Zwischen Himmel und Erde

Nach „Die Bagage“ liefert Monika Helfer mit „Vati“ ein zweites Erinnerungsbuch.

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Was sind wir denn für welche […]?“, fragt die Ich-Erzählerin gegen Ende ihrer Geschichte. Es ist diese Frage, die in Vati, dem jüngsten Roman Monika Helfers, genau so im Mittelpunkt steht, wie in dem 2020 erschienenen Buch Die Bagage. Monika Helfer versucht sich ihrer Identität zu vergewissern, indem sie sich auf die Spuren der eigenen Familiengeschichte begibt.

In Die Bagage geht es um das Leben der Großeltern und deren sieben Kinder in grausamen Zeiten und unter schwierigsten Umständen. In Vati folgt quasi eine Fortsetzung. Einige Male ruft sie dabei auch das Buch über die Großeltern in Erinnerung:

Unsere Leute wurden ‚die Bagage‘ genannt. Sie waren gefürchtet. Sie hatten ihren Stolz und ein Gewehr, mit dem mein Onkel Lorenz, da war er noch nicht achtzehn, und mein Onkel Walter, der war noch ein Bub, auf die wilde Jagd gingen, weil sie sonst verhungert wären.

Vielleicht schwingt da auch ein bisschen Wilderer-Romantik mit, doch generell ist Monika Helfer recht immun gegen Familienpathos und hyperbolische Selbstdarstellung. Was sie allerdings durchgängig versucht, ist eine Darstellung der zumeist in recht ärmlichen Verhältnissen lebenden Familienmitglieder, in der neben den Problemen und Schwächen, der Verzweiflung und dem Ausgeliefertsein gegenüber einem mitunter tragischen Schicksal, deren Mut, Größe und Würde sichtbar bleiben. Damit rührt sie vermutlich nicht nur den Rezensenten an, es ist ihr allgemein wieder ein Buch gelungen, das einen nicht kalt lässt.

Die Stiefmutter fragt die Erzählerin, ob der Roman über den Vater „Wahr oder erfunden?“ sei. Die Antwort: „Beides, aber mehr wahr als erfunden.“ Letztlich eine Frage, die sich jede Lebensgeschichte stellen lassen muss, auch die, die man sich selber erzählt. Jedoch für Leserinnen und Leser recht unwichtig. Was wir vorliegen haben, ist eine raffiniert komponierte Erzählung, die um ihre eigenen Schwächen und Gefährdungen weiß, so souverän wie sie, gespickt mit dem einen oder anderen humorvollen Augenzwinkern, vorgetragen ist. 

Vati, Josef, stammt aus ärmsten Verhältnissen aus einem Dorf im Lungau. Der begabte Schüler findet in einem Baumeister einen Förderer. In dessen Bibliothek schreibt er den Ivanhoe ab. „Heilig war ihm das Buch, der liebe Gott bedeutete ihm nichts.“ Kurz vor der Matura wird er eingezogen. Im Lazaret wird ihm ein Unterschenkel amputiert und hier heiratet er Monika Helfers Mutter Grete. Nach dem „Kriegsschlamassel“ wird der Vater Verwalter des Kriegsopfer-Erholungsheims auf der Tschengla in Vorarlberg, 1220 Meter über dem Meeresspiegel, einem Paradies für die Kinder und ein paradigmatisch idyllischer Ort. Doch Poussin zeichnet es vor: ‚Et in Arcadia ego‘ – das Paradies ist die Erde und auch hier gibt es den Tod.

Im Erholungsheim gibt es eine Bibliothek mit wertvollen Ausgaben, die außer dem Vater niemand schätzt. Deshalb versucht dieser die Bände in seinen Besitz zu bringen. Absurde Zufälle gipfeln schließlich in einem Suizidversuch des Vaters. Die Zeit auf der Tschengla ist vorbei. Die Bibliothek war übrigens die Spende eines Geisteswissenschafters, dessen Sohn ebenfalls im Krieg gewesen war und wie der Vater ein „halbes Bein verloren […] und einen Arm dazu und Dreiviertel seines Verstandes“. Helfers wenige Sätze über diesen Sohn bleiben im Gedächtnis und sind eine Anklage des Kriegswahnsinns, die prägnanter selten zu finden ist.

Die Familie wird zerstreut, die Mutter stirbt an Krebs, der Vater kann sich nicht um die Kinder kümmern, die getrennt bei Verwandten unterkommen. Im Anschluss erfahren wir einiges über das Aufwachsen der Erzählerin und wie der Vater ihr Leben und später ihr Schreiben bestimmt hat. Vom Vater, der immer viel redet, aber oft wenig zu sagen hat, der in der Familie zur Sprachlosigkeit tendiert, fühlt sich Monika Helfer beeinflusst: „Ich schreibe einen Satz und höre ihn sagen: Aha? Dann definier mir doch einmal!“

Der Vater wird schließlich Finanzbeamter, der auch „so grau aussah“ wie ein solcher. In Vati zeigt die Tochter Monika Helfer, dass er „ein bunterin Wahrheit“ war. Man kann diesen liebevollen Blick einer Lesart vorziehen, die in der Vaterfigur einen Gescheiterten sieht. Urteilen Sie selbst.

Titelbild

Monika Helfer: Vati. Roman.
Hanser Berlin, Berlin 2021.
176 Seiten, 20 EUR.
ISBN-13: 9783446269170

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch