Vorschau ins Posthume?
Ulrich Horstmanns Aphorismenband „Blasser Schimmer“ ist ein brillantes Versteckspiel
Von Frank Müller
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Solange man sich in seinem Sensenblatt spiegeln kann, hat er seinen letzten Schnitt noch nicht gemacht.“ So lautet der erste Aphorismus in Ulrich Horstmanns neuem Buch. Vom „bittere[n] Ende“ berichtet der letzte. Auf den 153 Seiten dazwischen geht es um den Vorlauf, der das Unvermeidliche in vielfacher Weise ankündigt. Es geht darum, wie lange der Autor „die Augen [wird] aufhalten können“. Darum, „reine[n] Tisch“ zu machen. Es geht um ein Herunterfahren und Downshiften, um ein paar letzte Schritte, die noch zu gehen sind. Reflexionen über den literarischen Exit und den biologischen Exitus geben sich die Hand.
So weiß der Klappentext von einem auf einen „blassen Schimmer“ zurückgenommenen Erkenntnisanspruch zu berichten. Als Verringerung des „Tiefgang[s]“ beschreibt ein anderer Aphorismus dasselbe Phänomen. Für den 72-jährigen Horstmann scheint es an der Zeit, Rückschau zu halten und Vergangenes neu zu bewerten: „Ich habe sie geschlossen antreten lassen und schreite die Ehrengarde meiner Irrtümer ab, nicht ohne diejenigen vor versammelter Mannschaft herunterzuputzen, die mich anblinzeln und wieder ihre Knie durchdrücken wollen.“ Unter der gewonnenen Klarsicht blinzeln dem Leser eine „eingebildete Muse“ und „eingebildete Nachwelt“ zu. In der finalen Retrospektive erscheint alles Bisherige – inklusive einzelner Schlaglichter auf Horstmanns Schul- und Studienzeit – als punktuell verdichteter „Zusammenschnitt“.
Die literarische Lebensbilanz? Sie fällt bescheiden aus und ist bestimmt von der Empfindung des Ungenügens, der Einsicht, die eigenen Ziele nicht erreicht zu haben. Von einem „literarische[n] Abgeschriebensein“ des „kleinen Krauter[s]“ und „Auslaufmodell[s]“ Horstmann ist die Rede. Der Autor sieht sich auf der „Verliererstraße“. „Daß ich käuflich wäre, mag niemand behaupten“, sinniert er angesichts der Jahresabrechnung seines Verlags. Wo sich einst überbordende Produktivität Bahn brach, scheint auf die „alten Tage“ nicht mehr viel zu holen: „Vortrieb pro Tag vielleicht zwei Zeilen“. Der „große Wurf“ könnte allenfalls noch darin bestehen, die Flinte ihrem sprichwörtlichen Bestimmungsort zu überantworten. Denn, so weiß Horstmann, „ab siebzig [sollte man] überhaupt alle Buchführung und Buchmacherei an den Nagel hängen“. Und zeugt die zunehmende Länge seiner Texte nicht von einer „wachsende[n] Verkalkung und Versinterung“?
Wohin das alles führt? „Ausschleichen“ und „sich am Ende seiner Tage auf das argloseste selbst hinweg[]stehlen“ lautet die Devise eines Autors, der es – trotz zwischenzeitiger „Zündaussetzer“ – nie bis zum definitiven Produktionsstopp gebracht hat. Der bis heute nicht mit einem „sauberen literarischen Schlusspunkt, sondern nur mit einer zerdehnt hingestotterten Bremsspur“ aufwarten kann. Die Frage eines Bekannten („Ihr wievieltes letztes Wort ist das eigentlich?“) beantwortet Horstmann deshalb zutreffend mit einem Hinweis auf das täglich grüßende Murmeltier. Womit nicht gesagt ist, dass der kontrollierte Rückzug nachlässig erfolgen darf. So erblickt der Leser Horstmann etwa beim Ordnen seines Vorlasses im Archiv des Landschaftsverbandes in Münster. Sorgfalt auf den letzten Metern mahnt auch ein anderer Aphorismus an: „Das einzige, weswegen ich mir [] noch auf die Finger sehen muss, ist Pfusch am Rückbau.“
Sind damit die letzten Worte gesprochen, und ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich das herunterdimmende Licht in Dunkelheit verwandelt und den Autor verschluckt? Den Schlüssel zu Blasser Schimmer hat Horstmann gut versteckt – in einem Aphorismus über den Essay Kann man Dichter besuchen? (1954) des vergessenen Kritikers und Essayisten Albrecht Fabri. Der Dichter ist für Fabri ein Kunstprodukt, jemand, der sich erst über das Gelesenwerden konstituiert, und der als „Fabelwesen“ meilenweit von der natürlichen Person des Schreibenden entfernt ist. Die Antwort auf die Frage im Titel des Essays ist demzufolge ein abweisendes Nein.
Das gilt füglich auch für Ulrich Horstmanns Werk. So offenherzig er sich zeigen mag mit manchen aphoristischen Einblicken ins Private: Eingedenk des Kafka-Worts „Niemand wird lesen, was ich hier schreibe“, wird niemand die Allerweltsperson Horstmann hinter dem literarischen Konstrukt entdecken. Dazu passt, dass hinter dem vermeintlich angezählten Schriftsteller immer wieder sein quicklebendiges Gegenbild hervorlugt. Ein Autor, der ungezügelten „Lesehunger“ verspürt und auf seinem Fahrrad schubkarrenweise Bücher zwischen seiner Wohnung und der Universität hin- und herfährt. Ein wacher Geist, der neben akademischer auch populäre naturwissenschaftliche Literatur in großen Mengen verschlingt und daraus sein kritisches Weltbild formt – mit blitzgescheiten Seitenhieben gegen Gendern, MeeToo, Klimaforschung und Greta Thurnberg, den Brexit. Über etliche Seiten hinweg auch gegen die Unverzeihlichkeiten im Umgang mit „Coronarr“.
Mit gewohnter Leichtfüßigkeit spannt Horstmann die großen Bögen von der Steinzeit über Mittelalter und Aufklärung bis hin zu Clouds, Netzwerken und digitalen Medien. Wie gewohnt tischt er uns eine gute Portion Antimodernismus auf: „Was an Text auf Bildschirmen erscheint, ist Fastfood.“ Dazwischen gibt der Autor in seinen mit „Deutsch als Fremdsprache“ überschriebenen Aphorismen den brillanten Sprachspieler und lässt die Mauersegler – seine Totemtiere – am Himmel auf- und niederfahren. Bei so viel Dynamik erscheint der durchs Bild laufende „behäbige[] Halbjahresjogger“ als ebenso übertriebene Tiefstapelei wie alles eingangs Zitierte. Lange Spaziergänge mit einem Riesenschnauzer kann wohl nur der unternehmen, der in Wirklichkeit mopsfidel ist. Das sprichwörtliche Ende der Fahnenstange ist mit anderen Worten noch lange nicht erreicht. Die exhibitionistische Vorschau ins Posthume entlarvt sich als literarische Dramatisierung. Nicht ein heraufdämmerndes Ende führt uns Horstmann hier vor Augen, sondern die spielerische Koketterie damit. Doch Achtung: Auch der agile Doppelgänger ist Teil der Inszenierung und entpuppt sich damit zwangsläufig als – fabelhaft.
Nach Hirnschlag (1984), Infernodrom (1994), Einfallstor (1998), Hoffnungsträger (2006) und Schlusslichterloh (2018) ist Blasser Schimmer Horstmanns sechster Aphorismenband. Weitere Aphorismen sollen im Herbst als Zugabe zu einem neuen Gedichtband erscheinen.
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