Entdeckungen der unerfreulichen Art

Hans Freys Sachbuch über die ersten 100 Jahre deutschsprachiger Science-Fiction bietet wenig Grund zur Freude

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Genoss das Genre der Science-Fiction (SF) beim Publikum hierzulande in den 1970er Jahren seine bislang wohl größte Beliebtheit, um dessen Gunst in den folgenden Jahren sukzessive zu verlieren, so wächst das Interesse am Genre seit Beginn des neuen Jahrhunderts wieder an. Das mag auch daran liegen, dass seither immer mehr anspruchsvollere Werke von AutorInnen auf den Markt kommen, deren primäres literarisches Betätigungsfeld außerhalb des Genres und der Genre überhaupt liegen. Genannt seien nur Marlen Streeruwitz, Juli Zeh, Karen Duve und Dietmar Dath. Natürlich gab es solche AutorInnen auch früher schon. Man denke nur an Alfred Döblin, der in den 1920er Jahren den Roman Berge Meere und Giganten veröffentlichte. Doch war ihre Zahl weit geringer als heutzutage.

Hans Frey beleuchtet nun in seinem mit zahlreichen Titelbildern der behandelten Werke illustrierten Sachbuch Fortschritt und Fiasko die Entwicklung der deutschsprachigen Science Fiction „vom Vormärz bis zum Ende des Kaiserreichs“.

Der Grundstein des Genres wurde bereits vor gut 200 Jahren gelegt, und zwar, soweit bekannt, mit dem 1810 veröffentlichten Roman Ini des deutschen Schriftstellers Julius von Voß. Die Chancen, dass ein dem Genre zuzurechnendes früheres Werk entdeckt wird, stehen gering. Zumindest wenn man Hans Frey folgt, demzufolge seine Entstehung „untrennbar mit der explosionsartigen Entfaltung von Wissenschaft und Technik verbunden“ und somit eine „geistige Schöpfung des mit der Aufklärung und der Dampfmaschine heraufziehenden Industriezeitalters“ sei. Das mag zwar so sein, überzeugend ist das dennoch nicht. Denn normalerweise sind es inhaltliche oder formale Kriterien, die in Werk erfüllen muss, um einem bestimmten Genre zugerechnet werden zu können. Freys Vorgehen aber garantiert, dass er alle Werke, welche die inhaltlichen Voraussetzungen erfüllen, der SF zugerechnet zu werden, jedoch bereits zuvor veröffentlicht wurden, als „Proto-SF“ von der SF unterscheiden kann. Selbst dann, wenn sie „z.B. die Fliegerei, Raumfahrt, erste Außerirdische, utopische Idealgesellschaften u.v.m.“ thematisieren.

Bevor sich der Autor der Science-Fiction zuwendet, stellt er zunächst einige Werke dieser Proto-SF vor. Ihre Zeit beginnt ihm zufolge um das Jahr 1500 und wird Anfang des 19. Jahrhunderts von der SF abgelöst. Zu ihren Werken zählt der Autor etwa Thomas Morus’ Utopia, aber auch Werke, von denen man es nicht ohne Weiteres erwartet hätte wie zum Beispiel Grimmelshausens Der abenteuerliche Simplicius Simplicissimus und Jean Pauls Des Luftschiffers Gianozzo Seebuch, denn es genügen ihm schon einige „utopische Passagen“, um sie dem Genre zuzuschlagen.

Frey möchte nicht nur die Geschichte der deutschsprachigen SF von 1810 bis 1918 darstellen, sondern auch deren „Meilensteine“ würdigen. Tatsächlich geschieht dies aber kaum einmal. Das liegt natürlich auch daran, dass Meilensteine eben nicht alle naselang zu finden sind.

Dem Buch liegt ein weiter SF-Begriff zugrunde, wofür es gute Argumente gibt. Zugleich zeigt Frey Verständnis dafür, dass die Mehrzahl der einschlägigen Werke von geringer literarischer Qualität ist. So ist er gegenüber „Figurenzeichnungen“, die „klischeehaft unlebendig“ sind und „keine wirklichen Charaktere“ entwickeln, „sondern nur […] Funktionen [aus]üben“, mehr als nachsichtig, da „viele (nicht alle) SF-Romane keineswegs das Ziel haben, tiefsinnige Charakterstudien und Auslotung der letzten psychischen Falte anzubieten“. Vielmehr sei Science-Fiction „ein legitimes Mittel“, um „Inhalte und Botschaften zu transportieren“.

Es sind gerade solche „weltanschaulichen und politischen Aspekte“, die ihn besonders interessieren. So macht Frey immer wieder SF-Publikationen nieder, die sich ex- oder implizit gegen die zeitgenössische Sozialdemokratie richten. Dies wiederum dürfte zum einen daran liegen, dass die Erzeugnisse dieser Art tatsächlich zahlreich, allzu zahlreich waren, zum anderen aber auch daran, dass der Autor selbst von Jugend an aktiver Sozialdemokrat ist und als Vertreter seiner Partei mehr als zwei Jahrzehnte lang im nordrhein-westfälischen Landtag saß.

Frey stellt nicht nur etliche bekannte und noch mehr weniger bekannte SF-Romane vor, sondern bietet auch kurze Abrisse der Biografien wichtiger AutorInnen des Genres. Zudem weist er auf einige nicht deutschsprachige Werke hin, denen er zu Recht einen großen Einfluss auf die deutschsprachige Science-Fiction zuschreibt.

Nicht selten ergeht er sich in allzu langatmigen Nacherzählungen der Inhalte einzelner Romane. Die biografischen Abrisse wiederum sind voller abgegriffener Metaphern, die sich auch schon mal auf engstem Raum aneinanderreihen. So wird ein Autor als „kein Kind von Traurigkeit“ charakterisiert, das „die Feste feierte, so wie sie fielen“. Ebenso oft gehen die polemischen Pferde mit Frey durch, die ihn dann auch schon mal zu unwürdigen Mitteln greifen lassen. Etwa wenn er „das Denken“ eines „pseudowissenschaftlichen Fachbuchautor“ namens Nagl als „vernagelt“ abkanzelt.

Die ersten beiden der sich mit der ‚eigentlichen‘ Science-Fiction befassenden Kapitel hat der Autor chronologisch angelegt, die anderen fünf thematisch. Der erste Abschnitt deckt die Jahre von 1810 bis 1870 und somit den weit größeren Teil des Untersuchungszeitraums ab. Das liegt daran, dass das Genre „nach den ersten großen Würfen“ der „taufrischen deutschen SF“ zwischen 1810/20 in einen fünfzigjährigen „Dornröschenschlaf“ fiel, aus dem es erst in den 1870er Jahren wieder erwachte. Der Zeit von 1870 bis zum Ende des Kaiserreiches gelten nun alle weiteren Kapitel, deren erstes eine Art Überblick bietet, während die anderen politische und thematische Schwerpunkte setzen. So werden zunächst die wenigen Erzeugnisse der „progressiven SF“ behandelt, dann  die „reaktionäre und faschistische SF“ und schließlich diejenige zwischen den politischen „Fronten“. Denn die SF dieser Zeit war Frey zufolge „über weite Strecken explizit politisch“.

Zwar erkannten Frey zufolge vor allem „ politisch rechte Autoren […] die große Bedeutung der populären Literatur in der Meinungsmache und fanden vornehmlich in der SF-Utopie/Dystopie die Form, die diese Aufgabe am besten erfüllen konnte“, doch war es der „intellektuell redliche und tiefsinnige Linksliberale“ Kurd Laßwitz, der mit seinem 1897 erschienenen Roman Auf zwei Planeten bereits zum Auftakt des SF-Booms um 1900 „bewies“, „dass die Kaiserreichs-SF weder automatisch reaktionär noch naturnotwendig gehalt- und kunstlos sein musste“. Außer Laßwitz, so Frey weiter, „meldeten sich andere Autoren (und eine Autorin) zu Wort, deren SF im weitesten Sinne fortschrittlich war“. Diese eine Autorin sei Bertha von Suttner gewesen, die zwar „in die engeren Gefilde der SF vor[gestoßen]“ sei, „ohne je originäre SF geschrieben zu haben“. Denn ihr Maschinenzeitalter (1889) sei überhaupt „kein Roman, sondern ein philosophisches Traktat“. Dem lässt sich leicht widersprechen. Zudem lässt Frey ausgerechnet ihren dezidiertesten SF-Roman Der Menschheit Hochgedanken  (1911) unbeachtet.

Tatsächlich gab es neben Suttner sehr wohl noch andere Frauen, die fortschrittliche SF schrieben, nur scheinen sie Frey unbekannt zu sein. Etwa die Hamburgerin Emilia Bufalo della Valle, die 1873 unter dem Pseudonym Moderatus Diplomaticus das Theaterstück Die Deutschen und Engländer im Mond publizierte, die Feministinnen Helene Judeich mit Neugermanien aus dem Jahr 1903 und Helene Voigt 1909 mit Anno Domini 2000.

Neben Suttner kommt bei Frey überhaupt nur noch eine einzige weitere deutsche SF-Autorin vor: die „ansonsten unbekannte Autorin Marie Vaertino“, deren „vollends groteske Geschichte“ Die zukünftige Welt (1908) er vorstellt. Mit Vaertino scheint Frey eine ausgesprochene Entdeckung gemacht zu haben. Gar so unbekannt ist die Autorin dann aber doch nicht. Man weiß zum Beispiel, dass sie nicht Vaertino, sondern Vaerting hieß, von 1880 bis 1964 lebte, neun Geschwister hatte, als junge Frau eine Zeit lang mit ihrer jüngeren, aber später bekannteren Schwester Mathilde in Marburg wohnte, in Gießen zur Mathematikerin promoviert wurde und dass sie Gedichte sowie andere fiktionale Werke publizierte. All dies und einiges mehr ist in verschiedenen Publikationen nachzulesen.

Bei einer dritten Autorin wiederum vermutet Frey nur, dass es sich um eine Frau handelt. Denn von ihr (oder ihm) ist nur der Name (oder das Pseudonym) E. Tanne bekannt. Ob es nun aber zwei oder drei Autorinnen sind, macht keinen großen Unterschied. Sie bleiben – ungeachtet der Tatsache, dass das männliche Geschlecht die SF dominierte – doch unterrepräsentiert.

Es lassen sich in Freys Buch dennoch durchaus einige Entdeckungen machen, nur sind es leider meist keine erfreulichen. Denn es ist zwar auch einmal ein pazifistischer Roman darunter wie beispielsweise Wilhelm Lamszus 1912 erschienene Dystopie Das Menschenschlachthaus, die den prophetischen Untertitel Bilder vom kommenden Krieg trug. Oft aber handelt es sich um ausgesprochen reaktionäre Werke. Denn „rechtsradikale Schreibtischtäter“ betrieben mit „ihren heiß herbeigewünschten faschistischen ‚Zukunftsbildernʻ“ schon im Kaiserreich die „literarische Vorbereitung des Faschismus“, wie Frey schreibt, ohne zwischen faschistischer und nationalsozialistischer Ideologie zu unterscheiden.

„Zwischen den Fronten“ der wenigen progressiven und der zahlreichen reaktionären SF-AutorInnen macht Frey einige „Außenseiter und Sonderlinge“ aus, die „in ihren Zukunftsentwürfen seltsam unentschlossen, zögerlich, ja ratlos wirken“. Nicht selten seien es „Künstler und Intellektuelle“ gewesen, „die man als ‚kaiserreichsverdrossen‘“ bezeichnen könne, mithin also „tumbe Rebellen“, die „ziemlich genau [wussten], wogegen, aber nicht wofür sie waren“, wie Frey meint. Hinzu kamen zum einen schon damals „Grüne SF als Regelsammelsurium“, die „Kitsch und Unredlichkeit im Grünen SF-Gewand bietet“, sowie  zum anderen „religiöse Phantasien“ über den „Gottesstaat und das Reich Jesu“.

Nach seinem Durchgang durch die mehr oder weniger explizit politische SF wendet sich der Autor „Facetten der frühen deutschen Unterhaltungs-SF“ zu, „die nur wenige oder gar keine ausdrücklich genannten und ideologisch ausformulierten weltanschaulichen Botschaften enthalten“, aber doch „(überwiegend rechte) politische Implikationen“ aufweisen. So leide etwa Max Haushofers Roman Planetenfeuer (1899) an einer „klaren faschistischen Schlagseite“, während sich hinter Robert Heymanns titelstiftendem und die Erde mit dem Untergang bedrohenden roten Komet (1909) erkennbar die SPD verberge. Allerdings rücke in den Jahren um 1910 die Partei „als exakt lokalisierbarer Feind“ in den Hintergrund. Nun müssen „abstrakte Pauschalbezeichnungen (die Roten,  die Gelben, der Jude, der Russe etc.)“ als Feindbilder herhalten.

Wie erwähnt, lassen sich in Freys Buch etliche, allerdings zumeist unerfreulich Entdeckungen machen. Dass es über weite Strecken keine erquickliche Lektüre ist, liegt jedoch nicht nur an den vorgestellten Werken, sondern auch daran, dass der Autor seiner offensichtlichen Neigung zu Verbalinjurien allzu gerne nachgibt. Selten einmal, dass er einen Roman, eine Kurzgeschichte oder eine AutorIn wirklich lobt. Der Band wird der deutschsprachigen Science Fiction somit sicher keine neuen Fans hinzugewinnen.

Titelbild

Hans Frey: Fortschritt und Fiasko. Die ersten 100 Jahre der deutschen Science Fiction. Vom Vormärz bis zum Ende des Kaiserreichs 1810-1918.
Golkonda, Berlin 2018.
316 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783946503323

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