Identität, Würde und die Gefährdung der Demokratie

Francis Fukuyama operiert erneut haarscharf am Zeitgeist

Von Karl AdamRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl Adam

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine mittlerweile geradezu klassische Lesart neuester Geschichte lautet in etwa so: Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat 1989 das Ende der Geschichte als weltweiten Sieg der liberalen Demokratie ausgerufen, doch dann kam es ganz anders. Balkankriege, 11. September und islamistischer Terrorismus, Afghanistan und Irak, Wirtschafts- und Finanzkrise, der Putinismus und das gewaltsame Verschieben von Grenzen in Europa, der Aufstieg des Populismus und zuletzt der Doppelschlag des Jahres 2016, Brexit und Trump – all diese Geschehnisse wurden jeweils gegen Fukuyama ins Feld geführt. Dabei scheint es so, als habe kaum jemand seinen Essay, dessen Titel übrigens mit einem Fragezeichen versehen war, oder das spätere Buch von 1992 wirklich gelesen. Anders ist kaum zu erklären, warum die Hauptaussagen immer wieder derart unterkomplex wiedergegeben wurden. Bereits Peter Sloterdijk hat in seinem Tagebuch die eigentümliche Schadenfreude bemerkt, mit der viele Analysten des Weltgeschehens der vermeintlich optimistischen Sichtweise Fukuyamas ein Scheitern attestiert haben.

Man könnte sagen, dass fast alle Großdenker mit ihren Analysen letztlich daneben liegen und von den Geschehnissen widerlegt werden. Die Größe liegt jeweils eher im Erkennen und Benennen wesentlicher Trends und Wirkungszusammenhänge der jeweiligen Zeitthemen. In dieser Hinsicht ist Fukuyama ungeschlagen: Ob der Einstieg in die Informationsgesellschaft (1999), die Konsequenzen aus den Möglichkeiten der Bio- und Gentechnologie (2002), die Kritik am US-amerikanischen Neokonservatismus (2006) – stets haarscharf an der Gegenwart, Zeitgeschichte, die noch qualmt, politikwissenschaftlich reflektierend, fungiert er als Stichwortgeber für den globalen politischen Diskurs. Und so liest sich auch sein jetzt auf Deutsch vorliegendes Buch Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet, das im Oktober 2018 im Original erschienen ist, als eloquenter Kommentar zum Zeitgeist: „Anerkennung“, „Würde“, „Identität“, „Migration“, „Nationalismus“, „Religion“ und „Kultur“ sind die Themen, die Fukuyama umtreiben. Dabei sind viele Texte gar nicht neu, sondern Ausarbeitungen von Vorlesungen, die bereits 2005 beziehungsweise 2011 gehalten wurden und zuletzt verstärkt Aktualität erlangt haben: „Dieses Buch wäre nicht geschrieben worden, wenn Donald J. Trump im November 2016 nicht zum Präsidenten gewählt worden wäre“, heißt dann auch der erste Satz.

Fukuyamas Identitätsbegriff beschränkt sich nicht auf jenen, wie er heute in manch universitärem Umfeld gepflegt wird, und auch nicht auf seinen Gegenentwurf, den „white pride“. Es geht um einen breiteren Kontext, in dem unter anderem ein altvertrauter Nationalismus ebenso um Anerkennung buhlt wie etwa ein politisierter Islam. Phänomene, die, so Fukuyamas Grundthese, nicht allein durch ökonomische Reformen überwunden werden könnten: Wirtschaftliche Motive seien (mittlerweile) mit Identitätsfragen „verflochten“. Dabei fällt die Einführung in den zeithistorischen Kontext noch recht ökonomiezentriert aus, sieht er doch die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2007 bis 2009 und die anschließende Euroschuldenkrise als wesentliche Einschnitte in den bis dahin mehr oder weniger ungebremsten Siegeszug der liberalen Demokratie. In beiden Fällen habe die „Elitenpolitik“ zu Rezession, hoher Arbeitslosigkeit und sinkenden Einkommen einfacher Arbeitnehmer geführt und damit der Reputation der liberalen Demokratie insgesamt geschadet.

Hierbei handele es sich jedoch um eine Koinzidenz: Schon im „Ende der Geschichte“ hatte Fukuyama darauf hingewiesen, dass die Unzufriedenheit in materiell halbwegs saturierten Gesellschaften nicht ab-, sondern zunimmt: „Der Kampf um Anerkennung gerät erst dann in die heiße Phase, wenn er formell gewonnen ist und alle erwachsenen nicht entmündigten Individuen als Staatsbürger bestätigt sind“, hat Peter Sloterdijk diesen Umstand in Anlehnung an Fukuyama einmal beschrieben. Und weiter: „Je grösser der relative Wohlstand aller ist, desto schlechter fühlt sich der Einzelne, solange er nicht ganz oben ist. In einer scheinbar befriedeten Gesellschaft vergleicht sich jeder mit jedem ganz ungeschützt, ohne sich der selbstschädigenden Konsequenzen des Vergleichens bewusst zu sein.“

Fukuyama dekonstruiert zunächst das in die Jahre gekommene Model des homo oeconomicus, wonach jedes Individuum letztlich nur ein rationaler Nutzenmaximierer sei. Einem Hedgefonds-Manager, Mutter Theresa und einem Selbstmordattentäter zu attestieren, dass sie letztlich nur jeweils ihren eigenen Nutzen maximieren, scheint erkennbar zu kurz gedacht. Nun geht Fukuyama zu Platons Staat zurück und referiert die dortigen Überlegungen zur Natur der Seele. Neben einem begehrenden Teil, der individuelle Präferenzen widerspiegele („Essen und Trinken“), und einem überlegenen Teil, in dem die rationale Nutzenmaximierung stattfinde, habe die moderne Wirtschaftstheorie einen dritten Teil vollständig vergessen: „Sokrates benutzt ein neues Wort, nämlich Zorn, für den Teil der Seele, der die Wut eines Menschen auf sich selbst in sich birgt. Dabei handelt es sich um eine unzureichende Übersetzung des griechischen Wortes thymos.“

Megalothymia war nun das Problem hierarchischer, aristokratischer Gesellschaften: Eine kleine Minderheit wollte als überlegen gelten und eine Mehrheit musste auf jene Anerkennung vollständig verzichten. In der heutigen Gesellschaft der Isothymia wurden die kleinen Eliten nun, der Theorie nach, durch grundsätzlich gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger abgelöst (so wie zuvor bereits die großen Vielvölkerreiche durch dem Anspruch nach gleichberechtigte Nationalstaaten abgelöst worden waren).

Hier liegen nun aber zahlreiche Probleme, die Fukuyama ideengeschichtlich reflektiert: Die Idee des „inneren Selbst“, von einer jeweils eigenen „Identität“, die von der äußerlich zugeschriebenen Rolle zu trennen und dieser überlegen sei, formuliert erstmals Martin Luther in Anlehnung an Augustinus. Doch es ist dann – wie so oft – der Ideengeber Jean-Jacques Rousseau, der heutigen Phänomenen mit seiner Unterscheidung von amour de soi (Selbstliebe) und amour propre (Selbstsucht oder Eitelkeit) schon recht nahe kommt: „Sobald die Menschen sich wechselseitig zu schätzen begonnen hatten und die Vorstellung der Achtung in ihrem Geist gebildet war, beanspruchte jeder, ein Recht darauf zu haben, und es war nicht mehr möglich, es irgendjemandem gegenüber ungestraft daran fehlen zu lassen.“

Rousseau nimmt jedoch eine folgenreiche Unterlassung vor, in dem er den platonischen Thymos als „Fehlentwicklung“ des Menschen in bereits durch Eigentumsverhältnisse charakterisierten Gesellschaften definiert, und dem ein quasi vorgesellschaftliches Individuum gegenüberstellt, dass gar keinen Anlass zu Stolz, Wut und Anerkennung gehabt habe. Geht Rousseau also an dieser Stelle hinter die klassischen Griechen zurück, kommt bei Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel später als weitere Identitätskategorie das Konzept der Würde hinzu: „Durch die Universalisierung der Würde wird die private Suche nach dem Selbst zu einem politischen Projekt.“

Doch was ist heute anders, was ist im 20. und frühen 21. Jahrhundert mit dem Identitätsbegriff geschehen, und was verleiht dem Thema seine immense Aktualität? Fukuyama nennt eine Reihe von Aporien, die das Isothymia-Konzept hervorbringt: Gruppenbasierte gesellschaftliche Benachteiligung kann dort schnell in Überlegenheitsansprüche umschlagen; ein teilweise aggressiv eingeforderter Anspruch auf Achtung, Würde und Selbstverwirklichung geht oftmals mit einem Ausblenden der außenzentrierten Aspekte eines ganzheitlichen Selbstachtungsbegriffs einher: „Soziale Verantwortung“, „Respekt vor anderen“ oder „charakterliche Integrität“; Selbstachtung schlägt dann schnell in Narzissmus um. Ein Umstand, den Fukuyama mit einem Buchtitel des Soziologen Philip Rief umschreibt: dem Triumph der Therapeutik (1966). Das Vakuum, das der Verfall der Religion in westlichen Gesellschaften hinterlassen habe, sei von der „Religion der Psychotherapeutik“ gefüllt worden. Das dort stattfindende „Herauskehren“ des inneren, als höherwertig geltenden Selbst, schließe keineswegs aus, dass das, was dort herausgekehrt wird, eine „Stätte asozialer oder schädlicher Impulse, ja sogar des Bösen“ selbst ist. Von hier aus ist es dann nicht mehr weit zur Kritik Christopher Laschs an der Psychotherapeutik:

Selbst wenn Therapeuten vom Bedürfnis nach ‚Lebenssinn‘ und ‚Liebe‘ sprechen, verstehen sie Liebe und Lebenssinn nur im Sinne einer Erfüllung der emotionalen Forderungen des Patienten. Es fällt ihnen kaum ein – und in Anbetracht der therapeutischen Praxis wäre dafür auch kein Grund zu sehen –, die Patienten zu ermutigen, ihre Bedürfnisse und Interessen einem anderen Menschen, einer Sache oder einer Tradition unterzuordnen.

Hinzu kam seit den späten 1960er Jahren eine gewisse Doppelnatur der zahlreichen Emanzipationsbewegungen: Ging es einem Martin Luther King noch darum, dass Schwarze genauso behandelt werden müssten wie Weiße (alles andere aber unangetastet blieb), betonten Bewegungen wie „Black Panthers“ oder „Nation of Islam“ ein eigenes schwarzes Selbstverständnis, das Hervorkehren eigener Traditionen, einer eigenen Identität. Konzentrierte sich die Frauenbewegung anfangs mehrheitlich auf die Gleichstellung am Arbeitsplatz, im Erziehungswesen, vor Gericht oder anderswo, ging es einem gewichtigen Teil um die Definition spezifisch weiblichen Selbstverständnisses und weiblicher Lebenserfahrung, die von Männern kaum oder gar nicht wahrnehmbar seien. „Gelebte Erfahrung“ wurde seit Simone de Beauvoir zu einem Schlüsselbegriff des Identitätsdiskurses und erfuhr durch moderne Kommunikationstechniken und soziale Medien noch einmal einen exponentiellen Bedeutungszuwachs. Der „altmodische“ Erfahrungsbegriff, also die „Möglichkeit, Standpunkte und Gefühle über Gruppengrenzen hinweg zu teilen“, geriet hingegen ins Hintertreffen.

Es geht Fukuyama bei seinen Überlegungen nicht darum, die erwähnten Emanzipationsbestrebungen zu diskreditieren. Im Gegenteil: Sie seien eine „natürliche und unvermeidliche Reaktion auf Ungerechtigkeiten“. So hätten auch die Black-Lives-Matter- und #MeToo-Bewegungen konkrete Verbesserungen gezeitigt. Sein Problem ist ein anderes, welches ihn in gute Gesellschaft mit dem zeitgenössisch-progressiven Diskurs in Deutschland bringt: Von „manchen Linken“ werde Identitätspolitik als „billiger Ersatz für ernsthafte Überlegungen“ gebraucht, „wie der seit 30 Jahren andauernde Trend ausufernder sozioökonomischer Ungleichheit in den meisten liberalen Demokratien umgekehrt werden kann.“

Was also tun? Diese seit Lenin beliebte Frage stellt Fukuyama am Schluss, und wie so oft führt das treffende Erkennen und Benennen der eingangs erwähnten „Trends und Wirkungszusammenhänge, der jeweiligen Zeitthemen“ nicht unbedingt zu den tauglichsten oder auch originellsten Schlüssen und Handlungsempfehlungen: Primär geht es ihm um eine gruppenübergreifende Synthese der Identitätsgruppen (und Grüppchen) im Zeichen der liberalen Demokratie. Dass den „Ursachen moderner Identitätspolitik […] beispielsweise unberechtigter Polizeigewalt gegen Minderheiten oder sexuellen Angriffen und Belästigungen am Arbeitsplatz, in Schulen oder anderen Institutionen“ dabei entgegengewirkt werden muss, dürfte unstrittig sein.

Die spezifische Kultur der liberalen Demokratie müsse mehr herausgestellt und höher gewertet werden, als solche Kulturen, die demokratische Werte ablehnten. Zu oft, so Fukuyama, gehe der moderne Identitätsbegriff einher mit einem Multikulturalismus-Konzept, das einen einheitlichen Respekt vor allen Kulturen einfordert, „selbst wenn diese die Autonomie der zu ihnen gehörenden Individuen einschränken.“ Zudem könne insbesondere Europa in Sachen „Staatsbürgerschaft“ noch einiges von den USA lernen. Das dortige Einschwören auf Verfassung und Grundwerte sei wesentlich integrativer als viele Regelungen in den Staaten der EU, wo oftmals noch das ius sanguinis herrsche statt das ius soli, die Staatsbürgerschaft also vererbt werde statt durch Einwanderung erworben werden zu können. Eine einheitliche europäische Staatsbürgerschaft wird postuliert, da dies „die Fähigkeiten“ der 28 Mitglieder aber wohl übersteige, werde „jegliche Aktion […] wohl oder übel auf nationalstaatlicher Ebene“ stattfinden müssen. Dabei wendet sich Fukyama aufgrund potenzieller Loyalitätskonflikte gegen die doppelte Staatsbürgerschaft und verweist auf die mangelhafte Integration deutscher Bürger türkischer Herkunft. Verstärkte Bemühungen in der Integrationspolitik, ein nationaler Pflichtdienst zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls und sozialpolitische Maßnahmen sind die weiteren Zutaten, welche helfen sollen, die negativen Aspekte der Identitätspolitik einzudämmen.

Mit Identität ist Fukuyama ist erneut ein thesenstarker Beitrag zum Zeitgeschehen gelungen, der aktuelle Phänomene ideengeschichtlich einordnet, konkrete Empfehlungen gibt und sich erstaunlich passgenau in den deutschen und europäischen Diskurs einfügt.

Titelbild

Francis Fukuyama: Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Bernd Rullkötter.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2019.
337 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783455005288

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