Nicht nur Heidelberg und München!

Das Ehepaar Hübinger verortet Max Weber in Berlin

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit welcher deutschen Stadt verbindet man den Universalgelehrten und Soziologen Max Weber (1864-1920) am ehesten? Bisher waren es zwei deutsche Städte, die bei dieser Frage miteinander konkurrierten: Heidelberg und München.

Obwohl er seinen ersten Lehrstuhl für „Nationalökonomie und Finanzwissenschaft“ an der Großherzoglich Badischen Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg erhielt und vor seiner Zeit in München an der Universität Wien die Lehrkanzel für „Politische Oekonomie“ vertrat, sind Freiburg und Wien aus diesem Konkurrenzspiel ausgeschieden. Immerhin erinnert in Freiburg eine Gedenktafel am Haus Schillerstraße 22 daran, dass er dort in den Jahren 1894 bis 1897 gewohnt hat.

In Heidelberg, wo Max Webers Asche auf dem Bergfriedhof bestattet wurde, erinnert ein monumentaler Gedenkstein an den ehemaligen Heidelberger Universitätslehrer (Reichert 2017). Das Institut für Soziologie der heutigen Ruprecht-Karls-Universität nennt sich „Max-Weber-Institut für Soziologie“. Für Heidelberg bietet ein Sammelband „Max Weber in Heidelberg“ (Runde, Hawicks, Hrsg. 2022) einen guten Einstieg.

In München, wo Max Weber starb, erinnert eine heute leicht überwucherte Gedenktafel am Haus in der Schwabinger Seestraße 16 an seine dortige Zeit als Untermieter der Schriftstellerin Helene Böhlau. Für die Bedeutung der Stadt München für Max Weber sei auf die Arbeit der beiden Weber-Forscher Friedrich Wilhelm Graf und Edith Hanke hingewiesen (Graf/Hanke 2020).

Und nun gesellt sich eine dritte deutsche Stadt in dieses Konkurrenzspiel: Berlin. Seit Jahrzehnten ist das Historiker-Ehepaar Hübinger als exzellentes Max Weber-Forschungsteam ausgewiesen. Vollmundig kündigen sie den hier zu rezensierenden Band an: „Dieses Buch macht erstmals den für Webers Lebensweg weichenstellenden Erfahrungsraum Berlin zu einem eigenen Thema.“ Der Rezensent, der in seiner eigenen Max Weber-Biografie das gesamte dritte Kapitel dem „Charlottenburger Sohn“ gewidmet hat und mit seinem Untertitel den „Preußen“ Max Weber betonte, freut sich über den Gleichklang der Absichten: Die stereotype Verortung Max Webers an vor allem einer seiner akademischen Wirkungsstätten – dem badischen Heidelberg – durch die Herausarbeitung seiner regionalen und mentalen Verortung im preußischen Berlin zu brechen, war schon die damalige Absicht (Kaesler 2014).

Das neue Buch der Hübingers arbeitet überzeugend heraus, dass Max Weber aufs Engste mit Berlin verbunden war. Nach seiner Geburt im damals preußischen Erfurt im April 1864 – auch dort gibt es eine Gedenktafel am „Haus am Ententeich“ am Juri-Gagarin-Ring 10 – verbrachte das Kind, der Jugendliche und der junge Erwachsene knapp die erste Hälfte seines Lebens in Berlin, bzw. in der damals selbständigen Stadt Charlottenburg. Der „weichenstellende Erfahrungsraum Berlin“ bildete den Rahmen für das großbürgerliche Familienleben der Familie des Stadtrats Max Weber sen. und deren politische Geselligkeit, er konfrontierte den Erstgeborenen mit den Ansprüchen des preußischen Gymnasiums, des Jurastudiums an der Königlich-preußischen Friedrich-Wilhelms-Universität und des Referendariats bei Preußischen Justizbehörden in Rixdorf, Berlin und Charlottenburg. Max Weber jun. absolvierte an der Berliner Universität die ersten Etappen seiner akademischen Laufbahn: Promotion und Habilitation. Die Hübingers kündigen an: „Berlin legte als dynamische Industriemetropole und politisch-kulturell pulsierende Reichshauptstadt mit einer Universität von Weltruf das Fundament für Webers internationale Geltung als Klassiker unserer modernen Zeit.“

Attestierte Gangolf Hübinger der Weber-Biografie dieses Rezensenten herablassend die Eigenschaft eines lesenswerten roman vrai - um damit dessen wissenschaftlichen Wert durch die fehlenden Nachweise als „geschmälert“ einzustufen (Hübinger 2014) –, so demonstriert das Historikerpaar mit seinem Weber-Berlin-Buch und den insgesamt 696 Fußnoten, wie akribisch man auch noch das kleinste Detail belegen kann. Selbst die erste Abbildung – die „Gedenktafel“ am ehemaligen Wohnhaus in der Charlottenburger Leibnizstraße 19 – heute Leibnizstraße 21 – wird nochmals im Fließtext aufgenommen, als ob die Abbildung nicht genügt hätte. Der Weber-Kenner schmunzelt bei derartigen Nachweisübungen und denkt unwillkürlich an jene famose Fußnote Weber in seinen Passagen über „Die religiösen Grundlagen der innerweltlichen Askese“, in der er entschuldigend formulierte: „Wenn ich nachstehend dem Leser ebenso wie mir selbst die Pönitenz einer bösen Fußnotengeschwulst auferlegt habe, so war dafür eben die Nötigung entscheidend, eine wenigstens vorläufige Nachprüfung der Gedanken dieser Skizze, auch durch Andeutung manchen weiter daran sich anschließenden Gesichtspunkte, speziell den nichttheologischen Lesern zu ermöglichen.“ (MWG I/18, S. 266) Ja, dieses Geschwulst wuchert auch im anzuzeigenden Buch, aber man muss ja nicht durchgehend das Kleingedruckte im unteren Seitendrittel lesen. Beruhigt kann man den Autoren Glauben schenken.

Wie ein kluger und sehr einfühlsamer Fremdenführer leiten uns die Hübingers durch die Stationen des jungen Max Weber: Von der Berliner Parterrewohnung am Tempelhofer Ufer 31 in die Privat-Knabenschule von Ferdinand Doebbelin an der Schöneberger Straße 4 in die „Villa Helene“ in der Charlottenburger Leibnizstraße. Indem sie sich auf die unübertrefflichen Quellenforschungen des deutsch-amerikanischen Weber-Forschers Guenther Roth stützen (Roth 2001) (siehe dazu: https://literaturkritik.de/roth-kapitalismus-herrschaft-max-weber-ein-deutscher-transponiert-max-weber-englischsprachige-welt,31246.html), versetzen sie sich in den nachfolgenden Kapiteln in das Leben des Weberschen Familiensystems, mit ausführlichen Schilderungen des Berliner „Tiergartenfreisinns“ des Vaters, des „sozialen Protestantismus“ der Mutter, der Schulzeit im Charlottenburger Kaiserin-Augusta-Gymnasium, des Studiums an der Berliner Universität in einer Zeit, in der dort Heinrich von Treitschke und Theodor Mommsen lehrten. Es schließen sich an ausführliche Nachzeichnungen des Berliner Antisemitismusstreits und der Rolle Bismarcks für die bürgerlich-liberale Politik.

Die literarische Führung endet auf dem Friedhof IV der Jerusalems- und Neuen Kirche an der Bergmannstraße. Dort fanden Max Webers Eltern in einer Erbbegräbnisstätte ihre letzte Ruhe. Als dieser Rezensent die Grabstelle im August 2024 zuletzt besuchte, hatte sich die Grabplatte gelöst, so dass nur die ursprüngliche Grabinschrift für den Vater, der 1897 starb, zu sehen war. Inzwischen wurde die nach dem Tod der Mutter im Jahr 1919 davor gesetzte Platte wieder befestigt, so dass nunmehr auch die Namen beider Eltern über der Gedenkplatte für den Vater hängt. Das Ehepaar Hübinger hat die Patenschaft für das Grab (JE09-L-001/002/003) übernommen.

So wird diese Patenschaft und das hier anzuzeigende Buch eine ewig gültige Erinnerung an die Berliner Prägung Max Webers bleiben. Zusammen mit den 42 gut ausgewählten Abbildungen ist dieses Buch eine konkurrenzlose und wertvolle Ergänzung der bisherigen biographischen Literatur zu Max Weber. In gewisser Weise ist dieses Buch die nachgelieferte intellektuelle Biografie, die vor sechs Jahren vermisst worden war (https://literaturkritik.de/huebinger-max-weber-ein-sammelband-ist-noch-lange-keine-intellektuelle-biographie,25946.html).

Erwähnte Literatur

Friedrich Wilhelm Graf / Edith Hanke: Bürgerwelt und Sinnenwelt. Max Webers München. München 2020.

Gangolf Hübinger: Ein „Galilei der Geisteswissenschaften“. Dirk Kaesler erzählt das Leben Max Webers. In: Neue Zürcher Zeitung vom 19.04.2014.

Dirk Kaesler: Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie. München 2014.

Folker Reichert: Max Webers Grab in Heidelberg. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 165 (2017), S. 383-401.

Guenther Roth: Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800-1950. Mit Briefen und Dokumenten. Tübingen 2001.

Ingo Runde, Heike Hawicks (Hrsg.): Max Weber in Heidelberg. Heidelberg 2022.

Titelbild

Rita Aldenhoff-Hübinger / Gangolf Hübinger: Das Berlin Max Webers. Erfahrungswelten einer Großstadt.
Bebra Verlag, Berlin 2025.
252 Seiten , 46,00 EUR.
ISBN-13: 9783954103423

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