eine neue Erfahrung, also musste der Roman unbedingt und gegen alle Widerstände veröffentlicht werden. Interessanterweise wurde vor kurzem Crooked Letter, Crooked Letter von der Regierung Baden-Würtembergs als Abiturpflichtlektüre für den Englischunterricht ab 2019 bestimmt, was dem buckeligen Vorläufer Smonk sicherlich so nicht passiert wäre. Und noch eins: Nach Franklins furiosem Einstand erscheint oben genannter Roman dieses Jahr als Band 49, Krumme Type, Krumme Type, bei Pulp Master auf deutsch – schon der zweite Glücksgriff für Tom Franklin und Pulp Master.

Der vollständige Titel von Franklins Buch lautet in der Übersetzung: Smonk oder Stadt der Witwen. Das sind die skabrösen Abenteuer von E. O. Smonk & der Hure Evavangeline im Clarke County. Alabama, zu Beginn des letzten Jahrhunderts. „Skabrös“ ist ein antiquiertes Lehnwort für „schlüpfrig“ oder „anzüglich“, wie es noch im 18. Jahrhundert für erotische oder pornografische Literatur verwendet wurde. Und tatsächlich hat man es hier mit einem Werk zu tun, was vormals in die bewachten Giftschränke der Leihbibliotheken gewandert wäre. Gleich der erste Satz des ersten Kapitels beschwört mit „Mord, und Mundharmonika-Musik“ eine flimmernde Italo-Western-Nostalgie herauf und veräußert ganz nebenbei das Wissen um den kurz bevorstehenden, gewaltsamen Tod des titelgebenden Protagonisten. Wir erleben E. O. Smonk anfangs aus einer Art Verfolgerperspektive oder Rückenschau (niemals wird der Leser mit dieser Figur eins werden können), später meist aus deutlicherer Entfernung und über den Umweg der Begegnung mit den anderen handlungstragenden Figuren. Immer wieder wird man durch einen lakonischen und dreisten Erzähler um die Identifikation mit irgendeiner der Figuren betrogen, was dem Genuss der aberwitzigen Handlung aber kaum Abbruch tut.

Man erfährt, dass Smonk im Jahr 1911 der Prozess gemacht werden soll, dass er ein Wüstling, Dieb und Frauenschänder von außergewöhnlicher Ausstrahlung und abstoßendem Äußeren ist, der die kleine Gemeinde von Old Texas, Alabama, tyrannisiert und regelrecht ausbeutet. Man erfährt außerdem, dass seine „riesenhafte Zwergengestalt“ von so gut wie jeder bekannten Krankheit befallen ist: Geschwüre und Narben bedecken Hände und Gesicht. Er hat einen Kropf, Gicht, den Tripper, Blutzucker, Malaria, Nervenweh, Schüttelfrost und Schwindsucht. Wegen der Syphilis trägt er eine Brille mit dicken blauen Gläsern. Überhaupt hat sich der hässliche Unhold für den Prozess lächerlich fein gemacht: schokoladenfarbige Kalbslederstiefel, Rüschenkragen, „Schnürsenkel-Krawatte mit einem Würfelpaar an den Enden“, Elfenbeingriff am Stock, aber bloß kein Hut! Dem Hyper-Stereotyp zum Spott heißt es hier lapidar „von Hüten schwitzte er am Kopf“.

Als ginge es darum, zunächst alle Grundbausteine einer klassischen Western-Story zu diskreditieren, mag er Pferde selbstverständlich auch nicht. Dafür aber Waffen aller Art und Wirkung, von denen er große Mengen am Leib trägt. Smonks einprägsamstes und skurrilstes Merkmal ist sein Glasauge, das nicht ganz richtig sitzt und bei jeder sich bietenden Gelegenheit effektvoll aus der Augenhöhle ploppt. Michail Bachtin würde von einem grotesken Körper pentagruelscher Dimension sprechen, und tatsächlich hat die Groteske zuallererst die Pflicht, die menschliche Gesellschaft mit dem schlimmsten Auswuchs derselben zu konfrontieren. Das ist Smonk.

Derart steckbrieflich eingeführt und aller Sympathien vollends verlustig, schleppt er sich auf einem Maultier wankend und auf einem Spazierstock humpelnd, hustend und spuckend, hin zum provisorischen Gerichtsgebäude. Es folgen der Versuch des versammelten Mobs ihn zu lynchen und Smonks von langer Hand geplantes Massaker an den Anklägern und allen Anwesenden, inklusive gedungenen Killern und ratterndem Maschinengewehr. Das ganze erinnert bewusst an die legendär übertriebenen Showdowns von Django (1966) und The Wild Bunch (1969), hier nur eben gleich zu Beginn – Tabula Rasa sozusagen. Übrig bleibt ein dem Untergang geweihtes Städtchen voller verschworener Witwen, deren geheime Machenschaften die Grenzen des Anstands und guten Geschmacks sehr weit ausloten und dabei schicksalhaft mit E. O. Smonk kollidieren.

Der das Massaker überlebende und neuerdings übellaunige Gerichtsdiener McKissick führt im Anschluss einen Rachefeldzug gegen Smonk, was natürlich auch mit lang zurückreichenden Geschichten zu tun hat. McKissicks von penetranter Dauergeilheit geplagter Sohn muss in der Konfrontation mit Smonk und den Witwen im Schnelldurchgang erwachsen werden und bekommt eine nicht unbedeutende Schlüsselfunktion. Aber die wichtigste Figur neben Smonk, auch und besonders für den kleinen Lustmolch McKissick, ist das 15-jährige Mädchen Evavangeline, das hurend („machtʹn Dollar“) und unbeschwert mordend von den Hafenkneipen und Bordellen Louisianas und Mississippis bis hinauf nach Alabama streunert. Sie ist Gegenentwurf und verzerrtes Abbild Smonks und Sünde (Eva), Unschuld (Evangelos) und rotzfreche Göre mit großkalibrigem Schießeisen zugleich. Trotzdem ist sie noch die freundlichste Erscheinung des Buches und ihre Beweggründe sind die plausibelsten: kindliche Neugier, unbedingter Überlebenswille und der ihrem abgemagerten Körper innewohnende Drang nach Befreiung und Verwandlung. Irgendetwas treibt sie außerdem unaufhaltsam in die Nähe Smonks.

Im Land ringsumher herrschen barbarische Zustände und ein Mädchen muss seinen Weg gehen. Es ist Wolfszeit, es gilt das Gesetz des Stärkeren, ein Krieg aller gegen alle. Wegen der schrecklichen Dürre liegen die Felder brach oder vertrocknen. Überall rauchen die Kadaverberge verbrannter Tiere. Es grassiert die Tollwut in unbegreiflichen Ausmaßen, sie droht alles und jeden zu erfassen. In dieser apokalyptischen Ödnis verstört am meisten der völlig deplazierte Auftritt des tugendhaften Abenteurers und Einfaltspinsels Phail Walton und seiner wie Buffalo Bill uniformierten „christlichen Deputies“. Auf Evavangelines Spur der Verwüstung folgend gibt der selbsternannte Gesetzeshüter skurrile Einblicke in die Gedankenwelt eines gebildeten Idioten am Rande der Zivilisation. Seine Männer repräsentieren genau diesen breiten Rand: stumpfsinnig, ignorant, rassistisch.

Eine schwierige Ausnahme bildet Waltons Stellvertreter, Ambrose, dessen gewiefte Brutalität im krassen Gegensatz zur Naivität seines Anführers steht. Ambroses Haut ist schwarz, und so ist auch seine Seele, was ihn aber wiederum nicht besser oder schlechter macht als den Rest. All diese korrupten und verkommenen Kreaturen Franklins humpeln, kriechen, vögeln, furzen und scheißen sich (manche reiten sogar) bis zum unvermeidlichen und infernalischen letzten Gefecht in Old Texas, Alabama, und obwohl alles stimmig und auch spannend bleibt, erscheint die Zusammenführung der Erzählstränge gegen Ende streckenweise etwas gehetzt. Soll heißen: die Schockwirkung dieses Kuriositätenkabinetts lässt hin und wieder nach, die Pointendichte verringert sich. Womöglich ist diese Dosierung intendiert und verfolgt einen lobenswerten Zweck: Der beim Genuss verderbter Literatur zwangsläufig verursachte rezeptive Dauererregungszustand, ganz zu Schweigen von den Reibungen und Abnutzungserscheinungen bei Moral und Geschmack des Lesers, dürfen endlich einer verdienten Erschlaffung weichen.

Titelbild

Tom Franklin: Smonk. Die Stadt der Witwen.
Pulp Master, Berlin 2017.
309 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783927734814

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