Dialoge der Aufklärung

In seiner Autobiographie „Ins Denken ziehen“ ist der Philosoph Dieter Henrich ganz bei sich selbst

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Am Morgen des 26. April 1973“, heißt es in einem kürzlich erschienenen Beitrag von Jared Marcel Pollen in Tablet, einem Online-Magazin für jüdische Nachrichten, Ideen und Kultur, „verfolgten Agenten der tschechoslowakischen Geheimpolizei (StB) in Zivil ,einen unbekannten Mann, etwa 40 Jahre alt, 175 cm groß, schlank, mit länglichem Gesicht, schwarzem, schütterem Haar, heller Brille …, der eine Papptafel mit einer Karte von Prag bei sich trug…‘.“ Bei dem hier in einer KGB-Akte Beschriebenen handelt es sich um den amerikanischen Schriftsteller Philip Roth (1933-2018), der sich mit einem Besuchervisum in Prag aufhielt und dem die Staatssicherheit deshalb den Fallnamen ‚Turista‘ – der Tourist – zuwies. 

Aus demselben Jahr, 1973, stammt die im Frühjahrsheft 2017 der Zeitschrift für Ideengeschichte abgedruckte Fotografie eines Mannes, den man durchaus mit Philip Roth verwechseln könnte, auch wenn dessen Doppelgängerhaftigkeit nicht so ausgeprägt ist wie die von Roth selbst in seinem 1993 veröffentlichten Roman Operation Shylock imaginierte. Der Schwarzweiß-Schnappschuss zeigt einen schlanken Mann „vor Emerson Hall, dem nach Ralph Waldo Emerson benannten Gebäude des Department of Philosophy der Harvard University“. Der ganz in Schwarz Gekleidete schreitet mit einem Regenschirm im Arm und einem sympathischen Lächeln im Gesicht direkt auf den Betrachter des Bildes zu. Und während es sich bei Roth um einen Amerikaner in Europa handelt, handelt es sich bei diesem Mann um einen Europäer in Amerika, und zwar um den 46-jährigen deutschen Philosophen Dieter Henrich. Henrich, Jahrgang 1927 und damit sechs Jahre älter als der in Prag observierte Philip Roth, war kein Tourist, sondern seit 1968 Gastprofessor in den USA, zunächst an der Columbia University in New York City, später dann an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, wo besagte Fotografie entstanden ist.

Diese ist einem Gespräch vorangestellt, das „die amerikanischen Jahre“ Dieter Henrichs, so der Titel, zum Thema hat. Geführt haben es der an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg lehrende Ideenhistoriker Matthias Bormuth, Jahrgang 1963, und Ulrich von Bülow, ebenfalls 1963 geboren, Leiter der Abteilung Archiv des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Beide haben bereits zusammen mit Georg Hartmann im Rahmen der Tagung Marburger Hermeneutik zwischen Tradition und Krise im August 2007 ein Interview mit Dieter Henrich geführt, das neben Erinnerungen des gebürtigen Marburgers Henrich an Schul- und Hitlerzeit vor allem um die Marburger Hermeneuten und deren philosophiehistorischen Rang kreiste. Sieben Jahre später befragten Bormuth, von Bülow und Hartmann Dieter Henrich erneut. Das Gespräch, das 2014 unter dem Titel „Heidelberg nach Karl Jaspers – Polychrome Erinnerungen“ in Offener Horizont. Jahrbuch der Karl Jaspers-Gesellschaft veröffentlicht wurde, behandelt vor allem Henrichs frühe Heidelberger Jahre ab 1950, beginnend mit seiner Dissertation über Max Weber, seine Erinnerungen an seinen Lehrer Hans-Georg Gadamer, seine kritische Sicht auf Martin Heidegger sowie seine Erlebnisse mit der 68er-Bewegung an Universitäten.

Die jetzt bei C. H. Beck erschienene Autobiographie Dieter Henrichs, die sich im Untertitel als eine philosophische ausweist, zeigt auf dem Buchumschlag nicht den jovialen, Philip Roth ähnelnden Hochschullehrer aus den Siebzigerjahren, sondern einen dreißig Jahre älteren Mann in Denkerpose: den Kopf leicht schräg haltend, von den Fingern der rechten Hand gestützt, der wache, nachdenkliche Blick auf den Betrachter gerichtet. Das Bild ist einer Serie entnommen, die die renommierte Fotografin Isolde Ohlbaum im Oktober 2003 in München von Dieter Henrich angefertigt hat. Ein anderes, nur leicht von dieser Momentaufnahme abweichendes Portrait derselben Serie ziert das Cover des 2015 in der Edition Faust erschienenen Dialogs Henrichs mit Alexandru Bulucz, der den Titel „Sterbliche Gedanken“ trägt. Hierin verweist Henrich mit Blick auf Platon auf „das Dialogische als Werkform – und die eigentliche Lehre soll nur im Gespräch ganz einleuchten können, im persönlichen Gespräch, so dass man über Platons eigentliche Lehre streiten kann bis heute.“

Es ist daher stimmig und nur folgerichtig, wenn Henrichs Autobiographie Ins Denken ziehen als Dialog, als Gespräch, als Interview konzipiert wurde und nun präsentiert wird, und wer könnte sich als Gesprächspartner besser eignen als Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow? Beide haben im Verlauf von gut fünfzehn Jahren nicht nur die oben bereits erwähnten Gespräche mit Dieter Henrich geführt; in ihrem editorischen Nachwort weisen sie darauf hin, dass sich der vorliegende Band aus insgesamt neun Gesprächen speise, die allesamt – inklusive der drei bereits publizierten – „in einer Endredaktion noch einmal zum Teil erheblich gekürzt und verändert“ worden seien, und zwar um „Zusammenhänge zu verdeutlichen, Ungleichgewichte und Dopplungen zu vermeiden“. Diese Eingriffe sind auffällig und schmerzlich, vor allem bei Kürzungen, da sie Henrichs eloquente, wohlstrukturierte Ausführungen oft zu sehr beschneiden und (ab-)lenken, was gerade im Vergleich mit dem Gespräch zur Marburger Tagung 2006/2007 augenfällig wird; sie sind nachvollziehbar und geboten, wenn man einerseits ein größeres Lesepublikum erreichen möchte und andererseits einen möglichst umfassenden und zugleich prägnanten Überblick über den Lebens- und Denkweg des „letzten Idealisten“, so das Philosophie-Magazin Hohe Luft Anfang 2018, geben will.

In ebenjenem Interview mit Hohe Luft war Tobias Hürter über das weit zurückreichende Erinnerungsvermögen des damals neunzigjährigen Dieter Henrich erstaunt: „Ich habe im Alter von zwei Jahren über vier Monate mit mehreren Operationen im Krankenhaus verbracht, durchaus bewusst… / …daran erinnern Sie sich noch? / Es gibt frühe Erfahrungen, die sich im Lebensgrund und in der Erinnerung eines Kindes festkrallen.“ In der Tat scheint die memoria eine der Gaben Dieter Henrichs zu sein, die Schüler, Leser und Gesprächspartner gleichermaßen in Staunen versetzt – und Staunen (griechisch thaumazein) steht ja bekanntlich am Beginn des Philosophierens. So stellt auch Ins Denken ziehen die Erinnerungsfähigkeit Henrichs eindrücklich unter Beweis. Topographisch und hinlänglich chronologisch gegliedert nach Lebens- und Wirkungsstätten von Marburg über Heidelberg, Berlin, wieder Heidelberg, Amerika und Abstecher in die Sowjetunion bis nach München, verfolgt die Autobiographie ihr Subjekt durch neun Jahrzehnte. 

Selbstredend, dass dabei einiges keine, vieles nur kurze Erwähnung auf den gut 270 Seiten finden kann. Man fühlt sich bei der Lektüre in gewisser Weise an Billy Joels Song Piano Man erinnert, in dem es unter anderem heißt: „He says, son, can you play me a memory / I’m not really sure how it goes / But it’s sad and it’s sweet, and I knew it complete / When I wore a younger man’s clothes“. Wie der piano man Bill – der Zufall will es, dass dieser Song wie auch die eingangs erwähnte Philip-Roth-Dieter-Henrich-Similarität und -Synchronizität auf das Jahr 1973 zu datieren ist – dem alten Mann bei dessen Erinnern hilft, so ist Henrich der philosophy man, der nicht nur selbst wesentlicher Teil der Philosophiegeschichte ist, sondern diese Philosophie und diese Geschichte sowie das eigenständige, kritische und kreative Denken als Lehrer lehrt und weitergibt und dabei en passant ein wesentliches Motiv vermittelt, das ihn zum Philosophieren brachte: „die Freude an einer architektonischen Führung von Gedankenbahnen“.

Geboren am 5. Januar 1927 in Marburg in ein Jahrzehnt, das Wolfram Eilenberger 2018 in seinem gleichnamigen Buch als die Zeit der Zauberer – namentlich die großen Jahre Martin Heideggers, Walter Benjamins, Ludwig Wittgensteins und Ernst Cassirers – populär gemacht hat, wächst Dieter Henrich zunächst in einem Zwiespalt von traumatischer Krankheitsgeschichte und unbedingter Liebe der Eltern auf, zwischen Angststarre in einem Hospital der Weimarer Republik und einem Elternhaus, das den Tod dreier Kinder vor Dieters Geburt zu beklagen hat. „Ich bin vielleicht nur Philosoph geworden“, räsoniert Henrich, „professionell und mit eigenen Ideen, weil ich mit dieser hohen Erwartung an mein Überleben großgezogen worden bin und die langen, lebensgefährdenden Krankheitszeiten durchstehen musste. Ich begann in Schmerz und Schwäche nachzudenken, und sicher auch über die Frage ‚Wieso?‘.“

Henrichs These, die er an anderer Stelle erwähnt, es gebe keinen guten Philosophen ohne Verletzung, ist eine zutiefst autobiographisch fundierte. Den naturwissenschaftlich geprägten Vater verliert er bereits mit elf Jahren; der 57-jährige stirbt in einem Kasseler Krankenhaus an einer Lungenembolie und hinterlässt seinem Sohn mit letzter Kraft ein Segenswort. Seine Mutter stirbt 1957 an Leukämie; ihr Tod erfüllt den jungen Privatdozenten mit großer Dankbarkeit, die Henrich erst dreißig Jahre später in eine Abhandlung wird überführen können: „Für mich sind stets, wie immer auf Umwegen, die Themen im Spiel, die von früh auf Lebensfragen waren.“

Henrichs Schulzeit beginnt in dem Jahr, in dem Adolf Hitler zum Reichskanzler gewählt wird, und sie endet ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Wie schon im Falle von Krankheit und Elternliebe wirken auch hier starke und prägende Gegensätze auf den jungen Schüler, die Henrich eindrucksvoll und bewegend schildert. Auf der einen Seite lernt er durch seine Mitgliedschaft im Deutschen Jungvolk Verantwortung und Führerqualitäten kennen, von denen er nicht wusste, dass er dazu fähig wäre. Ihm widerfuhr eine Persönlichkeitsbildung, die doch in kritischer Distanz zum Regime stattfand. Henrich fasst zusammen:

Die Konflikte, die ich unter Hitler durchstehen musste, zwischen dem Nichtschwimmer-Sein, aber doch gerne im Deutschen Jungvolk Erfolg zu haben, zwischen der tief christlichen Mutter und dem verführerisch-illusionären Vernunftappell des Hitlerjugendführers: ‚Wir machen das mal ganz anders und du kannst mitmachen, überleg’s dir mal‘, zwischen dem wohlbehüteten, sexuell ahnungslosen, wenn auch lernfähigen Sechzehnjährigen und der Gruppe von zwölf- bis vierzehnjährigen sexuell aktiven Bremer Proletarierkindern, zwischen dem Verwalter der Jungvolk-Personalakten und dem sicheren, aber notwendig verhohlenen Willen, dem verlorenen Krieg mit allen möglichen Mitteln zu entgehen – diese Konflikte haben mich selbstständig werden lassen. Und ich hatte das Glück, noch rechtzeitig an die Universität zu kommen und dann wirklich mit dem eigenständigen Denken beginnen zu können.

Auf der anderen Seite steht der maßgebliche Eindruck, den ein Deutschlehrer am Marburger Gymnasium Philippinum auf den Schüler Henrich hinterlässt: der Heidegger-Schüler und Kierkegaard-Kenner Wilhelm Anz (1904-1994), der später philosophischer Ordinarius an einer Kirchlichen Hochschule und damit ein Kollege Henrichs werden sollte. Zu Anz entwickelt sich eine Liebe, nach Anz hat der wissbegierige Schüler große Sehnsucht, mit Anz als Vorbild gibt der Abiturient den Berufswunsch Lehrer an. Jahrzehnte später wird Henrich seinen ehemaligen Deutschlehrer im Rahmen eines Vortrages innerhalb der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München wiedertreffen: „Er wusste gar nichts von der sehr großen Bedeutung, die er für mich in der Sexta im Marburger Gymnasium gewonnen hatte.“ 

Eine ähnliche Faszination an der Universität sollen später der Prähistoriker Gero Merhart von Bernegg (1886-1959), dessen archäologische Methode wesentlich für das Forschen und Denken Dieter Henrichs werden sollte, sowie Hans-Georg Gadamer (1900-2002), als dessen Assistent und Nachfolger Henrich in Erscheinung treten wird, ausüben. Henrich bekennt, Gadamer „gehörte zu den wenigen Menschen, die mich wirklich berührten, wie Anz und Merhart von Bernegg, die ebenfalls eine tief verankerte, erfahrungsgesättigte Humanität verkörperten“. Später, im Berlin der Sechzigerjahre, sollte sich noch der Kunsthistoriker Fritz Baumgart (1902-1983) in die Riege der „wirklichen Lehrer“ einreihen. Doch zu dem Zeitpunkt war Dieter Henrich selbst schon lange als Lehrer tätig: Mit nur 24 Jahren beginnt seine Lehrkarriere in Heidelberg, und zwar mit Kant; bald folgen Hegel-Oberseminare. Bereits im November 1949 schwärmt der gerade erstmals aus dem amerikanischen Exil nach Frankfurt zurückgekehrte Theodor W. Adorno in einem Brief an Max Horkheimer: ein wahres Wunderkind, ein Zweiundzwanzigjähriger namens Henrich, der aussieht, wie man sich Shelley vorstellt, die Kritik der reinen Vernunft auswendig weiß und über unglaublich subtile Kantische Probleme diskutiert“.

Was nun folgt in diesem autobiographischen Gespräch, ist der Beginn einer atemberaubenden Zeitzeugenschaft. Mit Eintritt in sein akademisches Leben setzt Dieter Henrich nicht nur den Grundstein für sein philosophisches Forschen rund um den Deutschen Idealismus; er kommt auch mit Personen in Kontakt, deren Namen die meisten nur vom Hörensagen oder aus Büchern kennen – ein Blick in das gut fünfseitige Personenregister gibt daher nicht nur abstraktem name dropping Platz –, und gerät in Situationen und politische Bewegungen hinein, die welthistorische Auswirkungen haben. Neben den bereits erwähnten Adorno und Gadamer lernt Henrich Max Webers Witwe Marianne und deren Bruder Alfred kennen; Karl Jaspers, Martin Heidegger, Peter Szondi oder Ernst Bloch sind nur einige der einflussreichen Denker, mit denen Henrich bekannt oder befreundet war und die zumeist anekdotenhafte Erwähnung finden. Eine besonders berührende Begegnung schildert der Philosoph aus den frühen Siebzigerjahren: „Ich erinnere mich an meinen letzten Besuch bei dem sterbenskranken Löwith, der wohl an Nierenversagen litt. Vor dem Fenster seines Krankenhauszimmers blühte ein Kirschbaum. Er wies mich darauf hin und freute sich an der Betrachtung der Kirschblüte, wie er sie in Japan erfahren hatte. In dieser im wörtlichen Sinne kontemplativen Haltung ist Karl Löwith gestorben.“ 

Hinzu kommt der Kontakt zu Mitarbeitern an wirkmächtigen Projekten wie Poetik und Hermeneutik (1963-1994) oder der Theorie-Reihe, die ab 1964 über zwei Jahrzehnte lang im Suhrkamp-Verlag erscheint: „Ich bin Anfang der 80er Jahre als Herausgeber ausgeschieden“, so Henrich. „Um die Theorie-Reihe stand es nicht mehr erfreulich. Hans Blumenberg trat schon früher aus, wie er überall irgendwann austrat, etwa aus Poetik und Hermeneutik. Auch Jürgen Habermas zog sich später zurück; ich weiß nicht mehr, aus welchem Grund. Unseld kündigte Taubes.“ Und durch sein Engagement in den Vereinigten Staaten, bei dem es ihm nicht darum geht, „dort Kant und Hegel zu importieren, sondern selbst tiefer reichende Kompetenzen in der analytischen Philosophie zu erhalten“, kommt er mit Vertretern dieser Tradition in direkten Kontakt, darunter etwa Wilfrid Sellars, Hilary Putnam oder Donald Davidson. Nüchtern relativierend und mit einem gewissen augenzwinkernden Understatement summiert Henrich: „Ich habe ja nicht viele große Persönlichkeiten näher kennengelernt. Doch wen in unserer Zeit kann man schon einen Großen nennen und mit Hölderlin vergleichen!“

Dass Ins Denken ziehen mehr ist als eine philosophische Autobiographie, zeigen Henrichs (universitäts-)politische Erfahrungen mit der 68er-Bewegung und seine Bemühungen um Kontakte und Freundschaften in den Ostblock. Die Studentenrevolte, die Henrich vor allem in Heidelberg und den USA erlebt, macht ihm keine Angst, zumal er viele der geforderten Reformen nachvollziehen kann. Dennoch berichtet er auch von der Schattenseite dieser kritischen Aufbruchsstimmung der Jugend, die sich am extremsten in Suiziden von Professoren manifestiert, weswegen Henrich Gemeinsamkeiten zwischen den Dreißigerjahren und den Angriffen der 68er auf Einzelne anführt: „Die Diffamierung des politischen Gegners, der Juden, der bürgerlichen ‚reaktionären‘ Personen, die Besetzung der Institute, deren Verwüstung, der kollektive Druck auf Personen, die ihm ersichtlich nicht gewachsen waren. Es haben einige Hochschullehrer darüber tatsächlich ihr Leben verloren.“ 

Den Blick von Westen, von Berlin, Heidelberg und Harvard, gen Osten, hinter den „Eisernen Vorhang, wirft und schärft Henrich innerhalb der von Gadamer 1962 gegründeten Internationalen Hegel-Vereinigung, da vor allem in seiner Position als deren Präsident ab 1970. Im Oktober 1980 – die sowjetische Intervention in Afghanistan ist noch kein Jahr alt – findet in Moskau ein Hegel-Symposium statt. Die 1931 geborene Wissenschaftsphilosophin Camilla Warnke erinnert sich in ihrem Beitrag Begegnungen in Zeiten des Kalten Krieges“ in der Festschrift zu Dieter Henrichs 90. Geburtstag an die Wirkung von Henrichs Kritik an der sowjetischen Außenpolitik: 

Bis zum Ende der Tagung wurdest du von den sowjetischen Kollegen geschnitten, bis du die kluge Idee hattest, ein kurzes versöhnliches Schlusswort in russischer Sprache zu halten, in dem du offen über die Schwierigkeiten sprachst, die beide Seiten haben, wenn sie das zwischen ihnen sich türmende ideologische Gebirge überwinden wollen. Damit war das Eis gebrochen und die russische Herzlichkeit wiederhergestellt.

Henrichs später folgende politische Veröffentlichungen zur deutschen Wiedervereinigung und zum ‚nuklearen Frieden‘ zeigen, dass der „Archäophilosoph“ (Francesca Ianelli) als animal politicum immer auch den Finger am Puls der Zeit hat.

Die beiden letzten Kapitel der philosophischen Autobiographie verlegen die Gewichtung vom (Auto-)Biographischen mehr auf das (Auto-)Philosophische. Der umherreisende Kosmopolit Dieter Henrich wird Bayer – zumindest wird er in der bayerischen Hauptstadt ansässig: „Zur Zeit dieses Gesprächs bin ich seit 35 Jahren in München; länger war ich an keinem anderen Ort.“ Hier vertieft er sich in mühsame, langwierige Recherchen, hier schreibt er die meisten seiner Bücher, hier modelliert er seine philosophiehistorische Forschung: 

Ich gelangte zudem dahin, in dem Bereich der Geschichte der Philosophie zwei neue methodische Ansätze zu entfalten: die historisch-interpretierende Konstellationsforschung und, als einen Ansatz, der bedeutende Texte der Vergangenheit fruchtbar aufzuschließen vermag, die argument-analytische Interpretation.

Das Gespräch wird hier anspruchsvoller und voraussetzungsreicher. Obschon auf Literatur – auch jenseits von Henrichs Penaten Friedrich Hölderlin und Samuel Beckett – und moderne Kunst, auf ästhetische Fragen, Ansichten und Erfahrungen eingegangen wird, so kommt in diesem Erinnerungsband die Musik zu kurz, die Henrich vor allem in fortgeschrittenen Jahren zutiefst fesselt, namentlich vermittelt durch die Person des rumänischen Dirigenten Sergiu Celibidache (1912-1996), den Henrich über seinen Freund Donald Davidson kennenlernt und dessen Schüler er wird. In München besucht er die Proben des Meisters: „Der [Konzert-]Abend wurde für mich zu einem Konversionserlebnis: Die herausragende Qualität dieser musikalischen Präsentation hat mich geradezu erschüttert.“ 

Eng mit der Musik einerseits und dem Philosophieren andererseits verwandt, ist das Medium der gesprochenen Sprache: das Mündliche, das dem philosophisch-autobiographischen Dialog zugrunde liegt und zunächst Hörer, später Leser in den Bann und somit auch ins Denken zieht. Der 2019 verstorbene Norbert Kohlhase, wie Henrich Jahrgang 1927, kritisiert in seiner Würdigung Zum 90. Geburtstag von Prof. Dieter Henrich: „Dass sich die Teile eines komplexen Ganzen gegenseitig ergänzen und erklären, machte auch bei Dieter Henrich aus der Rede ein Gesamtkunstwerk von Text, Klang und Gestik. (Da ist es ein Manko, dass es keine DVDs oder Hörbücher von ihm gibt.)“ Dieser Mangel konnte inzwischen teilweise beseitigt werden: Im Februar 2020 ist im kleinen supposé-Verlag das fesselnde Hörbuch Von sich selbst wissen erschienen, dank dessen man Dieter Henrich über zwei Stunden lang beim ‚Erzählen über Erinnerung und Dankbarkeit‘ zuhören kann. Dieses Hörbuch sei jedem empfohlen, der nach der Lektüre von Ins Denken ziehen dem nicht-schweigenden Philosophen noch ein wenig näherkommen möchte.

In seinem nur zwei Seiten umfassenden Vorwort geht Dieter Henrich auf den Titel seiner Autobiographie ein: „Auch das viel bezügliche Satzfragment des Buchtitels zeigt dies an: er verweist sowohl auf die Motive, die mich zum Philosophieren bestimmten, als auch auf die Hauptaufgabe meines tätigen Lebens.“ Die beiden Modi des aktiven Hineinziehens und des passiven Hineingezogenwerdens ins Denken können semantisch noch ergänzt werden, wenn man Ins Denken ziehen als ein Einziehen, einen Einzug in eine Denkarchitektur versteht. Mit seiner ungemein faszinierenden, ansprechenden und anspruchsvollen, aus- und weitgreifenden philosophischen Autobiographie motiviert Henrich die Leser dazu, ihre Sachen zu packen und den Umzug zu wagen.

Titelbild

Dieter Henrich: Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiographie.
Verlag C.H.Beck, München 2021.
282 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783406756429

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