Schatzkästchen der Unglückseligkeiten

Botho Strauß' versammelt einundvierzig Prosastücke in "Mikado"

Von Klaus BonnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Bonn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gleich zu Beginn von Georg Büchners Drama "Dantons Tod" finden sich, unter anderen, der Deputierte und seine Gattin Julie am Spieltisch ein. Da möchte die Frau von ihrem Mann wissen, ob er an sie glaube. Dickhäuter seien sie, erwidert ihr Gatte, sie streckten zwar fortwährend die Hände nacheinander aus, doch rieben sie nur das grobe Leder aneinander ab; sehr einsam seien sie. Aber er kenne sie doch, meint darauf Julie. Und Danton antwortet: "Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren."

Die Szene könnte, für sich genommen, ohne Weiteres eine Folie abgeben für Botho Strauß' einundvierzig Prosastücke, die unter dem Titel "Mikado" gebündelt sind. Dass die Sammlung ausgerechnet einundvierzig mehr oder weniger umfangreiche Happen zur Leseverköstigung aufbietet, also gerade soviel wie ein Mikadostoß an Stäben zählt, mag sich als nebenbei bedeutsam ausnehmen. Dass in dieser Zahl jedoch Notwendigkeit und Zufall einander kreuzen, lässt jeden einzelnen Prosastab teilhaben an der undurchdringlichen Verwicklung von Glück und Unglück, vermeintlicher Einsicht, Selbstbetäubung und Aussichtslosigkeit, von Unfasslichkeit und Fassungslosigkeit. Menschliches Ungenügen und Unwissenheit, wovon Danton spricht, ein steter Mangel auch an Geschicklichkeit durchwirken Strauß' Texte. Das Kreuz und Quer ihrer Stäbe gibt sich als Allegorie des Lesens und Deutens. Nicht selten mündet eine Konstellation in Gewalt, in Mord und Selbstmord. Es ist, als habe Strauß mit "Mikado" ein Schatzkästchen der Unglückseligkeiten eingerichtet, auch wenn darin das Wunderbare und die Verwandlung nicht fehlen.

Das Buch eröffnet, alles in allem, ein Panoptikum des Alltagslebens. Viel Bitterkeit und etwas Süße. Kleine Prisen sind zu empfehlen. Wohl kaum einen ernst zu nehmenden Leser dürfte es geben, dem nicht bei der einen oder anderen Kostbarkeit ein Schauer über den Rücken liefe; kaum einer, den nicht hier und da ein Wiedererkennen beschliche. Um vergrämte Ehemänner, verhärmte Alleinstehende geht es, um redselig Gutsituierte, Gaukler und laszive Akademikerfrauen, Einsamkeitskasper, Wissensgläubige und Teppichgeister, die wir eben sind. Visionen und Fantasien mit einbegriffen.

Strauß' "Mikado" steht formal in der Nachfolge der Betrachtungen von "Paare, Passanten" (1981). Der kritisch aufklärerische Gestus, das zuweilen streng Essayistische der poetologischen Reflexionen ist zum großen Teil einem virtuos spielerischen Umgang mit den verschiedensten narrativen Kleinformen gewichen. So findet man in der neuen Prosatruhe neben der realistischen Form des Protokolls die allegorische Erzählung, Parabel, Märchen und Kalendergeschichte wieder. Literarische Vorbilder sind Johann Peter Hebel, besonders in der Erzählung "Rückkehr", einer fernen Replik auf "Unverhofftes Wiedersehen". Nietzsches "Zarathustra" begegnet seinem Konterfei in dem "Alleinherrscher", der sich, abgemagert und wortkarg geworden, in die unwirtliche Bergwelt zurückgezogen hat. Und Kafkas "Bau der Chinesischen Mauer" dämmert herauf, wenn das Ich aus "Die Staustufe" eine Betonwand hochgleitet, um oben aus dem Auffangbecken von "kristallklarer und undurchdringlicher Poesie" zu kosten. Viel wird gespielt in "Mikado", ob Pantomime, Rommé, Lotto oder eben Mikado. Vor allem wird mit Worten gespielt, mit Zeichen, ihren Deutungen und ihrer Unausdeutbarkeit. Es ist ein mitunter gefährliches Spiel, das aber im menschlichen Neben- und Gegeneinander als unausweichlich gilt, besonders wenn es um die Angelegenheiten von Mann und Frau zu tun ist - um Verrat, Lüge, Betrug und Hinterlist. Manchmal ist der Redeschwall zum Selbstläufer geworden, an niemanden mehr gerichtet, "wie ein semantisches Virus", das sich beim Betreffenden eingenistet hat. Oder die Rede verfällt in Schweigen und Verstummen. Etliche der Strauß'schen Prosastücke bewegen sich so am Rand von Fallstudien. Ein Mann, dem die Frau entführt und, nach Zahlung eines hohen Lösegeldes, eine andere zurückgeschickt wird, steht vor einem Rätsel. In der Titel-Erzählung heißt es dazu: "Eines Tages würde sich alles klären. Oder aber es würde sich niemals klären. Zu beidem war er bereit: zu des Rätsels Lösung wie auch das Rätsel zu leben."

Doch weder klärt sich etwas noch bleibt alles, wie es gewesen ist. Womöglich ist es nie so gewesen, wie man es sich dachte. Das Spiel der Gewohnheit - eine Partie Mikado jeden Abend - zerbricht die Gewohnheit des Spiels. "Eines Morgens wird es zu einigen sich überstürzenden Ereignissen kommen... Man wird sich im nachhinein fragen, wie es überhaupt so lange hat dauern können, daß nichts geschah." Oder das Leben wischt einen ungeheuerlichen Vorfall einfach beiseite, tut, als ob nichts gewesen wäre, und fällt damit fortan dem Unheimlichen anheim. In dem märchenhaften "Minutio" verführt eine junge Frau den Mann "zu einem Sprachgebrauch, bei dem jedes Wort im Verdacht stand, ein Deckwort für ein anderes zu sein, das er noch nicht kannte, das er erraten oder dessen Sinn er durch passende Ergänzungen entdecken mußte." Mit der Zeit verfällt und erliegt er diesem Spiel der Verschlüsselungen, das ihn selber verschließt und seinem bürgerlichen Leben ein Ende setzt. Am stärksten wirken Strauß' Texte dort, wo die Figuren nicht zu Wort kommen und auch nicht ein innerer Monolog aus ihnen herausgeschält wird. Je entrückter sie vorkommen, desto eher tritt der Knoten des Geschicks in den Vordergrund, an dem das allgemein Menschliche, das Menschentypische baumelt.

Einen schwächeren Eindruck indes hinterlässt die Prosa da, wo ihr Autor sich in gar zu selbstgefällige Stilkanonaden verschraubt (so in "Bittersüßchen") oder gelehrig daherkommt unter der Maske des Vaters, der vor seinen Töchtern über den Fremden urteilt: "Und wenn er auch der Teilnehmer wird an all dem Unseren, so wird er doch nie auch nur um Haaresbreite wahrhaft von seiner Fremdheit abweichen." Gerade diesen Text, "Der Fremde", könnte man als Strauß' Credo zur Debatte um gesellschaftliche Integration von Andersgläubigen lesen. So gibt der Vater schließlich an seine Töchter die Warnung aus: "Sollen wir dieselben bleiben, die wir sind? So wird er [der Fremde] uns durch Nachäffung bald unseres Wesens berauben. Sollen wir uns nicht vielmehr durch ihn, der in allem uns fremd ist, erst allmählich selbst erkennen und werden, was wir allein im Unterschied zu ihm sein können?" Solche Stäbe bilden aber wirklich die Ausnahme in Strauß' "Mikado"-Stoß.


Titelbild

Botho Strauß: Mikado.
Carl Hanser Verlag, München 2006.
176 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446208089

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