Zögling 230

Thomas Hürlimanns neuer Roman „Der Rote Diamant“ ist die fantasievolle Erinnerung an eine Biographie – und Zeitenwende

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Kloster Einsiedeln samt der sich darin befindenden Stiftsschule taucht im Werk von Thomas Hürlimann öfter auf. Der Autor selbst hat dort, einer Familientradition folgend, von 1963 an acht Jahre verbracht. Am frühesten im Werk des 1950 in Zug Geborenen findet man den Ort und seine dunkle Magie in der autobiographischen Erzählung Das Innere des Himmels. Sie gehört in den Kontext von Hürlimanns erstem und vielbeachtetem Erzählband Die Tessinerin (1081). 

Von der Mutter im Ford vor das ehrfurchtgebietende Bauwerk kutschiert, sieht der dreizehnjährige Ich-Erzähler darin zum ersten Mal „die hohe, lange Front des Klosters, die, alle Landschaft verdeckend, vor dem Himmel steht und vielleicht […] auch zum Himmel gehört. Zu Hause hat man dem Jungen sämtliche Kleider mit der Zöglingsnummer „230“ bestickt. Der Abschied vom Vater fiel nahezu empathielos aus. Und außer der Mutter begleiten ihn nach Einsiedeln Großvater, Schwester und jüngerer Bruder. Als sich die Klostertore schließlich hinter dem Ich-Erzähler schließen, heißt es in der 1981er Erzählung: „Ich war jetzt drin, drin, drin, die Klingel verhallte, das Portal fiel ins Schloß.

„Drin ­– das ist da, wo Hürlimanns aktueller Roman, Der Rote Diamant, über weite Strecken spielt. Nur dass in ihm aus dem Kloster Einsiedeln das Kloster Maria zum Schnee geworden ist und aus dem autobiographisch angelegten Helden der Erzählung Das Innere des Himmels ein junger Eleve und späterer Schriftsteller namens Arthur Goldau, dem der Autor einen Platz in jenem fiktiven Familienclan zuordnet, den Thomas Hürlimann schon in dem Roman Der große Kater (1998) sowie der Novelle Fräulein Stark (2001) beschrieben hat. Die Zöglingsnummer 230 freilich hat Arthur Goldau vom Ich-Erzähler des knapp 40 Jahre älteren Textes bezeichnenderweise übernommen.

Doch bereits der Ton, in dem diesmal vom Klosterleben in Kutte und Sandalen erzählt wird, zeigt, dass der größer gewordene zeitliche Abstand und die hinzugewonnenen Erfahrungen – auch jene äußerst schmerzhafter Art, von denen Hürlimann zuletzt in dem kleinen Text Meine Reise ins eigene Innere innerhalb des Sammelbandes Abendspaziergang mit dem Kater (2020) berichtete – zu einer anderen Sicht auf das Vergangene geführt haben.

Was in der kurzen Erzählung von 1981 noch in überwiegend dunklen Tönen beschrieben wurde – „windig und „winterkalt ist das Wetter, als man in der „Düsternis des Nachmittags die „Enge des Dorfes erreicht und die „Schwarze Madonna von da an die Stelle der eigenen Mutter einzunehmen sich anschickt –, erscheint in Der Rote Diamant nun deutlich aufgehellt, getragen von Humor und Ironie und verbunden mit einer Schatzsuchergeschichte wie aus dem Geiste Robert Louis Stevensons.

„Ich musste zugleich sehr alt und sehr jung werden, um diesem Stoff gewachsen zu sein. Der Alte verfügt über das Handwerk, der Jüngling über das Erlebnis, hat der Autor dazu kürzlich in einem NZZ-Interview bekannt. Und sein Handwerk beherrscht der inzwischen 72-Jährige wie kaum ein zweiter Autor seiner Generation in der deutschsprachigen Literatur. Was sich bereits in seinem letzten Roman, Heimkehr (2018), zeigte, dessen Held mit seinem Erfinder nicht nur das Geburtsdatum gemeinsam hatte, jenes wunderbar zugespitzte Spiel mit fantastischen Elementen nämlich, dargeboten mit einer ebenso souveränen wie geradezu überbordenden, sprachlich funkelnden Fabulierlust – in Der rote Diamant baut Hürlimann es noch weiter aus.

Sein Kloster Maria zum Schnee ist ein Reich der Lemuren, vor denen sich niemand mehr fürchtet. Hier tummeln sich ein dementer Fürstabt, der seinem Namen, Meinradus der Dämmerer, alle Ehre macht, sowie der ebenso streng riechende wie eisern durchgreifende Präfekt Bruder Frieder, einstmals überzeugter Nazi und Stalingradkämpfer, anschließend aus dem „Fleischteil der Küche, wo er „manchen alten Ochsen mit dem Beil erschlagen hatte, einen nur Eingeweihten erklärlichen Aufstieg „in die erhabene Halle der Präfektur“ hinlegend, um dort letzten Endes als „Aufhalter des Untergangs zu fungieren. Umgeben sind die beiden Klosteroberen von den unterrichtenden Patres – „kahl die Schädel, hoch die Stirnen, schmal die Finger – sowie ein paar weiteren Brüdern, denen ihre Funktion innerhalb des Klosters als schmückendes Beiwort anhängt: unter ihnen der zur Rundum-Betreuung des Fürstabts abgestellte Kammerbruder Odo mit seinem ausgeprägten Faible für Jerry Cotton, der Bruder Gold- und Feinschmied, dem die Betreuung des Uhrwerks in einem der Türme anvertraut ist und der diesen schwer zugänglichen Ort der Pflichterfüllung schon jahrelang nicht mehr verlassen hat, sowie der Herr der „Bücherarche genannten Bibliothek, wegen seines Holzbeins und des fast obligatorischen, ihm eines Tages von einem durchziehenden Missionar überlassenen Papageis – „neben der Schwarzen Madonna die Attraktion des Stifts –  von den gut dreihundert Schülern nur Pater Silver genannt.

Doch das Klosterestablishment vermag den Eleven nur noch kurze Zeit Respekt einzuflößen und Gottesfürchtigkeit zu lehren.

Noch galt die alte Ordnung, noch standen wir im sonntäglichen Pontifikalamt stramm im Karree, ein Jünglingsbataillon in schwarzen Kutten, vorn die Kleinsten, hinten die Größten, Blick nach vorn, zum Altar

heißt es zu Beginn des Romans. Doch am Horizont dämmert bereits die neue Zeit, angekündigt durch die länger werdenden Haare der jungen Männer, den Siegeszug der Miniröcke in der das Kloster umgebenden Welt und Bob Dylans aus dem fernen Kalifornien herübertönenden Weckruf „The Times They Are a-Changin.

Es sind die späten 60er und die „Steinstadt Maria zum Schnee, zu den „letzten kakanischen Insel[n] zählend, erweist sich immer mehr als eine Festung, die dem Zeitenwandel nichts mehr entgegenzusetzen hat. Längst haben sich die Eleven ihre eigenen Lektüren gesucht, erste Liebeserfahrungen im das Kloster umgebenden Dorf gemacht. Zwar kommt noch einmal in jedem Jahr, vom 31. März auf den 1. April, hoher Besuch in Gestalt der Kaiserin Zita samt kleiner, aber erlesener Entourage, um eine Seelenmesse für ihren verstorbenen Gemahl, Kaiser Karl I., zu feiern. Doch dieser Vergangenheitsmummenschanz inklusive eines für die Zöglinge aus diesem Anlass arrangierten Schnitzelessens kann in einer Zeit des Wandels, in der die „Progressiven Mütter der Schweinefleischorgie plötzlich ihre revolutionär erscheinende Forderung nach einem Apfel täglich für jeden Schüler entgegenstellen, niemanden mehr wirklich beeindrucken.

Doch mit der Gestalt der greisen Ex-Kaiserin ist auch eine Geschichte verwoben, die die Gedanken der Schüler weitaus mehr beschäftigt als aller überkommener Lehrstoff, mit dem die Patres sich anschicken, ihre jugendlichen Hirne zu füllen. Es ist die sagenhafte Züge tragende Wanderung des Roten Diamanten, eines überaus wertvollen, Jahrtausende alten  Edelsteins, durch die Zeiten, bis er schließlich im Thronschatz der 1918 untergegangenen Donaumonarchie landete und ihn die Wirren nach dem Ersten Weltkrieg auf geheimnisvollen Wegen ins Kloster Maria zum Schnee verschlugen. Und getreu dem von Bruder Frieder propagierten „Stiftsgesetz, wonach Mittelmäßigkeit der beste Pfad zu einem gottesfürchtigen Leben sei, verwenden Arthur, der Erzähler, und einige seiner Kameraden mehr Zeit und Energie auf die Suche nach dem Versteck der verschollenen Preziose als darauf, die Spitze der Klassenhierarchie zu erklimmen.

Thomas Hürlimanns Roman berichtet von einer Zeitenwende, die der Autor als Internatsschüler im Kloster Einsiedeln selbst miterlebte. Voller fantasievoller Überhöhungen und verrückter kleiner Geschichten steckt das Buch. Doch es feiert mittels der Schatzsuche nach dem Roten Diamanten, die schließlich, wenn der um Jahrzehnte gealterte Held noch einmal gemeinsam mit ein paar ehemaligen Kameraden die Orte seiner Jugend aufsucht, mit einem großen Knall ihr Ende findet, auch die Kraft der Fantasie und den Wert des träumerischen Umgangs mit der eigenen Vergangenheit. Und illustriert damit auf höchstem literarischen Niveau eine Erkenntnis, die der Autor kürzlich folgendermaßen formulierte:

„Nur glaube ich, dass die meisten von uns aus jener Welt heraus erzählen, aus der sie auch träumen – das ist eben häufig die Kindheit, die Jugend, die Zeit, da man wird, was man später ist.

Titelbild

Thomas Hürlimann: Der Rote Diamant. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2022.
320 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783103970715

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