Die Suche nach dem Sinn

Bei dem Versuch den Auslöser für sein Trauma zu finden, begibt sich der Erzähler in Leif Høghaugs „Der Kälberich“ in die Untiefen seiner verworrenen Erinnerung

Von Maurice Sascha WellerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maurice Sascha Weller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was zur Hölle ist eigentlich ein „Kälberich“? Das ist nur eines der vielen Mysterien, welches schon zu Beginn des gleichnamigen Romans Kopfzerbrechen bereitet. Doch statt einfache Antworten zu liefern, ist die Handlung in Leif Høghaugs Debütroman ebenso verworren wie die Gedanken im Kopf des Protagonisten.

Der Ich-Erzähler wird von einer mysteriösen Dame zur Arbeit in eine unterirdische Firma geschickt. Seine einzige Aufgabe hier ist es jedoch, Bleistifte zu spitzen und Papier zu lochen. Die stupide Arbeit führt dazu, dass er die meiste Zeit in Erinnerungen aus seiner Jugend versinkt. Diese kommen allerdings nur in Bruchstücken zu ihm, die er zusammensetzten muss, um ein altes Trauma aufzuarbeiten. Ein Trauma rund um den Mörderheinrich, Helene und den namensgebenden Kälberich.

Dieses Trauma sorgt auch dafür, dass es sich hier um einen, wie der Klappentext formuliert, „versehrten Ich-Erzähler“ handelt. Die seelische Versehrtheit zeigt sich darin, dass die Geschichte als einziger verwirrender Gedankenschwall des Erzählers verfasst ist. Gelegentlich gibt es Absätze, jedoch keine Kapitel. Ohne Markierung wird zwischen Vergangenheit und Gegenwart und den verschiedenen Stimmen im Kopf des Erzählers gewechselt. Stimmen, die im Fließtext entweder interne Dialogpartner darstellen oder in längeren Absätzen das zuvor Geschriebene kommentierten:

Du. Auch du. Oder ist das ein Sang, den du nach allen diesen Jahren noch… einen Sang, den du noch in dir trägst irgendwo? Auch du? Du, genau wie ich? Hä? Ich meine: Woran meinst du denn, dich zu erinnern? Du?

Wörtliche Rede gibt es nicht. Alles Gesprochene wird vom Erzähler in Gedanken wiedergegeben und dabei quasi durch seinen Filter geschickt, der die Worte der anderen direkt an seine Weltsicht anpasst. Immer wieder tauchen dabei Aspekte aus Western und Sci-Fi auf. Man möchte meinen, all das führe schon zu einer Erzählung, die am ehesten an einen Fiebertraum erinnert. Doch es kommt noch besser.

Im Original ist der Roman im norwegischen Hadelandsdialekt verfasst, den der Übersetzer Matthias Friedrich im Nachwort als „unmöglich zu übersetzen“ bezeichnet. Er hat es trotzdem gewagt. Heraus kommt eine Erzählung, die sich neben Wortneuschöpfungen unter anderem durch altmodische Sprache, verschluckte Silben, Wiederholungen und einen leichten Singsang auszeichnet.

Bis auf wenige Ausnahmen werden Figuren zudem nur mit Spitznamen beschrieben. Zentrale Charaktere der Vergangenheit sind Knochenklapperroger und Apfelpaule. In der Gegenwart umgeben den Erzähler der Professor und der Minister.

Der Andy meinte, dass der wasserblasse Kälberich krumpelte und sich in einen fliegengroßen Fleck verwandelte, der hops und ungeschlacht auf einer staubigen Mattscheibe herumhopste, bis es Rums gemacht. Und Swisch, sagte der Andy. Swosch.

Das Ganze wirkt teilweise so, als hätte Høghaug den finalen Text nach seiner Fertigstellung einmal durch eine ganz frühe Version des Google-Übersetzers gejagt, um ihn einmal auf Chinesisch und wieder zurückzuübersetzen. So wirr, zusammenhangslos und teilweise unfreiwillig komisch wirkt die gewaltige Stilflut, die er hier an den Tag legt.

Leif Høghaug war vor diesem Roman vor allem als Lyriker bekannt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass neben allem anderen, auch immer wieder kurze Gedichte die Handlung kommentieren und als eine der Stimmen im Kopf des Protagonisten agieren. Auch die Stilistik des Romans als Ganzes lässt sich darauf zurückführen. 

Es gilt in einer Interpretation dieses Romans zunächst nicht direkt den tieferen Sinn des Werkes zu finden. Denn der Roman gibt seine Geheimnisse nicht ohne Kampf preis. Themen wie toxische Männlichkeit, Schuld und Gewalt werden durchaus erkennbar besprochen; viel zu sehr ist man jedoch erst einmal damit beschäftig zu verstehen, welchen Sinn ein Satz überhaupt zu vermitteln versucht, als dass man Raum hätte, zwischen den Zeilen zu lesen.

Und hat man erstmal durch erneute Lektüre (oder das Nachwort) einige der tieferen Bedeutungen erfasst, liefert der Roman keine neuartigen Ansichten auf besagte Themen. Zwar kann man argumentieren, dass es sich im Kern um eine progressive Geschichte handelt, doch die Antworten erklären den dichten Schleier aus Stilmitteln nicht, hinter dem sie versteckt sind.

Das Einzige, was am Lesen hält, ist der Wunsch, die Mysterien des Romans dann doch irgendwie zu entziffern, vor allem den Auslöser des Traumas. Immer dann, wenn man das Buch frustriert aus der Hand legen möchte, treten plötzlich neue, verständliche Informationen zur Vergangenheit zutage, die die Spannung, zumindest für den Moment, aufrechterhalten. Doch selbst die finale Erklärung des Traumas ist am Ende zu unbeeindruckend, um den Kampf um sie zu rechtfertigen. Høghaug hat sich mit diesem Roman zu viel vorgenommen. Was dabei herauskommt, ist ein spannendes Konzept, dass jedoch nicht genug Substanz besitzt, um seine schiere Flut an kryptischen Stilmitteln zu tragen. Die Suche nach dem Sinn lohnt sich leider nicht.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2022 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2022 erscheinen.

Titelbild

Leif Høghaug: Der Kälberich. Roman.
Aus dem Norwegischen von Matthias Friedrich.
verlag die brotsuppe, Biel/Bienne 2021.
280 Seiten, 33,00 EUR.
ISBN-13: 9783038670353

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