Philosophie to go
Uta-Maria Heims „Albleuchten“
Von Hannes Krauss
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBekannt ist diese Autorin als Verfasserin anspruchsvoller Kriminalromane, die meist im deutschen Südwesten spielen und sich mit Gegenwartsthemen, jüngerer deutscher Geschichte und nationalsozialistischer Vergangenheit befassen. Sie hat aber auch Gedichte, Hörspiele, Features und Essays veröffentlicht und unlängst nun „einen Bericht über eine Herbstreise 1790“: eine bunte Mixtur aus historischem Wanderführer, philosophischem Traktat, kultur- und sozialgeschichtlicher Studie und unterhaltsamem Kopfkino.
Als Ich-Erzähler fungiert die historische Figur des württembergischen Pfarrers Friedrich August Köhler (1768 – 1844), seinerzeit Student am evangelischen Stift in Tübingen. Zusammen mit seinen Kommilitonen Friedrich Hölderlin (1770 – 1843) und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) wandert er im Herbst 1790 in sechs Tagen von Tübingen über die Schwäbische Alb nach Ulm. Unterwegs stößt noch Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775 – 1854) dazu, und beim Zwischenaufenthalt im Pfarrhaus eines Onkels des Erzählers taucht die junge Karoline von Günderrode (1780 – 1806) auf, die auch nach Ulm möchte. Spätestens hier wird klar, dass dies kein historischer Roman ist, sondern eine vierhundert Seiten lange literarische Reise – nicht nur über die Schwäbische Alb, sondern auch durch den deutschen Idealismus, die Romantik und den württembergischen Spätabsolutismus vor dem Hintergrund der Französischen Revolution. Ein ambitionierter Text, dessen Lektüre gelegentlich an die Mühen einer Fußwanderung erinnert.
Der Ich-Erzähler beobachtet und beschreibt das armselige Leben der Bauern und die sozialen Verhältnisse auf der Schwäbischen Alb (wie dies sein historisches Vorbild im 18. Jahrhundert getan hatte), Hölderlin sammelt Landschaftsbilder für seinen Hyperion-Roman und disputiert mit Hegel und Schelling über ein „Systemprogramm des deutschen Idealismus“. Unterfüttert mit Originalzitaten der Drei gewinnt das Ganze mitunter Züge eines Philosophie-Kollegs zu Fuß. Während deren Positionen historisch belegbar sind (ihre nähere Bekanntschaft mit dem Ich-Erzähler ist allerdings Fiktion), gerät die Figur der zehnjährigen (!) Günderrode zum emphatischen Wunschbild einer frühreifen emanzipierten Frau, die sich keine Grenzen setzt. Im Unterschied zur realen Günderrode – von Zeitgenoss*innen als schüchtern, wirklichkeitsfremd und wenig durchsetzungsfähig beschrieben – rebelliert diese literarische Figur nicht nur in Briefen gegen die aufgezwungene Frauenrolle, sondern lebt, was das historische Vorbild als Wunsch formuliert hatte. Sie ist ein „wildes Mädchen“, das raucht und trinkt und dem strengen Regiment der Mutter in Hanau entflieht, um in Ulm beim Schneider Berblinger in die Lehre zu gehen (jenem legendären „Schneider von Ulm“, der als Erfinder seiner Zeit weit voraus war und bei Flugversuchen in die Donau stürzte). Heims Figurenkonstruktion ist mutig und nicht ohne Reiz, allerdings nicht immer glaubwürdig. Die Augenkrankheit der Günderrode und ihre gelegentlichen Visionen mögen verbürgt sein, aber wenn dieses frühreife Kind Fritzi (wie sie im Buch genannt wird) die Zerstörung der Gemeinde Böhringen im Zweitem Weltkrieg voraussieht, wirkt das überzogen. Auch andere Passagen des Buches sind mit breitem Pinsel gemalt, und mitunter geraten die Figuren zum bloßen Vehikel für Ideen. Da zitiert eine Dorfwirtin Immanuel Kant, Hölderlin wird ein Marxzitat in den Mund gelegt und der junge Schelling entpuppt sich als früher Verfechter ökologischer Ideen.
Gleichwohl hat das Buch seine Reize. Die Porträts von Hölderlin (dem gebildeten Schwärmer und Griechenland-Fan) und Hegel (einem versoffenen, geizigen Besserwisser und Miesepeter) sind originell, wenngleich das bei Hegel gelegentlich zur Karikatur gerät. Mit der Figur des Ich-Erzählers hat Uta-Maria Heim ihrem Landsmann Friedrich August Köhler (der wie sie im Mittleren Schwarzwald aufgewachsen ist) ein liebevolles Denkmal gesetzt – als Verfechter einer historisch-empirischen Volkskunde, lange bevor es diesen Begriff gab. Mit seinem Beharren auf Beobachtung und Beschreibung wird Köhler zum Gegenpol der idealistischen Höhenflüge von Hegel und Hölderlin (denen er im Buch wiederholt prophezeit, sie würden es zu nichts bringen im Leben).
Uta-Maria Heim hat vielleicht ein bisschen viel hinein gepackt in ihr Projekt, aber wer die ausführlichen Zitate erträgt, den zahlreichen Dialektausdrücken gewachsen ist und die ambitionierte Pädagogik der Autorin nicht allzu ernst nimmt, wird das Buch mit Gewinn – und auch mit Vergnügen – lesen. Einem Schwaben, der seit Jahrzehnten in der Diaspora lebt, hat es jedenfalls die zeitweilige Rückkehr in Kindheitsorte beschert, die in der Realität längst unter den Spuren landestypischer Tüchtigkeit verschüttet sind.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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