Über die ästhetische Wahrnehmung hinaus
Hans Graubner untersucht Paul Celans „biographische Poetologie“
Von Axel Schmitt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Bedeutung literarischer Texte bemisst sich in hohem Maße auch am Umfang dessen, was mit ihnen und nach ihnen, im Bereich der Literatur und ihrer Theorie, nicht mehr möglich ist. Die Gedichte Paul Celans haben sich nicht nur gegen die Dichtung der Vergangenheit konstituiert, die dem in ihnen gespiegelten historischen Geschehen nicht gerecht wurde, sondern durch sie sind auch so gut wie alle kanonischen Formen literarischer Erkenntnis zumindest problematisch geworden. Celans Texte stellen das Problem der Überlieferung, der Darstellbarkeit und der Mitteilbarkeit von Erfahrungen in einer Weise, die es nicht mehr erlaubt, Kommentare und Interpretationen auf der hermeneutischen Grundlage aufruhen zu lassen, das Gedicht und sein Verstehen könnten sich in einem identischen Medium der Bedeutung bewegen. Die Gedichte sind textuelle wie diskursive Erkundungen, Such-Bewegungen in einem Bereich, in dem Erfahrungen prekär, sich allererst auf dem Grat der Sprache, der Schrift und ihrer Zwischenräume einstellen. Für das fraglos nicht leichte Studium der Texte Celans folgt daraus, dass es sich gegen eindimensionale, allzu aufpfropfende Lektüre defensiv, gegen die Sphäre eines (wie auch immer gearteten) Sinns asketisch zu verhalten und sich denjenigen Figuren und Verfahrensweisen zuzuwenden hat, in denen die Beziehung zwischen Sprache und Bedeutung und auch ihre mögliche Beziehungslosigkeit artikuliert wird. Ihre Analyse hat, wie Werner Hamacher unterstrichen hat, verständlich zu machen, dass dem Verstehen strukturell Grenzen gesetzt sind, es sich mitunter nur um ein „entferntes Verstehen“ handeln kann.
Die Dunkelheit dieser Dichtung wird zum einen von der klassischen obscuritas, die in Weiter- wie Widerschrift von Friedrich Hölderlins Poetologie von einer heilig-nüchternen Trunkenheit aufrechterhalten wird, zum anderen von Celans unstillbarem Verlangen nach einer durch die Person begründeten Historizität bestimmt. Die biografischen Daten, von denen die Texte Zeugenschaft geben, stehen in einer Kontinuität; sie bilden eine Linie zu dem historischen Ereignis, das seinen Schatten über sie wirft, wobei die Vernichtungslager nur selten den von den Texten unmittelbar thematisierten Gegenstand bilden; sie zeichnen vielmehr – auf eine indirektere und wirksamere Weise – schrittweise und schmerzhaft jedem Wort, jeder neu geschaffenen Bedeutung und damit der Syntax dieser Texte eine Tonalität und ihren Schatten ein.
Das Besondere dieses in den Texten ausgetragenen poetologischen Prozesses liegt in dem von Jean Bollack thematisierten Umstand begründet, dass der Status der Interpretation dieser Texte von dem im Gedicht selbst erfolgenden Kommentar, von der eigenen interpretativen Natur der Texte nicht zu trennen ist. Der Text besteht in der oft mühsamen und nicht leicht nachzuvollziehenden Entzifferung einer sprachlichen Wirklichkeit, die vor den Augen des Dichters zuerst destruiert und dann anders wieder konstruiert wird. Wenn der Kommentar in den Texten selbst stattfindet, bleibt kein Raum für spekulative Glossierungen. Die Gedichte entziffern andere Gedichte, sie ordnen ‚Daten‘ neu, und entdecken dabei, indem sie von innen heraus und aus der Distanz ihre Textualität neu ordnen, wie man sie aus der Sicht des Lesend-Schreibenden neu ‚lesen‘ müsste. Diese ‚dekonstruktiven Textbewegungen‘ stehen bei Celan seit den frühesten Gedichten unter dem „Neigungswinkel seines Daseins, dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit“, mit dem der Dichter auf das basale ‚Datum‘ seiner Texte rekurriert: die auf der Wannseekonferenz 1942 geplante und anschließend bürokratisch durchgeführte Vernichtung der europäischen Juden, die noch im selben Jahr den Tod von Celans Vater und die Ermordung seiner Mutter zur Folge hatte. Mit dem „Neigungswinkel“ weist Celan auf die besondere individuelle Schrägstellung des Menschen in seiner Zeit im Hinblick auf sein Ende hin. In einem Brief an Peter Szondi vom 29.11.1960 schreibt Celan: „Nëila, lieber Peter, ist das hebräische Wort für das Abendgebet und, übertragen, für Neige und Zu-Ende-Gehen“. Diese ästhetische Hinneigung auf das Ende hin, dieser Meridian des Todes findet sich auch in den Gedichten, wenn es im Meridian heißt: „[D]as Gedicht zeigt, das ist unverkennbar, eine starke Neigung zum Verstummen.“
Durch Detailanalyse und Interpretation einiger thematisch aufeinander bezogener Gedichte macht Hans Graubner in seiner Untersuchung zu Celans „biographischer Poetologie“ diesen „Lernprozess“ sichtbar, „der in den Gedichten selbst ausgetragen“ wird. Dabei gehe es Celan „in diesem Lernprozess darum, eine Sprache zu finden, die von den Vernichteten selbst gebilligt und schließlich von ihnen diktiert wird.“ Für den Interpreten bedeute dies, den durch die ästhetische Struktur der Gedichte freigesetzten Verstehensspielraum durch genaue und detaillierte Textanalyse zu ermitteln und Deutungswillkür zu vermeiden. „Nicht alles ist möglich, aber was möglich ist, sagt das Gedicht genau. Celans Gedichte sind genau und verlangen in besonderem Maße die alle Einzelheiten wahrnehmende Aufmerksamkeit des Lesers.“ Für Graubner geht der Leser „durch das Erfassen des im Gedicht mitgeführten Schicksals […] über die ästhetische Wahrnehmung hinaus und stößt auf den Neigungswinkel, unter dem es geschrieben ist und den Deutungsspielraum umreißt, den es dem Leser eröffnet“. Zu Recht vermerkt er, dass Celan alle Auffassungen von Dichtung abgelehnt habe, die diesen biografischen Ansatz programmatisch übergehen – zugunsten einer „Artistik“, wie sie Celans Ansicht nach die Gedichte Gottfried Benns auszeichnet, oder der – von Hugo Friedrich stark gemachten – „These von der ‚Entpersönlichung‘ beziehungsweise ‚Enthumanisierung‘ in der modernen Lyrik“.
Das Eingangskapitel der Untersuchung erörtert Grundzüge von Celans „biographischer Poetologie“ des Neigungswinkels und macht die Herkunft dieses Begriffs aus dessen Lektüre von Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge plausibel. In Rilkes Roman wird der „Neigungswinkel“ auf die Pietà bezogen, auf die Schräglage des toten Christus im bergenden Arm seiner Mutter. Diese Figur, so zeigt Graubner sehr anschaulich, hat in radikaler Inversion – der überlebende Dichter liegt im Arm einer Toten (Mutter, Geliebten) – eine sehr persönliche Bedeutung für Celan.
Im Hauptteil der Arbeit wird an den Gedichten Schwarze Flocken, Der Einsame, Strähne, Du darfst, Wortaufschüttung, Ich kenne dich und Weggebeizt nachgezeichnet, worin diese (mit Jacques Derrida gesprochen) Auto-Bio-Thanato-Grafie besteht und welche besondere Poetologie aus ihr entworfen wird. Dabei verdeutlicht Graubner, dass die biografische Orientierung der Gedichte Celans wesentlich in ihrer dialogischen Struktur bestehen, als Gespräche zwischen einem Ich und Du, die einer Gebetshaltung gleiche und auf des Dichters Dialog mit den Toten verweise. Durch die Analyse wird deutlich, dass es sich in diesen Gedichten um eine spezifische Poetologie handelt, „um eine in den Gedichten selbst vorgenommene, ständige Reflexion auf ihre jeweilige poetische Sprechweise im Blick auf den Dichter, auf die Toten und auf die Sprache, in der sie ins Verhältnis zu setzen wären“. Als biografische Poetologie versteht Graubner dementsprechend „die innere Bewegung und Wandlung in den Gedichten […], die sich auf der Suche nach der für die Toten gültigen Dichtung zwischen dem Ich, dem Du und dem Gedicht vollzieht. Dabei tritt eine Entwicklung zutage, in der das Ich und seine Verfügung über den Text Schritt für Schritt zurückgedrängt wird und das gültige Gedicht der Sprachkraft der Toten zugedacht wird, die das überlebende Ich eher hindert als fördert.“
Kritisch anzumerken ist jedoch zweierlei: Zum einen gerät Graubners anvisierter Widerstand gegen die „Tendenz“, „Celans Gedichte im Blick auf eine allgemeine ‚moderne‘ Poetologie aus ihrer biographischen Erdung heraus zu nehmen und sie zu einem abstrakten Beispiel modernen Dichtungs- und Sprachverfahrens zu neutralisieren“, bei allen klugen Beobachtungen an den ausgewählten Gedichten zu einseitig, wenn er die ästhetische Dimension der Texte, ihre inter-textuelle Verfasstheit, den Versuch der Etablierung einer Gegen-Sprache, einer Gegen-Ästhetik im Raum zwischen einem „Schon-nicht-mehr“ und einem „Immer-noch“ einer Vor-Auschwitz-Dichtung nahezu vollständig ausblendet. Zum zweiten stellt es einen erheblichen Rückschritt dar, dass die Gestaltung der Ich-Du-Strukturen in Celans Gedichten im Wesentlichen auf Celans „intensive[] Lektüre der Schriften über das dialogische Prinzip von Martin Buber“ zurückgeführt (die Celans ausgesprochen kritische Sicht auf Buber und dessen Theorien unberücksichtigt lässt) und unter Zuhilfenahme von Gadamers klassisch-hermeneutischer Interpretationsfrage „Wer bin ich und wer bist Du?“ zu deuten versucht werden, blendet sie doch neuere Versuche aus, das Verhältnis von Ich und Du auch kritisch-hermeneutisch zu plausibilisieren. Angelpunkt der kritischen Hermeneutik, wie sie etwa von Bollack gedacht wurde, ist die Vorstellung, dass die Dichtung – auf einer breiten Grundlage von Spontaneität – sich ihrer eigenen Vorgehensweise bewusst ist. Statt eine absolute Ästhetik oder einen einseitigen Biografismus zu verabsolutieren, historisiert Bollack radikal den Herstellungsprozess durch eine historisch determinierte Differenz, die vorzugsweise in der Syntax, Zäsur, in Leerstellen, Zwischenräumen, Wortaufschüttungen und Wortzerstörungen sichtbar wird. Mit Hilfe seiner Syntax reflektiert und „liest“ Celan, wie die Gedichte mit ihrer Spontaneität umgehen. Nach Bollack stellt der Dichter diesen Prozess durch das Verhältnis von Ich und Du dar. Ein künstlich konstruiertes Subjekt, das außerhalb der Sprache stehe, bedient sich eines „Du“, das sich hingibt und schreibt und sich dabei vom „Ich“ beobachtet weiß. Das unterscheidet sich fundamental von der Vorstellung eines Dichter-Ichs bei Graubner, das mit dem Du der Toten ins Gespräch kommt. Bollacks kritisch-hermeneutische Philologie entzieht jeder philosophischen Hermeneutik, die Graubner durch die Hintertür wieder in die Celan-Forschung hineinlässt, den Boden, die den Dichter zum Sprachrohr des „Menschlichen“ oder eines Diskurses macht und damit übergeht, dass schon Celan selbst mittels der konkreten Schriftlichkeit, in dem Zwischenraum einer Wider-, Weiter- oder Wieder-Schrift, – bei aller Insistenz auf den persönlichen ‚Daten‘ – gegen diese Missachtung protestiert hat.
Noch einmal: Das Gespräch mit den Toten als einen (nicht unwesentlichen) Aspekt des Dialogischen in den Texten Celans zu verstehen, lässt sich durch die Interpretation der für diese Untersuchung ausgewählten Gedichte durchaus plausibel machen; doch der Beleg, „dass und warum in diesen Gesprächen mit den Toten Poetologisches verhandelt wird“, gelingt nur unzureichend, es muss gar scheitern, wenn man über die ästhetische Wahrnehmung hinaus das Biografische priorisiert.
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