Aus dem Reiche des Polyhistors

Anmerkungen zum Goethejahrbuch 2016

Von Martin MeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Meier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Goethe-Jahrbuch 2016 erscheint nunmehr der 133. Band dieser altehrwürdigen Reihe, der  in dieser Ausgabe vor allem jüngeren Autoren die Möglichkeit zur Publikation eigener Forschungsergebnisse bietet. Sechs Beiträgen der 84. Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft folgen Abhandlungen aus der Feder bekannter Autoren. Gleich drei Aufsätze nähern sich dem Wilhelm Meister-Roman aus unterschiedlichen Perspektiven. Unter der Rubrik „Goethe philologisch“ geht Katharina Mommsen auf die Entstehung von Goethes Werken in Dokumenten ein. Die Bearbeiter einer digitalen Faust-Edition stellen ihr Projekt hieran anschließend vor. Mit zwei Beiträgen wartet der Abschnitt „Dokumente und Miszellen“ auf.  Abschließend runden Rezensionen den Band in gewohnter Manier ab.

Somit bietet auch diese Jahresgabe eine Fülle von Themen, die Goethe einmal mehr als polyhistorischen Denker kennzeichnen. Gelehrtheit, die ihre Kraft nicht aus einem Fach, nicht aus der Beschäftigung mit einem Gegenstand, nicht aus dem Kreisen um immer gleiche Phänomene bezieht und die sich doch in einem beachtlichen Maß an Akribie in der Auseinandersetzung mit konkreten Sachverhalten spiegelt. Ein Beispiel hierfür bietet Olaf L. Müllers Optische Experimente in Goethes Arbeitszimmer. Mutmaßungen über die apparative Ausstattung und deren räumliche Anordnung. Müller rekonstruiert die konkrete räumliche Ausgestaltung optischer Versuche in Goethes Weimarer Haus.

Dessen vielfältigen naturwissenschaftlichen Interessen werden auch in Gerd Iblers kurzem Beitrag zur mineralogischen Korrespondenz zwischen Goethe und Karl Ludwig Giesecke deutlich. Sein „Gespräch mit der Erde“, die Beschäftigung mit der Mineralogie, begann Goethe in Weimar, so Ibler. Im Jahre 1776 wandte er sich, getrieben von dem Bemühen um eine Wiederaufnahme des Bergbaus in Ilmenau an den Geologen Friedrich Wilhelm Heinrich von Trebra. Schließlich, am Ende seines Lebens, wies die Gesteinssammlung 18.000 Exemplare auf. Er sammelte zielgerichtet und kaufte in großem Umfang Exponate an. Durch die Lektüre eines Aufsatzes über grönländische Mineralien wurde Goethe der Name Karl Ludwig Ritter von Giesecke bekannt. Im Falle des Augsburgers Giesecke handelte es sich um einen Bürgerlichen namens Johann Georg Metzler, der einige Zeit als Schauspieler und Theaterdichter wirkte, bevor er sich dem Sammeln und dem Verkauf von Mineralien zuwandte. Ab 1800 beteiligte er sich an umfassenden Forschungsreisen. 1814 wurde er aufgrund seiner herausragenden wissenschaftlichen Leistungen zum Professor berufen. Wann Metzler den Namen Giesecke annahm, ist nicht bekannt. Der brillante Mineraloge trat 1819 in Kontakt mit Goethe, dem er eine Kiste Mineralien übersandte. Ein Dankschreiben des Dichters folgte umgehend, das Giesecke aufgrund seiner Reisen erst drei Jahre später beantwortete. Der nun entstehende sporadische Briefwechsel berührte neben mineralogischen Fragen auch die Meteorologie. Einige bereits verstreut veröffentlichte Briefe Gieseckes werden von Gerd Ibler um jene bislang bekannte, jedoch unpublizierte Korrespondenz bereichert und zusammen mit Goethes Antwortschreiben abgedruckt.

Sowohl die historische als auch die literaturwissenschaftliche Forschung haben seit einiger Zeit das Thema Mensch-Tier-Beziehung für sich entdeckt und in zahlreichen Veröffentlichungen den Versuch seiner Bearbeitung unternommen. In diese Kerbe schlägt Adrian Robanus mit seinem Aufsatz „Vernunftähnliches oder unendliche Kluft“? Die anthropologische Differenz in „Dichtung und Wahrheit“. Er verweist gut belegt auf Goethes beständigen Versuch, die Mensch-Tier-Beziehung zu harmonisieren und die scheinbar unüberwindliche Kluft verschiedener Lebensformen in der Dichtung aufzuheben. Robanus spannt hierbei den Bogen von Goethes Drama Satyros oder der vergötterte Waldteufel über Wilhelm Meister hin zu den Wahlverwandtschaften. In erstgenanntem Werk hebt Satyros als „Geschöpf der Entgrenzung“ den Mensch-Tier-Gegensatz in Persona auf.

Indem Goethe Affen in den Wahlverwandtschaften auftreten lässt, nutzt er ein Lebewesen, das der Naturforschung des 18. Jahrhunderts in besonderer Weise dazu diente, die Mensch-Tier-Differenz zu verdeutlichen. Er lässt Luciane, die eine Horde Affen mit sich führt, das Gut Ottiliens besuchen. Ottilie reflektiert diesen Besuch unter anderem in ihrem Tagebuch und verdeutlicht, „daß das Menschengebild am vorzüglichsten […] das Gleichnis der Gottheit an sich trägt“. Sie betont so die Differenz zwischen Mensch und Tier. Robanus ist nun der Auffassung, dass die Notwendigkeit der Abgrenzung gerade aus der „Durchlässigkeit und Konstruiertheit der Affe-Mensch-Grenzlinie“ resultiert. Ottilie, die den menschlichen Körper selbst als etwas Animalisches auffasst, hungert, um diesen Körper zu unterdrücken und sich so das Menschliche zu bewahren. Sie stirbt letztlich an ihrem Versuch, die anthropologische Differenz aufrecht zu erhalten. Luciane hingegen überlebt. Robanus führt in seinem Beitrag also unterschiedliche Strategien Goethes vor, die anthropologische Differenz zu thematisieren.

Der Berliner Maler Fritz Ludwig Cartel veröffentlichte im Taschenbuch für Damen des Jahres 1801 bei Cotta eine Reihe von zwölf Kupfern, die Frauen darstellen, die gegen die gesellschaftlichen Konventionen verstießen, beispielsweise die Ehebrecherin, die überforderte Mutter, die  Schriftstellerin et cetera. Hierbei handelte es sich um eine Auftragsarbeit. Cotta bat Goethe um einen Beitrag, der die Bilder erklären sollte. Anna Schütz verweist in ihrem Beitrag Vom Kommentar zur Bildkritik auf Goethes Anliegen den Bildaussagen gegenläufige Positionen gegenüberzustellen und die vermeintlich „bösen Weiber“ im Lichte ihrer Handlungsoptionen und Motive differenziert zu zeichnen. Goethe nutze die Gelegenheit einerseits zur Analyse gesellschaftlicher Gegebenheiten und zur Problematisierung der Textgattung des Bildkommentars, andererseits um deutlich in Opposition zu der jeweiligen zu erläuternden Karikatur zu treten. Goethe erklärt die Karikaturen nicht, sondern entwickelt ein Gespräch zwischen den zwei befreundeten Damen Henriette und Amalie, die unterschiedliche Positionen gegenüber den Karikaturen einnehmen.

Philipp Restetzki fragt in seinem Beitrag „Der Schlüssel zur Fausts Rettung“. „Streben“ und „Liebe“ als spinozistische Motive, ob Fausts Erlösung gerechtfertigt ist. Er argumentiert unter Bezug auf Baruch de Spinoza, der für Goethes Weltanschauung bedeutend war. Schwerpunkt der Untersuchung ist der „Prolog im Himmel“ und der Abschnitt „Bergschluchten“ im Faust. 1782 bis 1786 betrieb Goethe intensive Studien über Spinoza. Den Prolog verfasste er in den Jahren 1797 bis 1801. Die im Faust präsenten Konzepte „Streben“ und „Liebe“ basieren auf den philosophischen Überlegungen Spinozas. Er vertrat die Auffassung, dass „jedes Ding gemäß der eigenen Natur in seinem Sein zu verharren“ trachte. Störung erfolge gegebenenfalls nur durch Äußeres. Hieraus leitete Spinoza den natürlichen Trieb zur Selbsterhaltung ab, weil dieselbe sich gegen Äußeres richtet. Mephisto will das Streben Fausts durch Genuss verringern. Er zielt somit auf eine Zersetzung des Selbsterhaltungstriebs Faustens. „Wenn der Geist etwas vorstellt, das die Wirkungsmacht des Körpers vermindert oder hemmt, dann strebt er soviel er kann, sich an Dinge zu erinnern, die dessen Existenz ausschließen“, heißt es in Spinozas Ethik. Restetzki liefert eine Kompilation von Aussagen Goethes und Spinozas. Diese sind aber noch kein Beweis dafür, dass die Gedanken auf den jüdischen Philosophen zurückzuführen sind. Er weist lediglich Ähnlichkeiten der Gedankenführung nach, nicht aber den direkten Rückbezug Goethes auf Spinoza. Hierzu bedürfte es eingehender Untersuchung in Goethes Selbstzeugnissen. Der jüdische Philosoph formulierte drei Erkenntnisgattungen: 1. die Vorstellung, 2. die rationale Erkenntnis und 3. die intuitive Erkenntnis. Sie spiegeln sich in Goethes „Bergschluchten“ wider.  Der hier auftretende Pater Ecstatikus verweise, so Restetzki, auf die erste Stufe, die Vorstellung. Er sei aller Unbill hilflos ausgesetzt, er ertrage sie. Pater Profundus hingegen reflektiere die Natur und bilde somit die zweite Stufe der Erkenntnis ab. Parter Seraphicus schließlich erfasse Natur intuitiv  und verkörpere die dritte Stufe.

Theatrale Kunstwerke werden durch die subjektiven Auffassungen und Bedürfnisse der Betrachter wahrgenommen und gebrochen. Dies verbaut den Blick auf den „gemeinschaftsstiftenden Charakter von Kunst“. Martin Schneiders Beitrag Verfehlte Feste. Theatrale Kollektivbildung in Goethes Prosa widmet sich der Frage, inwiefern theatrale Gemeinschaften in Goethes Prosa „durch das Theater konstituiert werden“. Schneider bemüht sich nachzuweisen, dass es eine von der Forschung bislang nicht bemerkte Kontinuität gab. Anhand der Werke Wilhelm Meisters Lehrjahre, Wahlverwandtschaften von 1809 und der Novelle von 1828 versucht er seine These zu untermauern. In eben jenem 1828 erschienenen Prosawerk wird die gemeinschaftsstiftende Wirkung verschiedener Künste dargestellt und theatralisiert. Goethe ist hier wie auch in anderen Prosawerken bemüht, diese elementare Funktion darzustellen. Nicht zuletzt durch das Durchbrechen diegetischer Erzählung, zum Beispiel durch den unmittelbaren Appell an die Rezipienten der Dichtung, zielt Goethe auf die Formung „virtueller Imaginationsgemeinschaften“.

Schneiders durchaus lesenswerter Beitrag hätte stilistisch gründlicher Bearbeitung bedurft. Er enthält Formulierungen, die die Lektürefreude deutlich mindern, etwa den folgenden Satz: „[…] ihm liegt die Annahme zugrunde, dass reale Theateraufführungen auf sinnlich fundierter Materialität beruhen, die von körperlich präsenten Zuschauern im Wahrnehmungsakt realisiert wird.“ Dies ließe sich gewiss auch verständlicher ausdrücken. Derartige Verklausulierungen zeugen keineswegs von übermäßigem Sprachtalent, sondern sind Ausdruck eines Geistes, der versucht, Banalitäten durch hochtrabende Worte zu bemänteln.

In seinem Beitrag Wilhelm Meisters Weg in ein tätiges Leben. Jarno als Mentor verweist Klaus-Detlef Müller darauf, dass es sich im Falle des Wilhelm Meister-Komplexes um ein gültiges Großprojekt handelte, das im Grunde ein umfassendes Bildungs- und Erziehungsideal unter verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen thematisiert. Es hat Goethe ähnlich wie der Fauststoff ein Leben lang beschäftigt.

Oliver Grills Aufsatz Wenn so viele Wesen durcheinander arbeiten thematisiert das Goethe  zugeschriebene und oft belächelte Bemühen, eine eigene Witterungslehre zu formulieren. Nach Goethe verändert die Erde beständig ihre Gravitationskraft. Sie ziehe hierdurch auch den Dunstkreis an und verhalte sich wie ein lebendiger Körper. Dies zeige die beständige Veränderung des Luftdrucks. Grill unterzieht nun den Stellenwert der Schwerkrafthypothese in Goethes Schriften einer kritischen Prüfung. Goethe, der im Vorwort zu Wolkengestalt nach Howard sein großes Interesse an der Meteorologie verdeutlicht, hat vor allem in seiner Campagne in Frankreich, die nach Auffassung Grills nicht von den übrigen Texten zum Wetter zu meteorologischen Texten zu trennen ist, durch eine Vielzahl von Metaphern Krieg und Wetter miteinander in Verbindung gebracht. Grill zeigt, dass Goethe keineswegs bemüht war, eine eigene Witterungslehre zu schaffen, sondern dass er vielmehr in seinem essayistischen Versuch der Witterungslehre immer wieder selbstkritisch die eigenen Auffassungen hinterfragt und letztendlich seine eigene Hypothese nahezu gänzlich wieder zurücknimmt. Hypothesen seien, so habe es Goethe einmal ausgedrückt, in der Physik nichts anderes als der Versuch, „bequeme Bilder“ zu schaffen, die die „Vorstellung des Ganzen erleichtern“. Grill verdeutlicht dies etwa anhand der Goetheschen Formulierung des „pulsierenden Pneumas“. Anschaulichkeit und ein künstlerisch-ästhetisches Durchdringen des Wetters waren Ziel der Darstellung. Auffällig ist auch hier wie in anderen Werken die Verwendung alchemistischer Metaphorik und Symbolik. So erscheint Mercurius-Quecksilber bei Goethe als eine Art von Tau, der als eine Art Quinta essentia in allen Dingen wirkt, wie eben auch im Wetter. Im Wasser sei Mercurius flüssig, in der Luft gasförmig. Die Symbolik dient zur Veranschaulichung der Lebendigkeit der Erde und des Wetters. Auch hier wirkt der große Weimarer Geist als Dichter, nicht als Naturwissenschaftler.

Weitere wichtige Beiträge des Jahrbuches sind Michael Veehs Teufelspakt und Gretchenfrage, der eine jüngere Comicadaption des Fausts behandelt, Johannes Johns Goethes „Wanderjahre“ und das Theater sowie Anton Karl Mallys kurze Untersuchung der Redewendung „Irrt hier jemand, so irrt Goethe selbst“.

Es bietet zudem neben dem breiten thematischen Spektrum der Fachbeiträge Einblick in die Arbeit der Gesellschaft, deren umfassende deutschlandweite Aktivitäten ihr hohes Maß an wissenschaftlicher Vitalität bezeugen.

Titelbild

Frieder von Ammon / Jochen Golz / Edith Zehm (Hg.): Goethe-Jahrbuch 2016. 133. Band der Gesamtfolge 2016.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
292 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783835330702

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