Literaturgeschichtliche Tour de force

Karl-Heinz Götterts Buch „Der Rhein. Eine literarische Reise“ bietet spannende Einblicke in über acht Jahrhunderte deutschsprachiger Dichtung entlang dieses Stroms, stellt aber auch eine Herausforderung bei der Lektüre dar

Von Bernhard JudexRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Judex

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die literarische Reise von der Quelle bis zur Mündung des Rheins, zu der Karl-Heinz Göttert in seinem jüngst erschienenen Buch einlädt, mutet Leserinnen und Lesern durchaus einiges an Durchhaltevermögen zu. Als Parforceritt oder besser als schwindelerregende Schifffahrt auf den Spuren der deutschsprachigen Literaturgeschichte gerät der Ausflug entlang des vielbesungenen mythenbildenden Stroms, der nicht nur die Landschaft und Lebensweise, sondern auch die Kultur und das Geistesleben in seinem Umfeld prägte, zu einer äußerst dichten Ansammlung von Namen, Texten und unterschiedlichen literarisch-historischen Ereignissen vom frühen Mittelalter bis in die Gegenwart: Vom Nibelungenlied über Sebastian Brants Narrenschiff, natürlich Schiller und Goethe, das Brentano-Haus in Oestrich-Winkel, Annette Droste-Hülshoff in Meersburg am Bodensee bis hin zu Carl Zuckmayer, Anna Seghers Judenbuche, Heinrich Böll oder Dieter Wellershoff, von Hölderlins Rhein-Hymne über Ferdinand Freiligrath und Heinrich Heines Loreley bis hin zu den deutschtümelnd nationalistischen Dichtungen eines Ernst Moritz Arndt und vielem mehr ist beinahe alles vertreten, was literarisch am oder in der Nähe des Rheins entstanden ist und von ihm inspiriert wurde.

Als Fluss der politischen Grenzen prägte der Rhein über viele Jahrhunderte die Kulturen und politisch-gesellschaftlichen Lebensräume sowie die Vorstellungen der Menschen. Dabei unterscheidet er sich nicht zuletzt von dem ganz in seiner Nähe entspringenden zweiten wichtigen mitteleuropäischen Strom, der Donau. Diese durchfließt die Länder der ehemaligen Donaumonarchie, des historischen Vielvölkerstaates, und versinnbildlicht damit das utopische Versprechen einer Einheit, wie etwa auch Claudio Magris in seinem 1988 erschienenen Buch Donau. Biographie eines Flusses festhält. Bereits Friedrich Hölderlin nahm die unterschiedliche Charakteristik und Topographie der beiden Flüsse zum Ausgangspunkt seiner großen Strom-Hymnen. Während die Donau, von ihrem Ursprung aus träge, ja beinahe zurückstrebend und die Flussrichtung umkehrend, nach „Asia“ fließt, ändert der tosend von „Treppen des Alpengebirgs“ herabstürzende „freigeborene Rhein“ jäh seine Richtung nach Norden, um schließlich „Stillwandelnd sich im deutschen Lande“ seiner kulturstiftenden Aufgabe zu widmen: „Im guten Geschäfte, wenn er das Land baut, / Der Vater Rhein, und liebe Kinder nährt / In Städten, die er gegründet“.

Mit dem Stoff der Nibelungensage und dann vor allem erneut wieder ab 1800 eignet dem Rhein eine starke ideologische Symbolkraft. Nicht zuletzt aufgrund seiner realen Bedeutung als Grenze sowie als Transportweg wird er zum Brennpunkt deutscher Identität. Mit dem Entstehen der romantischen Bewegung, in Zusammenhang mit der zunehmenden Mobilität und den technischen Veränderungen in der frühen Moderne gerät er zum nationalen Mythos, zur landschaftlichen Signatur, die auch für die Staatsgründung 1871 zentral werden sollte. Nikolaus Beckers Rheinlied und Max Schneckenburgers Die Wacht am Rhein sind zwei der bekanntesten Beispiele für die ideologische Instrumentalisierung des Flusses in der Literatur. Seine Ufer bildeten den Gegenstand des politischen Konflikts zwischen Deutschland und Frankreich. Umgekehrt gab es freilich auch immer wieder Bestrebungen zu einer den Nationalismus überwindenden deutsch-französischen Einheit, so etwa bei Joseph Görres, Georg Forster oder auch Heinrich Heine. Auch für Victor Hugo, der 1839 und 1840 Rhein-Reisen unternahm, galt das Gewässer als europäischer Fluss, als eine Verkehrsader für den Austausch von Waren und geistigen Ideen.

Verdienstvoll an Götterts Buch ist nicht zuletzt, dass es auch entlegene Stoffe aufgreift. Als Beispiele dafür seien etwa John Knittels heute wenig bekannter Roman Via mala (1934) oder der Aufsatz des jungen Friedrich Engels über das Nibelungenlied (Siegfrieds Heimat) genannt. Die literarische Spurensuche entlang des Rheins führt zu sehr unterschiedlichen Verzweigungen. So etwa liest man, dass Oswald von Wolkenstein auf dem berühmten Konzil zu Konstanz eine wichtige Funktion eingenommen hat, dass das Ehepaar Percy und Mary Shelley den Rhein bereiste oder dass die Hauslehrertätigkeit Guillaume Apollinaires in Bad Honnef eine Reihe von Rheinliedern inspiriert hat. Auch die alemannische Dichtung entlang des Grenzgebiets am oberen Rhein wird thematisiert. Bei den Protesten gegen die Errichtung des Atomkraftwerks Wyhl 1975 etwa fanden sich Deutsche und Elsässer zusammen, um in ihrem gemeinsamen Dialekt das Projekt zu Fall zu bringen. An stofflicher Fülle und Detailreichtum mangelt es Götterts Darstellung keinesfalls, auch wenn einzelne Texte oder Namen, die es ebenfalls verdient hätten, aufgenommen zu werden, wie etwa die Strom-Lyrik Nico Bleutges, fehlen.

Dabei liest sich die Aufeinanderfolge zeitlich auch weit auseinander liegender Autorinnen und Autoren, ihrer Texte und der literarischen Stoffe mitunter etwas sperrig und lässt Zusammenhänge, ein verbindendes Thema einzelner Abschnitte und vor allem einen kontextuell ausgerichteten Blick vermissen. Eine Kritik an seinem Buch liefert der Autor quasi selbst im Vorwort: „Die Ereignisse ‚springen‘. […] Die Topographie scheint also zu stören.“ Die dem Flusslauf entsprechende Abfolge singulärer Begebenheiten, unterschiedlicher Namen und Werke quer durch die Epochen ist manchmal nicht nur verwirrend, sondern auch redundant. Von Gottfried von Straßburg „springt“ Göttert munter ins 19. Jahrhundert, von der Gegenwart plötzlich zurück in den Humanismus, mal findet man sich im Nibelungenlied, kommt dann zu Hanns Dieter Hüsch und kehrt unvermittelt zurück zu Siegfried in Xanten.

Neben einem fehlenden Register, das der Leserin und dem Leser die Orientierung wesentlich erleichtern würde, bildet diese Art der Darstellung doch eine gewisse Hürde, die den Lesegenuss beeinträchtigt. Trotz unterschiedlicher Akzentuierung scheint das in vergleichbaren Büchern, die ebenfalls dem Weg des Stroms von der Quelle zu seiner Mündung folgen, wie etwa Elke Heidenreichs Reisebuch Alles fließt. Der Rhein (2018) oder Hans-Jürgen Balmes kulturgeschichtlicher „Biographie eines Flusses“ Der Rhein (2021) etwas besser gelöst. Umgekehrt fördert Götterts literarische Reise eine wahre Fülle an Details zutage, die sich in dieser Dichte anderswo kaum finden lassen und dabei eine deutschsprachige Literaturgeschichte in nuce ergeben. Man möge sich also in das Leseabenteuer einlassen, das Wissen erweitern und vielleicht so den ein oder anderen kulturgeschichtlich bedeutsamen Ort selbst besuchen: Denn als literarischer Reisebegleiter ist Götterts Buch durchaus zu empfehlen.

Titelbild

Karl-Heinz Göttert: Der Rhein. Eine literarische Reise.
Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2021.
349 Seiten, 120 Farbabb., 7 Karten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783150113561

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